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Freudlos glücklich

Über die Jahre (26): Anfang der Neunziger bremsten Codeine die Rockmusik. Schleichend, tranig und zäh wirkt ihr klingendes Schmerzmittel an trüben Tagen

Codeine White Birch

Sonntag. Auch nicht immer schön. Draußen rauscht der Herbst heran, der Wind rüttelt an Fenstern, Regen trommelfeuert aufs Dach. Die Tage sind kürzer und die Nächte kälter. Man liegt im Bett schweren Mutes und Kopfes und wünscht sich, jemand möge endlich den intravenösen Bali-Urlaub erfinden und das sofort. Drumherum bläht sich das Leben auf. Sieht finster aus: Der Kaffee ist alle, die Heizung steht auf drei, statt Tatort Kommunalwahl, und wo ist das ganze Geld geblieben? Und, schrecklassnach, mit wem ist eigentlich die Liebste gestern abend abgezogen? Schnell die Bettdecke über den Kopf. Doch zuvor zum Plattenspieler.

Denn es gibt sie, die entsprechende Musik zu solchen Momenten. Das Trio, das sie spielt, kommt aus New York und könnte nicht besser heißen: Codeine. Wie das Schmerzmittel. Nur rezeptfrei. Auf dem Beipackzettel sollte stehen: Bitte alleine hören, bittebitte in moderater Dosierung und bittebittebitte niemals in glücklichen Augenblicken einnehmen. Das geht schief. Am Schluss folgender Nachsatz: „Die Platte gehört so, also Finger weg vom 45-Knopf!“

Sie sind wirklich bedächtig, gemächlich, kriechend, säumig, schläfrig, schleichend, schleppend, stockend, tranig, zäh, zaudernd, zögernd. Auf diese Weise bremsten Codeine den Rock, der ehedem besinnungslos im Grunge taumelte. Das war 1991. Sie schafften nur zwei Alben. Nach ihnen kamen Bands wie Slint, Low oder June of 44. Die Stücke auf Codeines letztem Album The White Birch aus dem Jahr 1994 sind nicht bloß ein paar Rocknummern in Zeitlupe, sondern wohl durchdachte Spiele mit der Weitläufigkeit.

Ihre Kompositionen sind luftig, oft vergeht viel Zeit zwischen einem Snare-Schlag, einem zart gestrichenen Becken, einem Akkord. Dazwischen brummt der Bass von Stephen Immerwahr. Er singt. So bedächtig die Töne inszeniert sind, so sparsam ist er auch mit Worten. Keine Liedtexte, eher Textminiaturen. Das Siebenminutenlied Sea besteht aus acht Sätzen, die Immerwahrs nasale Stimme singt, die immer etwas beiläufig klingt – man möchte beinahe sagen: resigniert. Als quäle auch ihn ein Brummschädel. Er dehnt sie, die Silben, oft über einen ganzen Takt, eine Ewigkeit, hinein in den Nachklang des Schlagzeugs und der Gitarre, die mal wieder pausiert.

Aufmunternde Worte findet er nicht. Nur Ernüchterung. „Now things taste kind of bitter. Two muddy shoes far from home, far from home“, singt Immerwahr im schütteren Loss Leader. „Can’t watch the trees, can’t go outside, don’t go outside“, heißt es in Ides. Der Hörer steckt den Kopf kurz heraus aus der Bettdecke und denkt: Ich auch nicht.

Die Uhr tickt, die Platte knistert, und trotzdem steht die Zeit. Es knallt die Snare, der Bass schnarrt, die Gitarre schallt. In Moll trottet das Trio durch neun Lieder. Gesenkten Blicks. Immer? Fast. Denn plötzlich schäumen sich die Töne auf, raus aus dem Standgas, der Verzerrer wird zugeschaltet, das Becken schneidet, da brandet etwas hoch, lauter wird’s, fast zornig, gleich platzt es, da geht was zu Bruch, kommt die Katharsis, der erlösende Refrain, das Pathos, Schalala-Dur, jetzt, jeeeetzt, jeeeeeeetzt – und:

Pffffff. Alles angetäuscht. Schaumschlägerei. Das Lied fällt in sich zusammen, franst erneut aus, es geht wieder zurück in die repetitiven Klangmuster. Die Snare knallt, das Becken haucht, die Gitarrenklänge irrlichtern durch den verschneiten Birkenwald auf dem Plattencover.

Im Bett wieder Ruhepuls, Sonntagspuls. Man zieht die Decke höher.

Vor die Tür kann man ja auch morgen.

„The White Birch“ von Codeine ist im Jahr 1994 bei Sub Pop erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(25) The Smiths: „The Queen Is Dead“ (1986)
(24) Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (1980)
(23) Sister Sledge: „We Are Family“ (1979)
(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Klangräume für Virtuosen

Erst sollte die Band Porcupine Tree nur ein Witz sein, dann rettete sie den Progressive Rock. Ihr neuntes Album „Fear Of A Blank Planet“ klingt ausufernd – wie es sich für das Genre gehört.

Porcupine Tree Blank Planet

Im Jahr 1987 beschloss der Brite Steve Wilson, mit seinem Freund Malcolm Stocks eine fiktive Rockband namens Porcupine Tree zu gründen, fiktive CDs zu produzieren und mit einer erfundenen Bandgeschichte auch an Wettbewerben teilzunehmen. Er konnte nicht ahnen, das aus diesem Witz eines Tages tatsächlich eine Band werden würde, die dem etwas in Verruf geratenen Genre Progressive Rock auf die Beine helfen sollte. Vier Jahre nach der Gründung erschien die erste richtige CD, mit Alben wie Signify (1996), Stupid Dream (1999) und Lightbulb Sun (2000) gewannen sie in der Folge ein immer größeres Publikum. Kürzlich erschien Fear Of A Blank Planet, ihr neuntes Studioalbum.

Unterstützt wird Steve Wilson seit Jahren von hervorragenden Musikern – unter ihnen der Spezialist für unerhörte elektronische Klänge, Richard Barbieri, der früher bei der Band Japan spielte. Steve Wilson schreibt die meisten Stücke, er ist ein guter Komponist, ein guter Gitarrist und ein passabler Sänger. Vor allem aber ist er ein hervorragender Produzent, in dieser Rolle sieht er sich selbst am liebsten. In seinen Kompositionen verarbeitet er Einflüsse aus altem Progressive Rock, Jazz, Minimal Music, Pop, Heavy Metal und Klassik.

Schon der Titel des neuen Albums Fear Of A Blank Planet verweist auf die Atmosphäre, die beinahe alle Kompositionen Steve Wilsons durchzieht. Eine spöttisch resignative, oft ironische und mitunter auch sarkastische Sicht auf die Dinge. Eingebettet sind diese Endzeit-Texte in Songs, die sich häufig aus winzigen Motiven zu ausgedehnten Klangprozessen entwickeln. Es gelingt Steve Wilson dabei stets, seine Band gleichberechtigt einzubinden, Porcupine Tree sind keine One-Man-Show mit Begleitmusikern. Selbst Gastmusiker wie Alex Lifeson von Rush oder Robert Fripp können sich nahtlos in das Klanggefüge der Band einpassen.

Anesthetize ist mit fast 18 Minuten das längste Stück der Platte. Solche Kompositionen bieten Virtuosen genug Raum und den Hörern manche Überraschung. So brechen aus den mäandernden Synthesizer-Klängen mitunter brachiale Double-Bass-Gewitter und scheppernde Gitarrenblitze hervor, die wenig später wieder von elegischen Elektronikklängen abgelöst werden. Das alles funktioniert dank gewisser Anleihen bei der klassischen Musik, hier und da tauchen Leitmotive und Reprisen auf.

Auch die Streicher fehlen nicht: In My Ashes haben sie die Aufgabe, einen sanften Hintergrund zu liefern. Bei Sleep Together ist das Streicherarrangement gespickt mit an Beatles-Songs wie Strawberry Fields Forever oder I Am The Walrus erinnernden Streicherglissandi, stellenweise spielen sie sich weit in den Vordergrund. Sleep Together ist ohnehin ein gutes Beispiel für die Produktionstechnik Wilsons. Aus heterogenem Material schmiedet er eine unverwechselbare Mischung: Beatles-Streicher, Heavy-Drums, ein Ostinato des Synthesizers, das den gesamten Song über vor sich hin murmelt, versonnene Keyboard-Motive, ein psychedelisches Gitarrenriff.

Diese Musik stellt Ansprüche an den Hörer, ganz sicher kann man sie nicht nebenbei hören. Wer von Rockmusik mehr erwartet als das übliche Drei-Minuten-Geschrammel auf elektrischen Gitarren, der ist bei Porcupine Tree bestens aufgehoben.

„Fear Of A Blank Planet“ von Porcupine Tree ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Roadrunner/Warner Music

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Von Spar: „Xaxapoya/Dead Voices In The Temple Of Error“ (Tomlab 2007)
Tocotronic: „Kapitulation“ (Universal 2007)
Shellac: „Excellent Italian Greyhound“ (Touch & Go/Soulfood Music 2007)
Editors: „An End Has A Start“ (PIAS/Rough Trade 2007)
Tomahawk: „Anonymous“ (Ipecac 2007)

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1 Stück = 22 Minuten

Die deutsche Gruppe Von Spar wurde mit Punk bekannt. Auf ihrem zweiten Album erprobt sie die große Misch-Form.

Von Spar Xaxapoya

Es dröhnt aus dem Orchestergraben, satte zweieinhalb Minuten lang werden die Instrumente gestimmt. Der Dirigent schlägt ein paarmal auf sein Pult, er mag den Rhythmus. Die Tasteninstrumente werden lauter, bald schreien sie in den höchsten Tönen. Nach fünf Minuten tritt die Basstrommel auf, kurz darauf ruft jemand unverständliche Worte. Nach sieben Minuten ist aus dem Stimmen der Instrumente ein Inferno geworden. Die Pauken werden gedroschen, dem Vokalisten droht die Heiserkeit. Eine Gitarre beginnt kleine Muster in die Klangmauer zu meißeln, hier und dort bricht auch eines der Keyboards aus der Repetition aus und entwirft eine süße Melodie. Neun Minuten sind vorüber.

Zwei weitere Minuten vergehen, die Gitarren schwingen sich in metallische Höhen. Sie quietschen und jaulen, als wären Iron Maiden oder Judas Priest am Werk. Der Sänger gibt’s auf, er röchelt noch leise im Hintergrund. Nach und nach verschwinden der Lärm, verstummen die Instrumente, sogar das Klöppeln des Taktstocks. Am Ende bleibt nur ein flauschiger Teppich aus Keyboardsäuseln, eine Minute lang liegt er da zur Erholung.

Von Minute dreizehn an kommen die Musiker aus der Pause zurück. Erst die Keyboards, sie sind jetzt melodiöser. Dann ein nervöses Pluckern, stammt das von einer Gitarre? Und ein sirenenartiges Geräusch. Nach fünfzehneinhalb Minuten setzt ein geradliniges Schlagzeug ein, auch der Sänger hat sich erholt und erzählt, in den Siebzigern geboren worden zu sein: Er suche nach Schönheit. Plötzlich wird aus dem wilden Lärmen ein richtiges Lied. Es klingt nach dem New Wave der frühen achtziger Jahre, elektronisch und treibend. Es bleibt aber verspielt, hier wird ein Chor gesampelt, dort scheint jemand im Hintergrund zu husten, hier heult eine Sirene, dort stimmt das Orchester die Instrumente aufs Neue. Nach weiteren vier Minuten wird sehr langsam ausgeblendet.

Xaxapoya heißt dieses Monstrum, es ist zweiundzwanzig Minuten lang. Es ist das erste Stück – oder die erste Seite – des neuen Albums der deutschen Band Von Spar. Das zweite Stück – oder die Rückseite – heißt Dead Voices In The Temple Of Error und dauert achtzehn Minuten. Mit Die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative waren Von Spar vor einigen Jahren überaus erfolgreich. In Stücken, die so ähnlich klangen wie die letzten vier Minuten von Xaxapoya, brachten sie ihre Energie auf den Punkt. Ihre Texte waren deutsch und politisch, das hektische Organ von Thomas Mahmoud das Markenzeichen ihrer Musik.

Auch beim zweiten Stück Dead Voices In The Temple Of Error nehmen sich Von Spar Zeit, lassen sich von einer Idee zur nächsten treiben, von einem Genre ins andere. Sie beginnen mit einer Mischung aus Hörspiel und knisternder Elektronika (Minute 1 bis 4), schwingen sich dann langsam ein (Minute 4 bis 7), wandern durch die siebziger Jahre (Minute 7 bis 12 ) und den Death-Metal (Minute 12 bis 15) hin zu nervösen Klangexperimenten, die an Mike Patton erinnern (Minute 15 bis 18).

Was hat sie wohl bewogen, eine solche Platte aufzunehmen? Sie ist ausufernd und uneindeutig. Der Sänger hat kaum etwas zu singen. Ist es der Versuch, Erwartungen zu unterlaufen? Der Ausdruck gelebten Künstlertums?

Schwer zu sagen. Aber interessant ist das.

„Xaxapoya/Dead Voices In The Temple Of Error“ von der Band Von Spar ist als LP und CD erschienen bei Tomlab

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Tocotronic: „Kapitulation“ (Universal 2007)
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Editors: „An End Has A Start“ (PIAS/Rough Trade 2007)
Tomahawk: „Anonymous“ (Ipecac 2007)
Battles: „Mirrored“ (Warp/Rough Trade 2007)

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Verlieren ist nicht sexy

Tocotronic erzählen auf „Kapitulation“ vom Scheitern. Sie haben ihr Konzept ernst genommen und schnoddern eine Platte hin, die so langweilig ist, dass sie kaum jemanden vom Hocker reißen wird.

Wer über Musik schreibt, ist immer auch Fan. In manchen Fällen ist er Fan dessen, worüber er schreibt. Tocotronic lernte ich kennen, als ihr Album Digital Ist Besser 1995 in den Jahreslisten vieler Musikmagazine weit oben stand. „Welch ein Titel!“, dachte ich, „aber ich interessiere mich nicht für Techno.“ Später sah ich die CD im Laden. Mit diesem verwackelten Polaroid vorne drauf, das war mir klar, machen die niemals Technomusik. Zum Fan wurde ich erst, als ich mir die Platte sehr oft angehört hatte.

Es hat mir lange Zeit große Freude bereitet, Tocotronic bei ihren Abgrenzungsversuchen zu beobachten. Wie sie immer bemüht waren, Erwartungen nicht zu erfüllen. In Interviews hofft man auf druckreifes Schlagwortgeplapper, den Fragenden wird es meist verweigert. Rezensenten neigen zur Überinterpretation und finden auf ihrer philosophischen Spurensuche einen ganzen Haufen semantischer Querverweise in von Lowtzows Texten. Bei der letzten Platte Pure Vernunft Darf Niemals Siegen erkannten plötzlich alle den Einfluss Theodor W. Adornos. Diesmal erfreut man sich, begriffen zu haben, dass hinter den Stücken des Albums ein Konzept steht. Wahnsinn.

Dem Fan in mir fällt es schwer, die bereits verkündeten Superlative zum neuen Album von Tocotronic zu wiederholen. Kapitulation langweilt mich. Manchmal geht es mir sogar auf die Nerven, das gilt für die Musik und die Texte.

Das eigentlich Spannende an dieser Platte ist die Rezeption derer, die – mit exklusiven Vorabkopien ausgestattet – herunterbeten, wie originell das Konzept der Platte ist. Manche tun das auch ohne Vorab-Exemplar. Das Verhältnis zwischen schreibender Zunft und Band erscheint fetischistisch, teilweise masochistisch. Die Tocotronic’schen Vokabeln kapitulieren, verlieren und aufgeben werden immer wieder mit sexy, cool und lustvoll übersetzt. Ganz so, als warteten wir alle lange schon auf jemanden, der uns erklärt, warum das Verlieren eigentlich viel besser ist als das Gewinnen. Verlieren, der neue Trend?

Immer wieder denke ich beim Hören an Franz Beckenbauer. „Ja, ist denn heut‘ schon Weihnachten“ heißt bei Tocotronic „Kommt alle mit zu mir nach Hause“, „Schaumermal“ übersetzen sie mit „Mehr ist mehr“, „Du musst nie wieder in die Schule gehen“ ist die Verweigerungsversion von „Ja, bin ich schon drin?“ Das war Boris Becker. Aber ist das besser?

Über viele Textzeilen kann ich nur den Kopf schütteln. „Dein Schlecht ist mein Schlecht, dein Schlimm ist mein Schlimm, dein Schlimm ist mein ganz Schlimm“, „Es sind die Qualen, die mich quälen“, „Ja, ich habe heute nichts gemacht, ja, meine Arbeit ist vollbracht“. Schon immer produzierten Tocotronic solche Satzfetzen für den Smalltalk unter Akademikern. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ und „Gitarrenhändler, ich verachte euch“, das sind oft gehörte Textzeilen. Studentenparty, ick hör dir trapsen. „Und jetzt weiter im Text, neue Fehler warten, Steine liegen auf dem Weg, ich leg sie rüber in den Garten“. Das Versmaß stimmt, der Reim auch. Immerhin.

Musikalisch waren sie schon weiter. Kapitulation sei rauer geworden als die vorangegangenen Platten, heißt es. Und – natürlich – reifer, erwachsener, direkter, tätärätätä. In meinen Ohren klingt es einfallsloser als das letzte Album und als das vorletzte Album Tocotronic allemal. Beim Gitarrenlauf von Verschwör‘ Dich Gegen Dich muss ich sogar an Heinz Rudolf Kunze denken. So simple und platte Akkorde gab es bei Tocotronic noch nie zuvor.

Nun, das Meiste ist selbstverständlich besser als alles, was Herr Kunze je in ein Mikrofon spielte. Aber für Tocotronic ist das eben nicht gut genug. Oder halten sie ihr Konzept des Scheiterns einfach nur konsequent durch und rotzen eine Platte hin, die nie und nimmer irgendjemanden vom Hocker reißen wird? Und ich bin drauf reingefallen?

Diesmal haben Tocotronic meine Erwartung nicht erfüllt, geschieht mir ja recht. Aber: Ich freue mich für jeden, der das Album mag.

„Kapitulation“ von Tocotronic ist als CD erschienen bei Universal, als LP bei Buback

Thomas Groß mag die Platte. Hier lesen Sie seine Meinung »

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Kein Trara

Schlagzeug, Gitarre, Bass, mehr brauchen Shellac nicht, um auf „Excellent Italian Greyhound“ gehörig zu rumpeln.

Shellac Excellent Italian Greyhound

Platten von Shellac klingen, als wäre man im Proberaum dabei. Ihre neue Aufnahme, Excellent Italian Greyhound, mehr als jede zuvor. Ihre Musik ist nicht geschliffen, sie wirkt spontan. Am Anfang des ersten Stücks The End Of Radio fragt der Sänger, „Ist das Ding an? Könnt ihr mich hören?“, so als wäre er sich nicht ganz sicher, ob sie noch proben oder schon aufnehmen. Der Text klingt improvisiert, er wiederholt die Worte und „Test, Test, Test.“ Er grummelt, „I would like to thank the sponsor“. Pause, dann: „But… we haven’t got a sponsor.“

Der Bassist Bob Weston spielt dazu drei langsame, einfache Akkorde, Mal um Mal, achteinhalb Minuten lang. Sein Instrument ist verzerrt und nicht immer ganz im Takt. Der ist stellenweise aber auch schwer auszumachen, der Schlagzeuger Todd Trainer bricht immer wieder aus, setzt aus, drischt, wird schneller und wieder langsamer.

Steady As She Goes rumpelt und bollert, Be Prepared kracht und rumpelt, Boycott bollert und kracht. Alle Stücke klingen karg, wie ein Schlagzeug, eine Gitarre und ein Bass ohne großes Trara eben klingen. Elephant klingt noch karger als der Rest, da spielt minutenlang nur das Schlagzeug. Dann wieder tragen Albini und Weston im Dialog vor, schließlich singen sie eine richtig süße Melodie. Am Anfang staunt man über den aufgenommenen Klang, über die Homogenität der Platte. Bei wiederholtem Hören fällt einem auf, wie unterschiedlich und abwechslungsreich die einzelnen Stücke sind.

Die Band Shellac gibt es seit fünfzehn Jahren, Excellent Italian Greyhound ist ihr viertes Album. Ihr Gitarrist und Sänger ist der bekannte Produzent Steve Albini. An die 2000 Alben hat er bislang aufgenommen, so genau weiß das niemand. Nirvana hat er betreut, die Pixies, PJ Harvey, Mogwai, Fugazi, Joanna Newsom und viele andere bekannte und vollkommen unbekannte Bands. Albini ist der Meinung, jede Gruppe habe das Recht, aufgenommen zu werden.

Er nennt sich nicht producer, sondern recording engineer. In seinem Studio Electrical Audio in Chicago nimmt er so viel wie möglich live auf und verzichtet auf technische Tricks, wie sie heute üblich sind. Wer von ihm aufgenommen wird, muss spielen können und wissen, wie es klingen soll.

Wie sich Shellac nun anhören, fragen Sie? Diesem Text ein Hörbeispiel zur Seite zu stellen verbietet Mister Albini leider, auch Rezensionsexemplare gibt es von Shellac nicht. Aber man kann sich Shellac im Web 2.0 anschauen, bei YouTube zum Beispiel. Dort gibt es eine Mobiltelefonaufnahme von The End Of Radio vom Primavera-Festival des Jahres 2006. Albini improvisiert die Stelle mit dem Dank an den Sponsor auf dieser Aufnahme, er bittet Martina Navratilova, ihr Sponsor sein zu dürfen, „your name is fun to say, Martina Navratilova“. Beim ebenso auf YouTube einsehbaren Musikvideo zu Steady As She Goes laufen Bild und Ton nicht synchron, sie sind um genau einen Takt verschoben, dadurch fällt es kaum auf. Die drei Musiker stehen in einem kleinen Raum, es scheppert und rumpelt. Exakt so klingen Shellac auf Platte.

„Excellent Italian Greyhound“ von Shellac ist erschienen bei Touch & Go/Soulfood Music

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Das Haupt wie Senkblei

Weinst du noch oder tanzt du schon? „An End Has A Start“ heißt das zweite Album der Editors. Darauf betten sie düstere Lyrik in diskotauglichen Rock.

Wie sieht wohl der Proberaum der Editors aus? Fast dunkel wird er sein, in einer Ecke stottert eine Neonröhre, Kälte ist an die Wände gefliest und wahrscheinlich regnet es rein. Ganz leicht. Tropf, Tropf. Anders ist die Gemütslage der vier jungen Musiker aus Birmingham kaum zu erklären.

Vor zwei Jahren war es, da erzählten sie aus dem Back Room – düstere Rockstücke, (sch)mollende Gitarren, Schicht für Schicht aufgetragen, ein Grummelbass, unruhiges Schlagzeug, und über all dem hallte der Bariton von Tom Smith, dass gar den ärgsten Frohnaturen das Haupt wie Senkblei wurde. Tod, Leben, sie liebt mich, sie liebt mich nicht, und alles von vorn.

Ihr neues Album beginnt dort, wo sich Leben und Sterben, Willkommen und Abschied treffen: vor dem Krankenhaus bei einer Zigarette. Uff. Smokers Outside The Hospital Doors heißt das erste Lied von An End Has A Start, zugleich die erste Single. Das Schlagzeug stapft los, ein Klavier setzt ein, eine zaghafte Ouvertüre bloß – und da ist er plötzlich wieder, dieser sterile Klang. Da fiept keine Rückkopplung, trieft kein brunftiges Rockgeschwitz. Die Musik ist simpel und schwarz lackiert. Sie ist klinisch rein. Wie ein Stationsflur.

Die Gitarren schrauben sich in klirrende Tonhöhen, der Bass bebt, ein Keyboard schleicht sich heran. Manchmal ist sogar Dur dabei. „Say goodbye to everyone you have ever known, you are not gonna see them ever again”, singt Tom Smith zu Beginn. Das ist natürlich Kitsch. Häufig wird es pathetisch: “Lift the weight of the world from my shoulders again”, heißt es in The Weight Of The World. Peinlich klingt es nie. Die Editors jammern nicht. Nüchtern tragen sie ihre Düsternis vor. Allenthalben durchaus diskotauglich, wie im Titelstück der Platte oder in Bones. Ein Offbeat-Schlagzeug treibt sie an, flott schwirren die Melodien. Weinst du noch oder tanzt du schon? In solchen Momenten weicht die dräuende Stimmung aus der Musik.

Doch es fällt schwer, die zehn Stücke nacheinander zu hören. Die Hälfte sind Balladen. Dann liegt ein schwerer Samtvorhang auf Tom Smiths Stimme, der kaum Licht durchlässt. Nur dann und wann mal ein kleiner Schimmer Hoffnung, höchstens purpurrot. Am Ende versinkt das Album in ewiger Finsternis. Well Worn Hand, dem Wehklagen eines Verlassenen. „I don’t want to go out on my own anymore / I cant face the night like I used to before / I’m so sorry for the things that they’ve done / I’m so sorry about what we’ve all become.” So entlassen sie den Hörer in den kommenden Sommer. Herrlich.

„An End Has A Start“ von den Editors ist als LP und CD erschienen bei PIAS/Rough Trade

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Im Zeichen der Wurfaxt

Der Sänger Mike Patton trägt jetzt Federschmuck. Er spielt mit der Band Tomahawk Indianerlieder nach. Spinnt der denn?

Tomahawk Anonymous

Es fällt schwer, einen Text über eine Platte Mike Pattons zu schreiben. Zu nah liegt die Versuchung, sich an seiner Vielseitigkeit und seinen Ideen zu ergötzen. Mit Mr. Bungle veröffentlichte er seit den Achtzigern kauzige Rockmusik – die ersten Jahre auf Kassetten, die heute teure Sammlerstücke sind. Die Liste seiner Kooperationen ist lang. Er arbeitete mit den Melvins und dem Komponisten John Zorn, er nahm Björks Album Medúlla auf. Zehn Jahre lang sang er bei Faith No More, danach spielte er bei Fantômas.

In welche musikalischen Gefilde es Mike Patton auch verschlägt: Er überrascht den Hörer! Mit der Band Fantômas interpretierte er auf Director’s Cut Filmmelodien von Nino Rota, Henry Mancini, Ennio Morricone und Angelo Badalamenti in flirrendem Drama-Rock. Ihr letztes Album Delìrium Còrdia bestand aus einem Stück, siebzig Minuten lang. Als Peeping Tom sang er im vergangenen Jahr ungewöhnliche Duette mit Massive Attack, Bebel Gilberto, Norah Jones und anderen. Er orientiert sich nicht am Zeitgeist, seine Projekte sind einzigartig. Nie macht er eine Masche daraus.

Jetzt kommt er mit Tomahawk. Anonymous ist das dritte Album im Zeichen der Wurfaxt, und es besteht aus Coverversionen. So weit, so normal? Von wegen. Tomahawk spielen Lieder der indianischen Ureinwohner Amerikas, dreizehn traditionelle Gesänge anonymer Autoren aus dem späten 19. Jahrhundert.

Wer kommt denn auf so eine Idee? Es ist leicht, solch ein schräges Unternehmen dem spinnerten Hirn Mike Pattons zuzuschreiben. Tomahawk ist im Gegensatz zu vielen seiner Projekte eine Band mit ihm, es ist nicht seine Band. Die Musik zu Anonymous spielte der Gitarrist und Bandgründer Duane Denison mit dem Schlagzeuger John Stanier in Nashville ein, Pattons Gesang kam später aus San Francisco.

Tomahawk machen nicht den Fehler, die Originale in derbe Rocknummern zu verwandeln. Sie bleiben nah an der Stimmung der rituellen Gesänge. Nur ab und an drängen die Gitarren oder Pattons schneidende Stimme in den Vordergrund. Dann werden die Stücke noch eindringlicher und düsterer.

Patton grummelt und jault. Es braucht meist keine verständlichen Worte, diese Musik lebt von einer starken Atmosphäre. Der War Song rührt tief, gleich zu Beginn des Albums. Eine Gewitterstimmung baut sich auf, die Gitarren und Bässe schrammeln auf einer einzigen Harmonie, Patton raunt tiefe Laute. Man kann sich gut vorstellen, wie Indianer sich auf den Krieg vorbereiten, ihre Pfeile schärfen und ihre Gesichter bemalen. Oder wie sie zum Ghost Dance um ein Feuer tanzen, um die bösen Geister zu vertreiben.

Sprunghafte Melodien kommen hinzu. Mescal Rite 1 beginnt mit Gebrummel von Gitarre und Basstrommel in einem undefinierbaren Takt. Wenn Mike Patton einsetzt, begleiten die Instrumente seine Stimme durch Berg und Tal, Nonen und Septimen, er singt etwas wie „Hunaheo-Hunanananaheao“. Ein Chor betont die Trommelschläge mit einem tiefen „Hunn!“. Am Ende quietscht eine Fidel ihr rostiges Lied, die Tänzer gleiten in einen unruhigen Schlaf.

Man kann viel hineinhören in die Lieder. Die meisten tragen die Worte „Tanz“, „Ritus“ oder „Zeremonie“ im Titel. Da liegen die Assoziationen nahe. Red Fox könnte einer Naturbeobachtung entspringen, die List eines Fuchses vertonen. Patton singt mit hoher, gepresster Stimme, im Hintergrund trappeln zarte Pfoten. Zur Antelope Ceremony werden die Messer gewetzt. Der Song Of Victory ist das Gegenstück zum War Song, Anspannung löst sich, es wird ausgelassen gefeiert.

In drei, vier Stücken singt Patton englisch, manchmal mischt er es mit indianischer Lautmalerei und Phantasiesprache. Der Cradle Song ist ein unbehagliches Schlaflied, furchterregend ploppt ein Bass, dazu singt Patton von gestohlenen Träumen und fliegenden Feuern. Wie soll man dazu einschlafen?

Zum ruhigen Long, Long Weary Day ziehen sich die Tänzer und Krieger in ihre Tipis zurück. Der Morgen graut, die Asche glüht langsam aus.

„Anonymous“ von den Tomahawk ist erschienen bei Ipecac

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Ohne The

Die Battles aus New York verstehen es, ihre Instrumente zu bedienen. Schade, dass sie so hohle Lieder schreiben

Battles Mirrored

Drei Mitglieder angesehener Bands und der Sohn eines bekannten Komponisten machen zusammen Musik. Kann denn so etwas schiefgehen? Und wie!

Die Battles aus New York sind schwer angesagt. Gerade haben sie ihr Debütalbum Mirrored veröffentlicht, es kursierten bereits zwei Minialben. Die ambitionierte Plattenfirma Warp Records nahm sie unter Vertrag. Das Label hat schon vielfach bewiesen, dass man anspruchsvolle Musik nicht nur veröffentlichen, sondern auch stapelweise verkaufen kann. Der Name Warp ruft Assoziationen hervor. Dazu die ganzen Namen, die im Umfeld der Band fallen – Namen! Namen! Namen! Und nun?

Nun wird gefeiert! Im Feuilleton und in der Musikpresse, auch auf ZEIT online. Die Battles machen die Musik der Zukunft, heißt es. Revolutionär seien sie und dabei so etwas wie der neue Jazz.

Nur: Wenn ein Rocker mal keinen Viervierteltakt spielt, dann ist das noch lange nicht Jazz. Ebenso wenig ist es Rock, wenn ein Jazzer mal gerade spielt. Allenfalls Jazzrock. Und da wären wir beim Hauptproblem der Battles. Sie paaren Inhaltsleere mit dem Gestus des Beeindruckenden. Sie erschaffen eine Aura des Virtuosen, ohne zu wissen, wofür sie das eigentlich tun. Wie nichtssagend die Musik ist, sieht man schon daran, dass die wichtigste Botschaft der Battles ist, dass man sie nicht mit The Battles verwechseln dürfe. Wow.

Ihre Instrumente können sie wahrhaft bedienen. Aber es wirkt, als könnten sie keine Musik damit machen. Was herauskommt, hat weder Seele, noch ist es innovativ. Alles klingt leer und knüpft nahtlos an die Ära an, in welcher der Jazz verstarb. In Fusion und Jazzrock der späten Siebziger und frühen Achtziger wurde gegniedelt und gedaddelt, dass es ein Graus war. Im Ringen um Komplexität und Schnelligkeit spielten sich die Stanley Clarkes und Weather Reports um ihren musikalischen Verstand. Fusion wurde zum Sport und entfernte sich so weit von Musik, dass es beinahe zur olympischen Disziplin wurde.

Das ist alles lange her. Braucht es eine Neuauflage?

Die Battles spielen sehr rhythmisch, aber eindimensional, immer der vordergründigen Idee folgend. Wenn eine Melodie auftaucht, dann ist sie uninteressant und dreht sich nur um die eigene Achse. Dazu wird gepfiffen wie im amerikanischen Bürgerkrieg. Die einzige Leistung der Band ist, dass sie zeigt, wie man Fusion ohne den gefürchteten Slap-Bass spielt.

Nur ein gutes Stück gibt es: Leyendecker ist druckvoll und verbindet harten Rhythmus mit Elementen der Musik aus Pferdeopern. Dieses eine Mal entsteht eine dichte Atmosphäre. Es ist mehr ein Glückstreffer.

Die aufwendig gestaltete Hülle der Platte zeigt ein Spiegelkabinett, passend zum Titel. Glitzernde Oberflächen, nichts dahinter.

„Mirrored“ von den Battles ist erschienen bei Warp/Rough Trade

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Calypso aus Sheffield

“Favourite Worst Nightmare” von den Arctic Monkeys ist in seinem tropischen Mittelteil neu und gut. Der Rest klingt, als kopierten sie sich bloß.

Arctic Monkeys Favourite Worst Nightmare

Lieber Leser,

Geschichten über die Arctic Monkeys sind mühsam zu lesen und noch mühsamer zu schreiben. Denn die Erfolge der Rockband aus Sheffield werden seit einem Jahr immer wieder durchgekaut. Daher vorweg: In diesem Text wird nicht über Web 2.0 geredet. Nicht über Internetdownloads. Nicht über Verkaufszahlen britischer Debütalben. Auch nicht über das Alter der Band. Und MySpace? Vergessen Sie’s! Falls Sie, lieber Leser, mehr über diese Themen wissen wollen, klicken Sie einfach hier. Oder hier. Dort dürften Sie fündig werden. Es wäre nett, würden sie danach hier weiterlesen. ––

Wieder da? Wie schön. Sie wollen jetzt sicher wissen, wie das neue Album Favourite Worst Nightmare klingt. Es beginnt stürmisch. Ein Trommelfeuer, der Bass schnarrt und die Gitarre klingt, als werde sie mit rostigen Nägeln gespielt. Brianstorm heißt das Lied. Der Sturm legt sich bald, Struktur kommt ins Lied, ein körniger Basslauf treibt es an. Aber die Stimme? Ein Verzerrer malträtiert den Yorkshire-Akzent des Sängers Alex Turner. Es rauscht und krächzt. Die Silben sind schwer zu verstehen. Aus „don’t“ wird „dun“, „something“ wäscht aus zu „summat“.

Ruppig geht es weiter. Kaum ein Lied ist länger als zweieinhalb Minuten. Ein kantiger Bass baut das Grundgerüst. Simple Muster spielt er, sie klingen nach gut abgehangenem Funk und ein bisschen nach Punk. Vier Lieder lang donnern die Arctic Monkeys furios, als hätten sie keine Lust mehr, über Disko-Plattenteller gescheucht zu werden. Und diese ständigen Rhythmuswechsel, dazu kann kein Mensch tanzen. Der Schlagzeuger soll Box-Unterricht genommen haben, damit seine haarsträubenden Wirbel ihn nicht aus der Puste bringen. Mit dem fünften Stück wird’s milder auf Favourite Worst Nightmare.

Ein tropischer Wind bläst durch Sheffield. Palmen wiegen sich zwischen Thatcher’schen Zweckbauten, lässige Gitarren kehren ein: Fluorescent Adolescent gerät zu einer schwelgenden Calypso-Nummer. Es folgt Only Ones Who Know, eine Ballade! Ein bisschen missglückt kräht der mehrstimmige Gesang, aber hat man so was erwartet? Und dass der rotzige Alex Turner plötzlich Sätze singt wie: „True romance can’t be achieved these days“? Nein, oder? Das wehmütige Do Me A Favour beschließt die Ruhephase. Es ist das schönste Lied des Albums. „Do me a favour and unbreak my nose“, fleht Turner und jetzt könnte die Platte zu Ende sein. Aber nein. Kurzes Luftholen, bevor der Verzerrer wieder zugeschaltet wird. Aufs Neue schrubben die Gitarren los. Schade.

In den schnellen Stücken fällt zuweilen auf, wie sehr sie sich ähneln – und wie sehr sie denen des vorigen Albums ähneln. Natürlich, sie sind besser aufgenommen. Der jugendliche Ungestüm von vormals klingt nun kalkuliert. Sie mühen sich nach einem zweiten „I Bet You Look Good On The Dancefloor“, doch es wirkt, als imitierten sie sich selbst. Und das in diesen jungen Jahren! Immerhin, der Mittelteil des Albums weckt Hoffnung. Und vielleicht ist ihr nächstes Album ja eines für lauschige Stunden? Ohne Wut und Rebellion. Das wär doch was.

„Favourite Worst Nightmare“ von den Arctic Monkeys ist erschienen bei Domino/Rough Trade

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Krach wie früher

Die Indie-Rocker Dinosaur Jr. sind zurück, in der Original-Besetzung des Jahres 1987. „Beyond“ klingt, als wäre es von damals: scheppernd, sumpfig, dreckig.

Melody and Noise, Melodie und Geräusch, das war die Devise der Stunde im alternativen Rockgeschehen vor zwanzig Jahren. Die drei Platten, die das am besten umsetzten, waren Isn’t Anything von My Bloody Valentine, Candy Apple Grey von Hüsker Dü und You’re Living All Over Me von Dinosaur Jr. Verglichen mit diesen Bands erscheint ein Großteil des heutigen Indie-Rock handzahm und lahm.

You’re Living All Over Me war das zweite Album von Dinosaur Jr., sie schufen darauf ihre eigene Mischung aus Punk und Metal. Ergreifende Melodien bahnten sich ihren Weg durch meterdicken Lärmschlamm, es klang, als hätte Neil Young unter dem Einfluss aufputschender Drogen mitgewirkt.

In der Urbesetzung aus J. Mascis, Lou Barlow und Murph legte Dinosaur Jr. kurze Zeit darauf mit Bug ein weiteres Meisterwerk vor. Danach verließ der Bassist Lou Barlow die Band, um sich seinem eigenen Projekt Sebadoh zu widmen. Der Gitarrist und Sänger J. Mascis nahm in den folgenden zehn Jahren – anfangs unterstützt vom treuen Schlagzeuger Murph – vier weitere Alben auf. Die waren voller schöner Melodien und bezaubernden Arrangements, weniger krachig. Auf der Bühne fehlte der Gegenpol zu Mascis’ ausladenden Gitarrensoli. Nicht selten artete das in hemmungsloses Gegniedel aus – ein typisches Verfallssymptom alternder Rocker. Es wurde noch schlimmer, als Mascis Dinosaur Jr. im Jahr 1998 auflöste und zwei Platten unter seinem eigenen Namen veröffentlichte.

Im vergangenen Jahr tourten Dinosaur Jr. erstmals seit 18 Jahren wieder in der Originalbesetzung und gaben ohrenbetäubende Konzerte, die viele Fans ratlos zurückließen. War das jetzt wirklich großartig oder nur ein nostalgischer Reflex?

Jetzt gibt es mit Beyond eine neue Platte. Sie beginnt mit einem Gitarrensolo von J. Mascis, unterlegt mit einem infernalischen Lärmteppich. Lou Barlow ist wieder da und mit ihm dieser verzerrte Bass-Klang, der weniger Rhythmus denn Textur ist – pures Geräusch. Er ist das Gegengewicht, das Mascis quecksilberartige Soloergüsse brauchen. Murph poltert dazu wie eh und je und treibt so die Musik voran. Die Stücke sind fantastisch, J. Mascis ist immer noch ein hervorragender Schreiber. Zwei Stücke stammen von Lou Barlow, sie verhalten sich zu Mascis‘ Stücken wie Mitte der Siebziger die Stücke von Stephen Stills auf Neil Youngs Alben: Sie sind die Ruhepole mit Harmoniegesang inmitten der rastlosen Eigenwilligkeit.

Das Erstaunlichste an dieser Platte ist, dass sie sich den derzeit üblichen Klangidealen komplett verweigert. Hier gibt es nicht die im Studio zu Tode komprimierten Klangblöcke, die heutzutage als Härte gelten. Beyond klingt scheppernd, sumpfig und dreckig, als sei es im Jahr 1987 entstanden.

Mit Nostalgie hat das nichts zu tun.

Sehen Sie hier das Video zu „Been There All The Time“

„Beyond“ von Dinosaur Jr. ist erschienen bei PIAS

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