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Verschwende deinen Mythos

Die Fehlfarben – zu jung zum Sterben und zu alt für den Punkrock. Als jugendliche Rebellen gehen sie auf ihrem neuen Album „Handbuch für die Welt“ nicht mehr durch

Dieses Mal zählt’s. Als vor fünf Jahren die alten Herren des deutschen Punk nach vieljährigem Hobbymusikerdasein wieder die Gitarren umschnallten, war noch nicht ganz sicher, wohin die Reise gehen sollte. Zurück in die Vergangenheit oder mitten hinein ins Hier und Jetzt? Ein Aufenthalt auf Dauer oder doch nur der Versuch, kurzfristig in Jugendzeiten versäumte Rendite einzuspielen, um das Rentnerdasein finanziell ein wenig abzufedern? Knietief im Dispo war die Mission überschrieben: ein augenzwinkernder Seitenhieb auf all die geschmäcklerischen Rückkehrversuche, von denen das Popgeschäft im Zeichen der eigenen Wiederkehr seit je wimmelt. Bis dahin war die Band Fehlfarben ein deutscher Punk-, wenn nicht Popmythos, der auf immer mit dem Jahre 1980 verbunden sein sollte. Ihr Revoluzzer-Monument Monarchie und Alltag bildete für viele ihrer damaligen Hörer, also die heutigen Mitt- und Endvierziger, die Tonspur ihrer Jugend. In den Texten von Peter Hein fand zusammen, was einmal zusammengehörte: bundesrepublikanische Alltagsbeobachtungen und jugendliches Rebellentum, Punk und Politik.

Fast mag das heute ein wenig anachronistisch anmuten, in Zeiten, in denen der Revoltenchic vergangener Tage längst zum Marktsegment verkommen ist und auf Privatsendern in Achtziger-Jahre-Mottoshows auch die Fehlfarben ihre 60 Sekunden Ruhm ernten dürfen –kommentiert von den einstigen Klassenfeinden. Geschichte wird gemacht – so oder so, auch wenn’s musikalisch längst nur noch an anderer Stelle vorangeht. Volle Kraft voraus, Viervierteltakt, Punkrock? War da was?

Vom Mythos der jugendlich ungestümen Rebellen sind die Fehlfarben heute so weit entfernt wie nur denkbar. Ihr Verdienst um die deutschsprachige Musik ist unbestritten. Trist ist allenfalls die Gegenwart: Ein paar ergraute Herren proben noch einmal den Aufstand und schwingen das Schwert der gesellschaftlichen Fundamentalkritik. Unerbittlich im Gestus, rückwärtsgewandt in den ästhetischen Mitteln. Neu, frisch und unverblümt klingt auf dem aktuellen Album Handbuch für die Welt wenig. Die, die sich Ende der Siebziger aufmachten, den Altherrenrock von der Bühne zu fegen, sind selbst zu einer Altherrenband geworden. „Ja, wir sind anders, anders geblieben“, grummelt Peter Hein im Eröffnungsstück des Albums, als gelte es, mit aller gebotenen Schärfe noch einmal den neuen, alten politischen Standort zu bestimmen. Nur: Die Zeiten haben sich gewandelt. So sehr die Fehlfarben in den Achtzigern in ihre Zeit passten und diese widerspiegelten, so weit sind sie heute von allen gesellschaftlichen und musikalischen Strömungen entfernt.

Wehe dem, der am eigenen Mythos kratzt. Zu jung zum Sterben und zu alt für den Punkrock: Es ist das Malheur aller zu früh Geborenen, die Helden waren, als sie das selbst noch nicht wussten. Ironischerweise gelingt den Fehlfarben des Jahres 2007 mit dem einzigen wirklich alten Stück, einer Coverversion der singenden GIs The Monks (We Do Wie Du), ihre zeitgenössischste Ausformulierung. Für einen Moment weicht alles Bedeutungsschwangere aus den Zeilen, aller bleierne Schwulst aus den Arrangements. „We do as you, we do, we do, wie du, wie du.“ Du, das heißt bei den Fehlfarben wohl „wir“, – Humor lugt durch die Zeilen. Nichts gibt’s umsonst: keinen Mythos und keine Wiederkehr. Der Rest ist Geschichte.

Hören Sie hier „Anders geblieben“

„Handbuch für die Welt“ von den Fehlfarben erscheint am 20. April bei V2 Records

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Öl in die Melone

Maximo Park retten den Britpop. Ihre neue Platte treibt uns den Schmerz der Liebe ins Ohr, gießt warmen Klang hinterher und lässt die Beine nicht ruhen.

Paul Smith trägt neuerdings einen Bowler, wenn er sich für die Presse fotografieren lässt, und das darf man wohl als klare Aussage verstehen: „Seht her, ich bin britisch. Unsere Musik ist es auch!“ Ob dieser Hinweis nötig ist? Der Sänger und seine Band Maximo Park haben gerade ihre zweite Platte, Our Earthly Pleasures, veröffentlicht, und die wirkt auf den ersten Blick schon etwas befremdlich. Was ist das für ein Cover? Fast würde man hinter dem trüben Paar eine jammerige Placebo-Scheibe erwarten.

Um es vorwegzunehmen: Die zehn Lieder auf dem neuen Album jammern nicht. Sie sind aufregend und besänftigend, harmonisch und schräg, rhythmisch und fließend. Sie laufen einem ins Ohr wie warmes Öl. Erst dröhnend, dann mit akzentuierten, zackigen Gitarren beginnt das Lied Girls Who Play Guitar. Hier und in vielen anderen Stücken schimmert noch der erste, aufwühlende Tonträger-Ritt der Jungs aus Newcastle durch, am Anfang von Our Velocity etwa oder im punkigen New Wave von The Unshockable.

Trotzdem wird schnell klar, dass Our Earthly Pleasures keinesfalls die logische Fortsetzung von A Certain Trigger ist – oder gar dessen zweiter Aufguss. Die Band hat vielmehr das vorangetrieben, was sich ganz leise schon auf vielen Stücken der B-Seiten-Sammlung Missing Songs ankündigte: Duncan Lloyd bettet Smiths Stimme mit akustischer und elektrischer Gitarre jetzt in einen satten, flüssigen Klang. Lukas Wooler am Keyboard schöpft nicht mehr ausschließlich aus der vollsynthetischen Tonbox, sondern zeichnet seine Linien häufiger mit dem Klavier, Streichern oder Glöckchen. Die neue Platte ist, selbst wenn sie richtig laut wird – das wird sie oft –, erstaunlich klar und geschliffen arrangiert. Und so ungern wir dieses Wort benutzen: Sie ist auch deutlich eingängiger als ihre Vorgängerin. Our Earthly Pleasures ist eine richtig feine Pop-Platte.

Bestechend ist aber nicht allein die Intelligenz, mit der die Töne zusammengefügt wurden. Es sei mal dahingestellt, ob Paul Smith seit dem ersten Album wirklich so viele Frauen gehabt und so voll gelebt hat, wie nun überall herauf-, herunter- und abgeschrieben wird. Völlig uninteressant auch all die Referenzen an die Weltliteratur, die Smith teils sogar als anmaßend vorgeworfen werden – als müsse man entweder rechtfertigen oder anzweifeln, dass der Mann ganz feinsinnige Texte schreiben kann.

In allen zehn Liedern singt Smith von der Liebe und von den vielen Tönungen, in denen sie dem Menschen begegnet: Da ist der Schatten des Vorgängers, der Schmerz nach dem Ende, die Getriebenheit des Betrugs, die Leere nach dem Tod – und der Zauber des sinnlichen Details. Ob es die leisen Seufzer des Mädchens an der kleinen Bar sind oder die Äderchen auf dem Rücken Rebeccas. Smiths Verse sind Andeutungen, Fragmente, Wortspielereien voller Zärtlichkeit und Zynismus. Es bleibt offen, was sich tatsächlich zugetragen hat. Das Gefühl aber, die Stimmung wird perfekt inszeniert.

Das ist größtenteils sehr traurig, so, wie die Liebe manchmal eben ist. Das Schöne an der neuen Platte von Maximo Park ist: Selbst ein trauriges By The Monument, ein düsteres Karaoke Plays und das melancholische letzte Lied der Platte, Parisian Skies, klingen wild, leidenschaftlich, und vor allem – lebensbejahend.

Hören Sie hier „Our Velocity“

„Our Earthly Pleasures“ von Maximo Park ist erschienen bei Warp/Rough Trade

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Sexy Wummern

Jeden Morgen vor dem Musizieren machen die Musiker von !!! gemeinsame Kung-Fu-Übungen in Unterhosen. Soviel Beweglichkeit zahlt sich aus, ihr neues Album „Myth Takes“ fegt lockeren Fußes über die Tanzflächen.

Aus einer dunklen Ecke der Tanzhalle wankt einer hinüber zum DJ-Pult. Er fragt, was da gerade läuft. Der DJ sagt spuckend so etwas wie „tschik tschik tschik“. „Hä?“ Der DJ schreit zurück: „Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen“, malt diese mit dem Finger in die Luft. Er wünscht sich ein Schild mit drei Ausrufezeichen, das könnte er dann hochhalten. Wahrscheinlich verstünde das aber auch niemand.

!!!, welch ein Name. Um in Suchmaschinen etwas über die Band zu finden, muss man chk chk chk eingeben, so wird das meistens ausgesprochen. Weiß man das, dann erfährt man, dass die Gruppe aus Kalifornien kommt und gerade ihr drittes Album Myth Takes veröffentlicht hat. Man darf sie auch pow pow pow oder bam bam bam nennen, Hauptsache dreimal dasselbe einsilbige Wort. Viel weiter unten liest man, dass das aus dem Film Die Götter müssen verrückt sein kommt, dort wurden rhythmische Laute von Ureinwohnern in der Kalahari-Wüste mit „!!!“ übersetzt.

Früher verfingen sie sich oft in langen Stücken. Auf Myth Takes dominieren klare Strukturen mit Strophe und Refrain, es klingt geordneter, gezügelter. Keine „shit, scheiße, merde“-Gesänge mehr, dafür soulige Frauenstimmen und Rhythmen, die durch den Hintern galoppieren. Rockende Gitarren und Schlagzeuge verschmelzen mit wummernden Clubgeräuschen. Und das so sexy, man muss dazu tanzen. Schon ihr letztes Album Louden Up Now war so clubtauglich, dass der Techno-DJ Sven Väth es zu einer seiner liebsten Platten kürte.

Hier geht es um Rhythmen, erzeugt mit Hilfe elektronischer und gedroschener Schlagzeuge. Drumherum Bläser, selbstversunkene Gitarren, Klanggewirr und Glocken, Punk, Rock und Funk. Das alles nie zu sauber. Die Stücke bauen sich auf, explodieren im Klanggewirr und werden dann plötzlich runtergebrochen. Als wäre der Tänzer gestolpert und würde nun auf der Tanzfläche sitzen. Dann steht er wieder auf und tanzt umso ekstatischer weiter. Gucken ja jetzt sowieso alle.

Geschichten gibt es wenige über die Band. Weder verbreiten die Musiker eine spektakuläre Version ihres Kennenlernens, noch Mythen über Drogenexzesse oder Hotelverwüstungen. Allein die Entstehungsgeschichte von Myth Takes wird wohldosiert der Öffentlichkeit preisgegeben. Für die Aufnahmen hatten die acht Musiker sich gemeinsam ein Haus gemietet, jeden Morgen vor dem Musizieren absolvierten sie gemeinsam Kung Fu-Übungen in Unterhosen. Folglich gibt es auch lustige Werbefotos zur Platte.

Auch auf der Bühne seien !!! großartig. Bei solchen Gelegenheiten werde getanzt, wie sonst nur in der Technodisko, heißt es. Im April kann man das selbst überprüfen, da ist die Band zu vier Konzerten in Deutschland.

„Myth Takes“ von !!! ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Warp/Rough Trade

Hören Sie hier „Heart Of Hearts“

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Würstchen und Kartoffelbrei

Der Engländer Mark E. Smith hat es schwer. Jeder Musiker, den er in seine Band The Fall aufnimmt, erweist sich bald als Verräter, Lügner oder Dummkopf. So gut sein neues Album „Reformation! Post-TLC“ auch klingt, lange wird er es wohl auch mit seiner neuen Band nicht aushalten

Mark E. Smith hat in den vergangenen dreißig Jahren an die neunzig Alben unter dem Namen The Fall veröffentlicht. Großen kommerziellen Erfolg hatte die Band nie. Sie wird von unzähligen Kollegen in Amerika und England geschätzt, vor allem wegen ihrer Kompromisslosigkeit. Der englische Radiomoderator John Peel gehörte zu den größten Verehrern ihres musikalischen Minimalismus.

Eine der liebsten Geschichten über Mark E. Smith ist mir die des englischen Musikers Roger Quigley. Beide wuchsen im selben Stadtteil Manchesters auf, in Salford. Als Quigley anfing, Musik zu machen, war Smith bereits eine Ikone. Quigley erhoffte sich von seinem populären Nachbarn ein wenig Unterstützung für seine damalige Band. Über Wochen habe er regelmäßig an Smiths Tür geläutet, berichtete er. Immer sei Brix, die damalige Frau des Sängers, an die Sprechanlage gegangen, um zu vermelden, ihr Mann esse gerade seine geliebten bangers & mash, Würstchen und Kartoffelbrei, und dürfe unter keinen Umständen gestört werden. Quigley ließ nicht locker: „Ich rief an, klingelte an der Tür, gab ihm Demotapes, terrorisierte ihn. Irgendwann hat es dann geklappt. Leider haben wir uns kurz danach wieder getrennt.“ Mittlerweile schreibt Quigley melancholische Lieder unter seinem eigenen Namen oder werkelt zusammen mit Marc Tranmer als Montgolfier Brothers an minimalmusikalischen Klanglandschaften. Damals spielte er zweimal im Vorprogramm von The Fall und veröffentlichte ein Stück auf einer von Smith herausgegebenen Kompilation.

Mark E. Smith wird sich an all das kaum erinnern können, mit zu vielen Musikern hat er in den vergangenen dreißig Jahren zusammengearbeitet, über kaum einen äußert er sich lobend. Vor einem knappen Jahr entließ er während einer Amerika-Tour seine letzte Band. Der Titel des aktuellen Albums Reformation! Post-TLC ist zum Teil den einstigen Kollegen gewidmet: TLC stünde, das hat er unlängst der Spex verraten, für „traitors, liars and cowards“, gemeint sei damit seine letzte Band.

The Fall sind Mark E. Smith. Smith hingegen ist nicht nur The Fall. Und Smith ist dieser Tage so produktiv wie nie. Im Juni erscheint seine Autobiografie Renegade: The Gospel According to Mark E. Smith. Davor noch wird man ihn an der Seite von Andi Toma und Jan St. Werner von Mouse on Mars unter dem Projektnamen Von Südenfed hören.

Das kompakte Reformation! Post-TLC fügt dem Klangkosmos des schnoddrigen Poeten wenig Neues hinzu. Smiths bellende Fabulierwut zerhackt die Rock’n’Roll-Geschichte, auch mit neuen Musikern klingen The Fall nur nach The Fall. Im Insult Song beschimpft er seine ehemalige Band, die immer diese verdammte „Los Angeles Musik“ gehört habe – „over and over again“. Couch And Horses ist eine Annäherung an den Pop, die sich The Fall zwischendurch leisten können. Das Boat ist ein zehnminütiges Experiment. Smith und The Fall sind in der Gegenwart angekommen. Waren sie jemals weg?

„Reformation! Post-TLC“ von The Fall ist erschienen bei Slogan/Sanctuary

Hören Sie hier den „Insult Song“

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Gospel für Weißbrote

Die kanadische Band Arcade Fire unterlegt frohe Hymnen mit dunkler Lyrik. „Neon Bible“ entstand in einer Kirche. Der Welt gefällt’s.

Kaiser Chiefs

Es ist eine beinahe alltägliche Erfolgsgeschichte in Zeiten des Web 2.0: Im Jahr 2004 erscheint in Kanada das erste Album von Arcade Fire, Funeral, aufgenommen für lächerliche tausend Dollar. Unterstützt von Blogs und Tauschbörsen verbreitet es sich rasch um die ganze Welt. Als es Anfang 2005 in Europa veröffentlicht wird, hat es dort eigentlich schon fast jeder. Heute lassen auch Bruce Springsteen und U2 mitteilen, Fans der Band zu sein. Sasha Frere-Jones wagt im amerikanischen Magazin New Yorker die These, dass sie die Band vielleicht deshalb so schätzten, weil die ihre musikalischen Visionen ohne die Einmischung von Plattenfirmen umsetzen konnte.

Wake Up von Funeral dröhnt vor jedem Spiel der New York Rangers durch den Madison Square Garden. Das hymnische Stück soll die Eishockeyspieler zum Sieg treiben. Offenbar hören sie nicht so genau hin, denn der Text handelt nicht vom Siegen, sondern vom Erwachsenwerden, von der Leere und dem Tod. “Something filled up my heart with nothing, someone told me not to cry. But now that I’m older, my heart’s colder, and I can see that it’s a lie.“ So funktionieren Arcade Fire: In schwelgerischen Hymnen verhandeln sie die ganz großen Gefühle.

Das gilt auch für ihr zweites Album, Neon Bible. Die Sprache klingt alttestamentarisch, unzählige Instrumente sind zu hören. Ein hämmernder Bass gibt Struktur, die Gitarren scheppern optimistisch. Xylophon, Banjo und Akkordeon verleihen der Musik etwas Exzentrisches. Streicher, Bläser und Harfen erzeugen das Gefühl, einer Art Gottesdienst beizuwohnen. Der Sänger Win Butler erscheint mit seiner durchdringenden Stimme wie ein Priester, immer wieder überschlägt sich seine Stimme. Das ist Gospel für Weißbrote. Ganz gleich, welche Tiefen die Lyrik auslotet, die Musik klingt immer froh. Neon Bible wurde in einer Kirche aufgenommen, auf dem Stück Intervention hat die Orgel einen gewaltigen Einsatz. Ein Chor darf da nicht fehlen.

Auf der Platte sind Arcade Fire zu siebt, auf der Bühne zu neunt. Sie lieben das Spektakel. Ihre Auftritte zelebrieren sie als Theater mit Verkleidungen und häufigen Instrumentenwechseln. Sie wollen ihr Publikum unterhalten.
In der von männlichem Selbstmitleid und Größenwahn beherrschten Rockszene sind sie eine Ausnahme. Sie verbinden das Grüblerische mit dem Ekstatischen, schmücken tiefsinnige Gedanken mit prallen Arrangements.

Who among us still believes in choice?“, fragt Butler in Ocean of Noise.

Nada“, antwortet der Chor auf Spanisch: Niemand.

Und das stürmische Stück Antichrist Television Blues brechen sie auf dem Höhepunkt einfach ab.

„Neon Bible“ von den Arcade Fire ist als CD und Doppel-LP erschienen bei City Slang

Hören Sie hier „Intervention“

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Stimmungskekse

Die Kaiser Chiefs aus Leeds spalten die Gemüter. Aber auch ihr zweites Album „Yours Truly, Angry Mob“ steckt voller Hits

Kaiser Chiefs

Die fünf Kaiser Chiefs kennen sich seit ihrer Schulzeit. Zehn Jahre lang waren sie als Musiker glücklos, schlugen sich mit anderer Arbeit durch. Aber sie glaubten an sich. Der Durchbruch kam im Jahr 2005. Seitdem haftet ihnen der unbedingte Erfolgswille als Makel an.

Im Kollegenkreis sind sie unbeliebt. Die Arctic Monkeys verbitten sich unter Androhung des sofortigen Ausstiegs aus dem Musikbusiness jeden Vergleich mit den Kaiser Chiefs: „Sie gehen einem auf den Keks“, befindet ihr Sänger Alex Turner. Für Liam Gallagher von Oasis sind sie „schlechte Blur“ mit einem Faible für Make-up. Sie nehmen es gelassen. Sänger Ricky Wilson erzählte kürzlich in einem Interview, er sei Gallagher zufällig begegnet und habe sich „am Ende fast entschuldigt: Tut mir leid, dass wir scheiße sind!“

In einem Geschäft, in dem die meisten Kollegen den Mund gar nicht weit genug aufreißen können, treten die Kaiser Chiefs kleinkotzig auf. Daheim im Pub erkennen selbst Fans sie nur, wenn sie als Gruppe in ihrer Band-Kleidung unterwegs sind. Und das, obwohl sich ihr erstes Album Employment bislang fast drei Millionen Mal verkaufte.

Ihr zweites Album Yours Truly, Angry Mob wird die Häme nicht verstummen lassen. Die Fünf machen einfach gestrickte, kraftvolle Lieder, verquer gesungene Texte zu treffend beobachteten, englischen Alltäglichkeiten, eingespielt mit mächtigen Gitarrenklängen, tönendem Falsetto-Hintergrund-Gesang und einer unbekümmerten Energie. Die Stimmung steckt an, ob man will oder nicht.

Etliche Hits sind dabei – ob das frischverliebte Ruby, mit dem die BBC vor einigen Tagen ihre Fußballsendung Match of the Day untermalte, die rotzig-selbstironische Hymne Highroyds oder die traurige Upbeat-Nummer Heat Dies Down. Die Kaiser Chiefs sind keine Neuerer und keine Revolutionäre, sie machen Party.

„Yours Truly, Angry Mob“ von den Kaiser Chiefs ist als CD und Doppel-LP erschienen bei B Unique Records/Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Highroyds“

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Spontan gerostet

Do Make Say Think improvisieren große Klanggemälde. Gefühlte sieben Gitarristen, ein stoischer Schlagzeuger und eine Handvoll Bläser tun wie zufällig und machen dabei lebendige Lieder. Gesagt wird wenig, gedacht zu allerletzt.

No Women No Cry Vol. 2

Warum eigentlich gilt instrumentelle Gitarrenmusik als kompliziert? Die Art und Weise, wie Tortoise, Godspeed You! Black Emperor, Mogwai oder Do Make Say Think ihre Musik basteln, rege den Intellekt an, unterhalte aber nicht, wird oft angenommen. Alles Quatsch! Denn nichts ist gefühlvoller als die Improvisation. Solche Stücke entstehen im Bauch, nicht im Kopf. Nachhören kann man das nun auf You, You’re A History In Rust, dem fünften Album von Do Make Say Think aus dem kanadischen Toronto.

Wie der Name schon sagt: Sie tun und machen, ganz selten sagen sie ein bisschen was. Gedacht wird bei ihnen – wenn überhaupt – zuletzt. Ihre Musik ist hier getragen und flächig, dort brüchig und durchscheinend. Sind das Klangwände? Eher Klanggemälde. Die Töne werden mit breiter Borste aufgetragen, in weiten Schwüngen von links unten nach rechts oben, hin und her. Dann die nächste Schicht, das Darunterliegende verschwindet immer mehr, aber nie ganz.

Der Anfang der CD klingt, als hätte der Zufall eine große Rolle gespielt bei den Aufnahmen. Es rauscht, der Schlagzeuger spielt ein paar sanfte Takte auf dem Rand der Snare vor, dann haben die anderen Musiker ihre Instrumente eingestöpselt und gestimmt und fallen ein. Erst ein paar zurückhaltende Akkorde, dann immer forscher. Sie scheinen gemeinsam zu spielen. Aber improvisieren sie wirklich? Es gibt Melodien und Klänge, Gitarrenmuster und Rhythmen, die überdauern ganze Stücke; manche wiederholen sich gar so regelmäßig, dass man sie Refrain nennen möchte. Ist die Musik vielleicht doch durchkomponiert? Schwer zu sagen, und eigentlich auch gleichgültig. Denn You, You’re A History In Rust klingt lebendig, gefühlvoll und spontan.

Die Bilder auf und in der Hülle passen sehr schön dazu, man sieht ein rostiges Klavier und ein beinahe kompostiertes Fahrrad. Die Instrumente surren alt und warm. Am deutlichsten klingen immer und überall die Gitarren und Bässe unterschiedlicher Größe, akustisch und elektrisch, gestreichelt und gedroschen, verzerrt und klar. Die Band besteht – gefühlt – aus mindestens sieben Gitarristen. Außerdem ist da ein stoischer Schlagzeuger, er hält den Takt wohl auch noch, wenn die anderen Musiker längst das Studio verlassen haben. Im Halbdunkel stehen ein paar Bläser, immer mal wieder treten sie ins Scheinwerferlicht und pusten vielstimmig dazwischen, dann ist es besonders laut und mitreißend.

Dieses Album klingt nie schwerfällig, sondern immer so agil wie eine Jahrmarktorgel. Die Musiker überfordern ihre Hörer nicht mit Filigranem und Präzisem. Nie verlieren sie sich im Solieren. Auch aus dem größten Krach – man höre nur die letzten drei von achteinhalb Minuten des Executioner’s Blues – finden sie in eine gemeinsame Melodie zurück. Beim zweiten Stück A With Living erschallt plötzlich mehrstimmiger Gesang. Gab es das schon bei Do Make Say Think? Chorhaftes schon, aber verständliche Stimmen?

Ihre Alben tragen oft lustige Namen, ihr zweites hieß Goodbye Enemy Airship The Landlord Is Dead, ihr drittes & Yet & Yet. Der Titel You, You’re A History In Rust ist scheinbar wahllos zusammengesetzt aus zwei Liedtiteln. Als wollten die Musiker sagen: Denkt gar nicht erst darüber nach, es macht ohnehin keinen Sinn. Hört einfach zu!

„You, You’re A History In Rust“ von Do Make Say Think ist als CD und LP erschienen bei Constellation Records

Hören Sie hier „Executioner’s Blues“

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No Krach-Kunst, Baby!

Über die Jahre (21): Es ist das Jahr 1990. Goo spannt ihrer Schwester den Freund aus. Sie töten gemeinsam ihre Eltern und fliehen. Zum Abschied drückt sie einen pinkfarbenen Kuss an die Wand

Sonic Youth Goo

Eine Pop-Art-Zeichnung ziert die Hülle von Goo: Ein Pärchen mit Sonnenbrillen, er hat seinen Arm lässig auf ihrer Schulter abgelegt, sie raucht. „I stole my sister’s boyfriend. It was all whirlwind, heat, and flash. Within a week we killed my parents and hit the road“, steht daneben. Auf der Rückseite hat das Mädchen namens Goo einen Kuss hinterlassen, einen Abdruck von pinkfarbenem Lippenstift. Die Elemente der Plattenhülle sind mit Tesafilm zusammengeklebt, das kann man noch sehen. Eine schöne Hülle für ein schönes Album, aus einer Zeit, in der noch nicht jede Grafik am Computer produziert wurde. Das Motiv wurde tausendfach auf T-Shirts gedruckt, die Musik durfte Anfang der Neunziger in keiner Indie-Disko fehlen.

In den Liedern von Sonic Youth wechseln sich Lärmwände, experimenteller Krach und feine Melodien ab. Die Stücke auf Goo neigen zur Melodie, jedes einzelne ist ein tanzflächentauglicher Brillant. Damit unterscheidet es sich von vielen ihrer Alben, die mit ihren unvermittelten Lärmexperimenten immer wieder daran erinnern: Dies ist Krach-Kunst, Baby!

Goo war das erste Album, das Sonic Youth bei der großen Plattenfirma Geffen herausbrachten. Lee Ranaldo an der Gitarre, Steve Shelley am Schlagzeug, das Paar Thurston Moore und Kim Gordon singt abwechselnd. Thurston Moores Stimme zur Gitarre ist schön, aber die Lieder, die Kim Gordon singt oder spricht, sind besser: mal sanft, mal nölig, aber immer lässig und eine Spur gelangweilt.

Sie wird Jahr für Jahr attraktiver und zeigt souverän, dass man mit über 40 immer noch ein Punkmädchen sein kann, jenseits aller Klischees. Sie war und ist ein Rollenmodell anderer Art. Statt ihren Körper in den Vordergrund zu rücken, kümmert sie sich um ihren Bass und singt. Körperliches findet nebenbei statt, ihre Sinnlichkeit transportiert sie über den Gesang.

Die New Yorker Band arbeitet seit 1981 im Krach-Werk. Sie kultivierte mit ungestimmten und umgestimmten Gitarren etwas, das bei ihren Vorbildern Iggy & The Stooges und Velvet Underground seinen Anfang nahm. Mittlerweile sind Sonic Youth nicht nur Eltern, sondern auch so etwas wie die großen Geschwister unzähliger Musikhörer und Übungsraummugger. Und immer noch versprühen sie die Coolness des Paares auf der Hülle von Goo.

„Goo“ von Sonic Youth ist im Jahr 1990 bei Geffen/Universal erschienen und kürzlich als Doppel-CD bzw. Vierfach-LP mit ergänzenden Aufnahmen wiederveröffentlicht worden.

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Kool Thing“, das Sonic Youth gemeinsam mit dem Rapper Chuck D von Public Enemy aufgenommen haben

Lesen Sie hier eine Besprechung des letzten Sonic Youth-Albums „Rather Ripped“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Bloß ein Zukünftchen

Muss man das zweite Album einer Band verreißen, die weltweit als Erneuerer des Genres angepriesen wird? Ja, denn Bloc Party lösen das Versprechen leider nicht ein

No Women No Cry Vol. 2

Mit Silent Alarm begann für die britische Band Bloc Party vor zwei Jahren eine Erfolgsgeschichte. Eine Million Exemplare des Albums wurden verkauft, Bloc Party wurden mit Preisen überschüttet. Mit A Weekend In The City versuchen sie nun, das Wunder zu wiederholen. Sie scheitern, wenn auch auf hohem Niveau.

Bereits vor der Veröffentlichung von Silent Alarm sah der New Musical Express in der Band um den schwarzen Sänger Kele Okereke die Zukunft. „The next most important band in rock“, lautete die Titelzeile im englischen Fachblatt des Hoch- und Niederschreibens. Was Bloc Party seinerzeit der Konkurrenz zwischen Glasgow und New York voraushatte, war die Rhythmussektion. Zwar klangen auch bei ihnen einige Vorbilder der Postpunk-Ära mit, doch die Präzision von Schlagzeuger Matt Tong in Kombination mit den vertrackten Bass- und Gitarrenlinien von Gordon Moakes und Russel Lissack ließen die Stücke neu und aufregend klingen.

Nun erscheint Album Nummer zwei. Es möchte wie das erste klingen und doch ganz anders sein. Chorgesänge und stimmliche Extravaganz haben Einzug gehalten. In den Texten wird das Leben des modernen Einzelgängers in den Metropolen rund um den Globus thematisiert: Die Nachwehen des 11. September sind spürbar, die Clubs bersten vor Drogen, und abseits der Tower Bridge herrschen Rassismus und Gewalt.

All das könnte ein interessantes Album ergeben, wäre da nicht die Allerwelts-Produktion von Jacknife Lee. Lee hat mit U2 gearbeitet, und das hört man. Das Gitarrenspiel klingt stadiontauglich, die Kompositionen sind pompös. Im schlimmsten Fall wabern flächige Keyboardschwaden im Hintergrund, im besten Fall weisen elektronische Spielereien auf die Tanzfläche. Nach gerade mal einem Album sind Bloc Party beim Operetten-Rock angekommen: große Gesten, prätentiöse Texte, wuchtige Klanggemälde.

Im Stück Kreuzberg destilliert Okereke seine Verzweiflung: Vom schalen Geschmack nach seelenlosem Sex singt er, von der Liebe und davon, dass irgend etwas sich ändern müsse. Und irgend etwas, das heißt alles. Die Musik kann mit dieser Verve nicht mithalten. Konsensrock ist keine Lösung. Nur hier und da besinnen sich Bloc Party auf ihre Stärken. Erkennbar wird dann, was diese Band einmal ausgemacht hat: Präzision und Klarheit.

Die Schwammigkeit der aktuellen Produktion verwischt den Kern der Stücke. Das Versprechen von der „nächsten wichtigsten Band des Rock“ klingt allerdings in jedem Stück noch an.

„A Weekend In The City“ von Bloc Party ist als CD und LP erschienen bei V2 Records

Hören Sie hier „The Prayer“

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Sid Le Rock: „Keep It Simple, Stupid“ (Ladomat 2006)

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Mut zum Ekel

„Völkerball“ ist eine Reise in die phallisch-morbiden Abgründe des männlichen Daseins. Wie üblich hämmern sich Rammstein auf der Live-DVD augenzwinkernd durch ein stumpfsinniges Gewitter aus Licht und Feuer

Rammstein Voelkerball

Wenn Sänger Till Lindemann auf die Bühne tritt, dann beginnt ein Schauspiel. In volkstümlichen Lederhosen marschiert er auf und ab, die Kampfstiefel kniehoch geschnürt. Sein Gesicht ist schmierig grau, seine Lippen und Augen schwarz geschminkt. Dann spuckt er ein paar Zähne aus und fängt zu singen an. Die Gesten sind groß, die Mimik überzeichnet – wie in alten Stummfilmen. Er spielt den Irren, den Roboter, den Soldaten. Reißt die Augen und den Mund auf, ohrfeigt sich selbst oder schmiegt sich Trost suchend an die schmale Schulter des Keyboarders.

Auf der DVD Völkerball mit Aufnahmen aus Nîmes, London, Tokio und Moskau kann man sehen, wie Rammstein Menschenmassen bewegen: Mit Schweiß, Feuer, Blut, einem Metallgewitter aus Licht und Pyroshow und deutschem Gesang mit rollendem R. Ihre Lieder sind brachial, die Melodien simpel, die Texte behandeln oft Tabuthemen. Ihre bombastische Selbstinszenierung lebt von Morbidität, martialischer Männlichkeit, Pathos und Elementen der faschistischen Gewaltästhetik. Die einprägsame Plattheit ist das Geheimnis ihres Erfolges.

Schon das slowenische Künstlerprojekt Laibach rollte in den frühen achtziger Jahren das R düster. Die Krupps aus Düsseldorf und später Oomph! aus Wolfsburg verbanden harte Düsternis mit metallastigen Gitarren, elektronischen Klängen und provokanten deutschen Texten. Rammstein machten aus diesen Nischenphänomen der Gothic-Szene massenkompatible Popkultur. 1995 waren sie Vorgruppe von Projekt Pitchfork, kurze Zeit später nahm der Regisseur David Lynch zwei Stücke von ihnen als Filmmusik zu Lost Highway. International wurden sie erfolgreich, weil sie so „deutsch“ sind.

Ein Rammstein-Album zu hören, verschafft Unbehagen. Schuld daran sind eher die grässlichen Texte als die Musik. Rammsteins Augenzwinkern kann nur funktionieren, wenn man sie sieht. Die persiflierenden Nuancen ihres teutonischen Auftretens gehen unter, wenn man sie nur hört. Männerhorden, die das Lied Rein, Raus singen und den gebrochenen martialischen Männerkult von Rammstein nicht spiegeln, sind unerträglich. Überhaupt sind es die Massen der Fans, die bei Rammstein das Beängstigende ausmachen. Sie singen alle Texte mit, sind verzückt, rasen, tanzen. Wenn die Menschen in der Arena von Nîmes zu dem Marschlied Links 2 3 4 und Ich will gleichzeitig den rechten Arm zum „bösen“ Metaller-Gruß heben (der Zeigefinger und kleine Finger bilden die Teufelshörner), muss das dem halbwegs abgeklärten Betrachter eine Gänsehaut verschaffen. Wer hätte gedacht, dass Franzosen, Engländer, Japaner, Russen so gut deutsche Lieder singen können?

Langweilig wird einem beim Zusehen nicht, rund 100 Leute arbeiten daran, dass bei Rammstein-Konzerten Stroboskop, Pyrotechnik und Lichtshow zeitlich perfekt auf die Musikstücke abgestimmt den Auftritt zu einem Spektakel machen. Je mehr Feuer verpulvert wird, desto mehr sieht man von den durchtrainierten schweißigen Oberköpern der sechs Herren: Till Lindemann als Hauptdarsteller, Richard Z. Kruspe und Paul Landers an den Gitarren, Oliver Riedel am Bass und Christoph Schneider am Schlagzeug sind die Harten, Keyboarder Christian Lorenz spielt als schlaksiger Komiker mit Brille und Sturzhelm den Gegenpol. Mal macht er einen stokeligen Schuhplattler, mal muss er im dampfenden Riesen-Kochtopf sitzen und von da aus das Keyboard bedienen, bis ihn der Sänger in blutverschmutzter Schürze und Kochmütze mit einem Messer und einem Flammenwerfer aus dem Topf jagt. Mein Teil heißt das Stück und besingt kannibalistische Geschmacksverirrungen. Mut zum Ekel: Lindemann läuft das Blut aus dem Mund, während er den brennenden Keyboarder verfolgt. Frauen kommen bei Rammstein lediglich als Engelschor zum Einsatz oder dürfen als spärlich bekleidete Tänzerinnen zu Moscow Special vor 7000 russischen Fans ihre Hüften wiegen und singen.

Ob die sechs Musiker wissen, was sie da tun, bleibt unklar. Es sind vermutlich Kumpels, die einfach machen wollten, was ihnen Spaß macht, und festgestellt haben, dass man damit viel Geld verdienen kann. In der Dokumentation Anakonda im Netz von Mathilde Bonnefoy sagt der Gitarrist Kruspe: „Das sind so viele Spielereien, die man macht, weil man denkt, dass sie gut aussehen oder dass man irgendwie cool ist. Wahrscheinlich ist das völlig lächerlich.“ Und Till Lindemann: „Ich mag das nicht, wenn ich angeguckt werde, ich vermeide das. Ich suche mir so’n Punkt hinten, meistens den Mann vom Mischpult.“

„Völkerball“ von Rammstein besteht aus CD und DVD und ist in drei Versionen erhältlich bei Universal

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Der nächste Tonträger erscheint am 3. Januar 2007