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Tiefgrün und außerweltlich

Céline Schott hat als Colleen ein Album von seltener Schönheit eingespielt. „Les Ondes Silencieuses“ klingt wie ein verschwommener Traum – oder wie moderne Kammermusik.

Colleen Les Ondes Silencieuses

Aus der Zeit gefallen – wie sonst soll man ein zeitgenössisches Album beschreiben, das sich der Alten Musik zuwendet, ohne den Muff parfümierter Perücken heraufzubeschwören? Die Illustration auf dem Cover zeigt die Musikerin versunken im Spiel. Sie sitzt in einem nächtlichen Zauberwald, um sie herum flattern Schmetterlinge und Vögel. Der Vollmond bescheint die märchenhafte Szenerie, spiegelt sich auf der Oberfläche des Meeres. Das verheißt fantastischen Kitsch, doch Céline Schott geht es um etwas Anderes: Indem sie auf unwirkliche Märchen und Sagen verweist, entzieht sich die Künstlerin jeglicher Kategorisierung. Die neun Stücke ihres instrumentalen Albums klingen so außerweltlich, dass sich der Stil kaum benennen lässt.

Ob New Baroque oder Ambient Folk: Es ist die Musikalität, die Colleens Les Ondes Silencieuses (auf deutsch: die stillen Wasser) zu einer großartigen Platte macht. Auf ihrem Debütalbum Everyone Alive Wants Answers (2003) verdichtete sie Loops und Samples zu Liedminiaturen. In ihren Konzerten setzte Céline Schott auch bevorzugt Instrumente aus der Barockzeit ein, der minimalistische Klang hatte es ihr angetan. Jetzt verzichtet sie ganz auf Elektronik und kommt ihrer Vorstellung von moderner Kammermusik näher.

Das Instrumentarium auf Les Ondes Silencieuses ist reduziert: Viola da Gamba, Spinett, klassische Gitarre und Klarinette. Cécile Schott spielt sie expressionistisch und feingliedrig zugleich, ohne sich in ornamentalem Pastiche zu verlieren. Sie zitiert die polyphone Struktur der Barockmusik – der englische Komponist und Lautenist John Dowland hat sie stark beeindruckt.

In sanften Wellenbewegungen breiten sich Melodiebögen aus, um dann wie ferne Echos zu verhallen. Colleen deutet Motive an und lässt sie wie Gespenster vorüber ziehen. Aufschimmernde Dissonanzen erzeugen eine Spannung zwischen Bewegtheit und geheimnisvoller Stille. Über das Album legt sich eine Melancholie, die von maritimen Bildern inspiriert ist. Doch es sind keine weißen Strände, die Cécile Schott in Stücken wie Echoes And Coral oder Sea Of Tranquility aufsucht, sondern verlassene Buchten und tiefgrüne Seen – Les Ondes Silencieuses schillert wie ein Schatz auf dem Grund.

„Les Ondes Silencieuses“ von Colleen ist bei The Leaf Label/Indigo erschienen.


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Transatlantische Ménage

„Jazz in Paris: The 100’s Most Beautiful Melodies“ fasst sechs Jahrzehnte franko-amerikanischer Musik auf fünf CDs zusammen.

Jazz In Paris

Dass das pulsierende New York das romantische Paris nach dem Zweiten Weltkrieg als Kunst- und Kulturhauptstadt der Welt ablösen würde, hatte sich das in einem Bereich schon lange abgezeichnet, nämlich im Klang der Moderne: dem Jazz. Ernest Hemingway und Man Ray, Aaron Copland und George Gershwin kamen in den zwanziger und dreißiger Jahren noch, um sich von Paris’ künstlerischer Atmosphäre anstecken zu lassen und von der alten Welt zu lernen. Amerikanische Jazz-Musiker traten da in Frankreich bereits als Botschafter des modernen Klangs auf.

Die Musik aus der neuen Welt wurde in Paris begeistert aufgenommen, die Debatte zwischen Anhängern des traditionellen Hot Jazz und des revolutionären Bebop leidenschaftlich geführt. Paris war der europäische Jazz-Brückenkopf. Die Jazzer galten als Künstler, nicht als Unterhalter. Schwarze Musiker konnten hier etwas angenehmer leben. Mancher – wie der Schlagzeuger Kenny Clarke – siedelte gleich für immer über. Es ist kein Zufall, dass einer der besten Jazz-Spielfilme, Bertrand Taverniers ’Round Midnight aus dem Jahr 1986, an der Seine spielt.

Um das franko-amerikanische Jazz-Erbe machen sich seit einiger Zeit das Label Emarcy und der Zigarettenhersteller Gitanes verdient. In der Reihe Jazz in Paris sind in den letzten Jahren über einhundert CDs erschienen. Sie dokumentieren in hervorragender Klangqualität einerseits Konzerte und Studioeinspielungen amerikanischer Solisten und Gruppen auf der Durchreise. Andererseits erinnern sie an französische Jazzmusiker wie Django Reinhardt (Gitarre), Stéphane Grappelli (Violine), René Urtreger (Piano) oder Pierre Michelot (Kontrabass).

Im Jahr 2005 erschien eine opulent ausgestattete, thematisch und chronologisch sortierte Sammlung aus vier Boxen mit insgesamt zwölf CDs. Jazz In Paris: The 100’s Most Beautiful Melodies ist nun die Sparversion dieses Samplers, erhältlich für unter dreißig Euro. Fünf CDs sind drin, von dem kitschigen Untertitel sollte man sich nicht abschrecken lassen.

Das Begleitbüchlein zur CD ist dünn ausgefallen, die abgedruckten Fotos zeigen Klischees, und die Reihenfolge der Stücke erscheint wahllos. Musikalisch ist die Zusammenstellung jedoch gelungen, sie vermittelt einen Eindruck der Vielseitigkeit und der Atmosphäre der transatlantischen Musik-ménage, die in den fünfziger Jahren ihren Höhepunkt erlebte. Jazz klang damals noch eine Spur rätselhafter und wehmütiger.

Neben bekannteren Aufnahmen von Miles Davis (ein Ausschnitt aus der Filmmusik zu Fahrstuhl zum Schafott von Louis Malle), Louis Armstrong oder Dizzy Gillespie findet man Seltengehörtes. Art Blakeys Jazz Messengers verneigten sich im Jahr 1958 mit dem coolen Des femmes disparaissent vor der französischen Hauptsstadt. Daneben funkeln Juwelen französischer Jazzer, die sich neugierig in die neuen Klang- und Rhythmuswelten stürzten.

Die 5-CD-Box „Jazz In Paris: The 100’s Most Beautiful Melodies“ ist erschienen bei Emarcy/Verve.

Bei über einhundert Stücken aus sechs Jahrzehnten ist es unmöglich, ein typisches Klangbeispiel zu finden. Daher bekommen Sie hier das traurigste zu hören. Der Tenorsaxofonist Lester Young spielt im März 1959 mit einer französisch-amerikanischen Kombo „I Can’t Get Started“ ein. Es war Youngs letzter Parisbesuch. Kurz nach seiner Rückkehr starb er in New York.

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Kurz vorm Umkippen

Common rappt auf „Finding Forever“ zu den Liedern von Kanye West. So klingt gute Popmusik, gebastelt mit den Werkzeugen eines HipHoppers.

Common Finding Forever

Ein ungeschriebenes Gesetz des Plattenerwerbs besagt, dass man sich auf das Cover verlassen kann. Spricht es den Betrachter an, ist die Musik gut. Bei dem amerikanischen Rapper Common hat diese Regel immer gegriffen. Die Gestaltung seiner Platten spiegelte immer die Stimmung der Musik wider. Man sah Like Water For Chocolate und Be die beseelten Geschichten an und Electric Circus seine Zerfahrenheit. Ein Airbrush-Motiv mit esoterischen Schnörkeln illustriert Commons neues Werk Finding Forever. Er lächelt dem Käufer milde entgegen und sieht dabei aus wie ein Lehrmeister der Panflöte und des Tantra. Das Bild ist schäbig, keine Kreissparkasse der Welt würde damit ihr Foyer schmücken. Ist das Album deshalb schlecht?

Glücklicherweise nicht! Finding Forever ist solide, bisweilen großartig. Commons Stimme legt sich sanft über die melodiösen Kompositionen des Produzenten Kanye West. Die Musik klingt neu und vertraut, wie gute Popmusik eben, gebastelt mit den Werkzeugen eines HipHoppers. Bei dem Stück The People funktioniert das so: Eine Synthesizer-Linie karamellisiert, markige Gitarren ziehen Fäden, das Sample einer Stimme spielt sich immer wieder in den Vordergrund. Dazu gibt es einen drängenden Rhythmus und Commons wahnsinnige Stimme. Er bricht seit Jahren mit dem Klischee des harten Rappers. Seine Texte stellen immer das Bewusstsein über den Konsum. In seiner Musik schwingt der Soul der sechziger Jahre.

Kanye West hat die meisten Stücke geschrieben. Ein elegantes Stück Flirtmusik kommt von Will.i.am. Sein I Want You entschädigt für viele Banalitäten, die er mit seiner Band Black Eyed Peas verzapft hat. Auch Commons verstorbenem Mitbewohner J Dilla wird gehuldigt, der Beat zu So Far To Go kommt von dessen Album Donuts.

Common nahm die Stücke in Neuseeland, Berlin, Honolulu, Los Angeles, Prag, New York und Melbourne auf. Dafür klingt das Album erstaunlich konsistent. Manchmal steuert Common haarscharf am Kitsch entlang. Das Klavier klingt dann, als streichelte Richard Clayderman die Tasten. Mit dem Kitsch auf dem Album ist es wie mit Milch, die kurz vor dem Umkippen ist – sie schmeckt gerade noch.

„Finding Forever“ von Common ist erschienen bei Geffen/Universal

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Die Platte springt nicht

Die Lieder von The Sea & Cake sind glatt und elegant, ein bisschen fröhlich und ein bisschen melancholisch. So könnte Musik klingen, wenn immer und überall Musik wäre.

The Sea And Cake Everybody

In dem deutschen Spielfilm Absolute Giganten wünscht sich die Hauptfigur Floyd an einer Stelle, „Es müsste immer Musik da sein, bei allem, was du machst.“ Im Hintergrund leiert Reprise, ein melancholisches Instrumentalstück der Band Sophia. „Und an der Stelle, wo es am allerschönsten ist, müsste die Platte springen und du hörst immer nur diesen einen Moment“, fährt Floyd fort. Doch die Platte springt nicht, das Stück ist nach anderthalb Minuten vorbei.

Die Musik von The Sea & Cake aus Chicago hätte gut an diese Stelle gepasst. Ihre Lieder sind elegant, ein bisschen fröhlich und melancholisch. Die Töne und Rhythmen fließen, sie passen immer. Sie können einfach nebenbei säuseln, zum Spülen oder Aufräumen. Man kann ihnen genausogut aufmerksam zuhören, abends im Bett, bei einer Flasche Rotwein, mit Kopfhörern. So könnte es klingen, wenn immer und überall Musik wäre.

Vor einigen Jahren war die Musikszene Chicagos plötzlich in aller Munde. Die Musik von Bands wie Tortoise, Isotope 217, Pullman, dem Chicago Underground Orchestra und eben The Sea & Cake wurde unter der Bezeichnung Post-Rock bekannt. Sie spielten Rock- und Popmusik, stark beeinflusst vom Jazz, von Minimal-Music und manchmal von Folk und HipHop. Bei WOM in Hamburg wurde ein eigenes Fach „Chicago“ eröffnet. Auch viele deutsche und britische Bands fanden sich dort.

Damals waren The Sea & Cake mit Tortoise auf Tour, das waren seltsame Konzerte. Hier die Kompositionen der Instrumentalkünstler von Tortoise, lauter ausgefallene Takte und Instrumente, zerbröselte Rhythmen und Melodien. Und dort die feinsinningen The Sea & Cake, ihre lockerflockigen Gesangslinien und Gitarrenmuster. Tortoise spielten keinen Takt zweimal, The Sea & Cake den einen Takt immer wieder. Der Schlagzeuger John McEntire stand jeden Abend zweimal auf der Bühne.

The Sea & Cake gibt es seit 1993, Everybody ist ihre siebte Platte. Auf der letzten, One Bedroom, hatten sie vor vier Jahren die Glattheit ein wenig übertrieben. Ihre Lieder klangen seelenlos, das Album gipfelte in einer schillernden Coverversion von David Bowies Sound And Vision. Danach nahm der Sänger Sam Prekop ein Soloalbum auf und reiste als Fotograf durch die Welt, der Schlagzeuger John McEntire nahm mit seiner anderen Band Tortoise und Bonnie „Prince“ Billy ein rumpeliges Coveralbum auf.

Everybody klingt so, als spiele die Band wieder zusammen. Die Kompositionen stehen im Mittelpunkt, nicht die verspielte Instrumentierung. Die Lieder klingen direkter, große Teile des Albums wurden live aufgenommen, Overdubs kommen selten zum Einsatz. Zum ersten Mal wurde ein Album der Band nicht von John McEntire produziert.

Man ist versucht, diese Musik in Metaphern zu beschreiben. Übertreiben wir mal ein bisschen: Wie Eisblumen am Fenster entfalten sich die von Sam Prekop mit wachsweicher Kopfstimme gehauchten Melodien. Wie Schönwetterwolken ziehen die Gitarrenmuster am hellblauen Himmel. Wie Lava brodelt der Bass. Und das Schlagzeug… Ach, lassen wir das.

„Everybody“ von The Sea & Cake ist als CD und LP bei Thrill Jockey erschienen.

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Jünger des goldenen Rüssels

Im vergangenen Jahr löste der Saxofonist David S. Ware sein Quartett auf, es bekam kaum Angebote. „Renunciation“ ist ein Mitschnitt des letzten Konzerts.

David Ware Renunciation

Der Elefantengott Ganesha steht im Hinduismus für den Schutz des Hauses. Seit 30 Jahren beschäftigt sich der amerikanische Saxofonist David S. Ware mit der Mythologie der Gottheit. Sie herrscht über Poesie, Musik und Wissenschaft und ist das Symbol für Weisheit und Intelligenz, den Schutz bei Veränderung und Glück für den Weg. Auf der Hülle von David S. Wares im Jahr 2005 erschienener 3-CD-Box Live In The World war der Rüssel des Ganesha abgebildet, er sah wie ein goldenes Saxofon aus. Auch in den Anmerkungen zu seiner neuen CD Renunciation preist er den Elefantengott. Er könnte den Schutz gut gebrauchen, derzeit läuft es für den Musiker nicht rund.

Beim New Yorker Vision Festival im Sommer 2006 kündigte er an, der Auftritt sei der letzte seiner Band. Mit dem David S. Ware Quartet – neben ihm der Pianist Matthew Shipp, der Bassist William Parker und wechselnde Schlagzeuger – spielte er 18 Jahre lang zusammen, mit ihm war er bekannt geworden. Nun sollte Schluss sein. Aufgeregt und enttäuscht reagierten das Publikum und die Kritiker. Die neue CD Renunciation ist ein Mitschnitt dieses letzten Konzerts des Quartetts.

Zwei Menschen verdankt David S. Ware, dass er überhaupt bekannt wurde: seiner französischen Managerin Anne Dumas und dem Saxofonisten Branford Marsalis. Marsalis entdeckte ihn und vermittelte ihm im Jahr 1997 einen Vertrag mit dem großen Label Columbia. Zwei CDs und knapp drei Jahre später war Schluss, nicht nur für David S. Ware, auch Marsalis wurde als Talentsucher bei Columbia gefeuert. Anne Dumas verhalf dem Quartett in dieser Situation zu Auftritten in Europa, in seinem Heimatland gab es keine Angebote mehr.

Schon während seiner Zeit bei Columbia trat David S. Ware selten auf. Wenn er erst mal einen großen Plattenvertrag habe, würde sich alles ändern, hätten ihm die Manager damals gesagt. Es ginge nicht um die Musik, lamentiert er, die Manager reagierten nur, wenn sie Dollars ahnten. Müßig zu entscheiden, ob er frustriert oder realistisch ist. In die gängigen Jazzclubs passt David S. Ware nicht. Es stört ihn, wenn die Leute während seiner Konzerte trinken und essen und wenn sie sich unterhalten. Man spürt diese Haltung in seiner Musik, man liest sie in den Begleittexten seiner Alben.

David S. Ware löste sein Quartett auf, weil es in den Vereinigten Staaten keine Angebote mehr bekam. Er wolle die langjährige Arbeit nicht schmälern, schreibt er zu Renunciation. Das letzte gemeinsame Konzert sei vor allem als Kritik an den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten zu verstehen. Ware fordert bessere Arbeitsbedingungen für Kreative, er weiß, dass nur etwas passiert, wenn Menschen, die die Musik lieben, sich für sie einsetzen.

Seine Musik ist wie ein Gebet – beschwörend, kraftvoll, tief, hymnisch. Es geht ihm um Bewusstsein und Wertesysteme, um die Fragen, wie man sich und die Welt wahrnimmt und wofür man lebt. Er brauche nicht viel zum Glück, sagt er. Wundervolle Musik machen, die Tiefe hat und doch schwebt, darum ginge es ihm. Er ist sich sicher, dass Ganesha ihn dabei unterstützen wird.

„Renunciation“ von David S. Ware ist erschienen bei AUM.

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Von Etta bis Übermorgen

Willkommen zur Geschichtsstunde: Hot Chip legen für die Reihe „DJ Kicks“ ihre Lieblingslieder auf die Plattenteller.

Hot Chip DJ Kicks

Ist es nicht aufregend von seinem Schwarm eine Mixkassette zu bekommen? Er wählt seine Lieblingsstücke aus und zeigt sich und seine Gefühle, das ist sehr persönlich. Natürlich geht er ein hohes Risiko ein. Man stelle sich vor: Der Angebetete überreicht unsicher das handbeschriftete Teil, man wartet gespannt, zelebriert den Moment des Anhörens und spult dann von einem peinlichen Lied zum nächsten. Der Zauber ist verflogen, der Schwarm Vergangenheit.

Die Indiepopper des letzten Jahres, Hot Chip aus London, geben einen solchen Einblick in ihre Herzen. Für das Berliner Tanzmusiklabel !K7 haben sie die 28. Folge der DJ Kicks zusammengestellt. Sie machen das gut, zum Glück, man kann also weiter für sie schwärmen.

In der Reihe sind in den vergangenen 12 Jahren viele Alben erschienen, die das Zeug zur Lieblingsplatte haben. Ob Kruder & Dorfmeister oder Erlend Øye, Andrea Parker oder Four Tet, immer wieder gruben die Künstler außergewöhnliche Stücke und Bands aus. Eine gute DJ Kicks-Platte führt den Hörer in ihm unbekannte Gefilde und gewährt neue Blicke auf die Kompilierenden. Ihre musikalische Sozialisation, ihre Vorlieben und natürlich auch Peinlichkeiten treten zu Tage. Oft ist die Auswahl der Stile überraschend, weit weg von der eigenen Musik.

So auch bei Hot Chip. Beinahe schizophren geht es zu. Die 24 Stücke weisen in alle Richtungen, nur an ihr eigenes Hitalbum The Warning aus dem Jahr 2006 erinnert beinahe nichts. Hier ein bisschen Old School HipHop, Soul und Pop, dort Minimal-Produktionen der Franzosen Nôze und Audion, gemischt in Film 2 von Grauzone. Plötzlich ein paar Breaks, dann wieder verträumter Gesang. Auch die Technoproduzenten Gabriel Ananda und Dominik Eulberg kommen hier unter und laden zum nachmittäglichen Tanz im Wohnzimmer ein.

Doch der Tanz stockt, man reißt die Augen auf. Kaum ein Stück wird ausgespielt und der Mix ist nicht sonderlich engagiert. Hot Chips DJ Kicks klingt halbherzig, so als legten sie es nur drauf an, Unpassendes zu mischen. Weder wollen die fünf Musiker beweisen, dass sie mixen können, noch taugt die CD als Geschenk an Tänzer, die in ekstatischen Bewegungen die Welt vergessen wollen. Vielmehr halten Hot Chip eine kleine Musikgeschichtsstunde ab, bei Etta James und Ray Charles fangen sie an, über New Order und Joe Jackson landen sie in der Gegenwart, bei dem Produzenten Marek Bois, auch bekannt als Daypak. In der Mitte der CD wagen sie mit My Piano einen Blick in die Zukunft, auf ihr im kommenden Jahr erscheinendes drittes Album.

Hot Chip stellen auf DJ Kicks ihre Lieblingslieder zusammen. In einem Internetforum schreibt jemand: „Scheißgeile Platte, scheißmieses Mixing“. Eine richtige Mixkassette also, schließlich geht es dabei nicht um DJ-Künste und immer ein wenig mehr um einen selbst als um den Beschenkten und seine Bedürfnisse.

„DJ Kicks“ von Hot Chip ist erschienen bei !K7

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Das Leben, was sonst!

In asturischer Sprache singt die spanische Band MUS ergreifende Melodien. Als ließe sie die Zeit einfach los.

MUS La Vida

Eine Fliege krabbelt an der Fensterscheibe. Es sieht aus, als verfolge sie ein Ziel, doch sie erreicht es nie. Irgendwann kommt für den Betrachter der Moment der Entscheidung: Macht einen ihre scheinbar sinnlose Suche nervös – oder gerät man in einen Zustand euphorischer Gelassenheit, als dehnten sich Augenblicke ins Endlose?

Ähnliches geschieht bei der Beobachtung eines Wasservogels am sommerlichen Badesee. Der Haubentaucher verschwindet unter der Wasseroberfläche, und während man nicht weiß, wann und wo er wieder auftaucht, zerrinnt die Zeit. Glücklich, wer sie einfach loslässt!

Dieses Glück des Loslassens vermitteln die zwölf Lieder der hierzulande vollkommen unbekannten Band MUS aus Spanien. Auf kleinen internationalen Labels haben sie bereits acht Platten herausgebracht, ihr neuntes Album heißt La Vida. Das Leben, was sonst! Direkt und schlicht sind die Lieder instrumentiert. Akustische Gitarren, Flöte, Geige, Schlagzeug sind im Stil klassischer Folkballaden arrangiert, auch mal mit mehr Orchestereinsatz oder im vollen Klang einer Rockband.

Und dann diese samtene Stimme der Sängerin Monica Vacas. Sie singt, als sänge sie nicht für uns, sondern für die Fliege an der Scheibe, den Haubentaucher am See. Sie singt in einer sehr alten romanischen Sprache, die nur noch in einigen Winkeln der Region Asturien im Norden Spaniens gesprochen wird.

Völlig falsch liegt, wer da Klischees von Latinofeuer im Kopf hat. Monica Vacas schwebt durch die melancholischen Melodien, sie betont und dehnt die Vokale wie ihre britischen Indiepop-Kolleginnen. Es klingt, als sängen die Mädels von Belle & Sebastian und Stereolab plötzlich mit fremden Zungen – zauberhaft!

Wie ein sanfter Wellengang liegen die Akkorde und getupften Töne des Komponisten Fran Gayo unter ihrer Stimme. Das ein oder andere Volks- oder Kinderliedmotiv mag Pate gestanden haben, im Refrain „Ay, ay, ay“ des Liedes Animas Del Purgatoriu, im ersten Stück der Platte, Per Tierres Baxes.

Monica Vacas und Fran Gayo sind das Herz von MUS. Auf der Website der Platenfirma sieht man ein Foto von ihnen, das erinnert an Juliette Greco und Georges Moustaki in jungen Jahren oder an das Paar Abi & Esther Ofarim. Das passt zu dem kleinen Label Green Ufos, denn hier passt nichts zueinander. Die neue Platte der Glam-Folk-Hop-Schwestern CocoRosie ist in ihrem Programm, ebenso die Achtziger-Jahre-Revue der Elektronikveteranen Piano Magic; neben herrlich abstrusem Fantasy-Computerkitsch von Southern Arts Society hat Tom Verlaine ein Zuhause für sein Alterswerk gefunden.

Und MUS, sie haben mit La Vida Marcel Prousts verlorene Zeit wiedergefunden.

„La Vida“ von MUS ist bei Green Ufos/Hausmusik erschienen.

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Hüter des Feuerchens

Lässig schüren A Certain Frank die elektronische Glut an der Wiege von Philosophie und Pop.

A Certain Frank

Bei Düsseldorf wurde nicht nur dereinst unser Neandertaler Vorfahre gefunden, es lebt und arbeitet dort auch ein Urgestein rheinischer Pop- und Elektronikmusik. Frank Fenstermacher und Kurt Dahlke sind nur ein winziges bisschen weniger berühmt als der Höhlenmensch, in Popmusikepochen gerechnet sind sie schon urig lange wohlbekannt. In den achtziger Jahren würzten sie mit der Gruppe Der Plan und ihren grotesken Mitsinghits die Neue Deutsche Welle. Zudem riefen sie die Bands Fehlfarben und DAF ins Leben und gründeten ihr eigenes Label ata tak. Als Krönung ihrer Musikerfreundschaft bilden sie schließlich das Elektronik-Duo A Certain Frank.

Kurt Dahlke nennt sich dann Pyrolator – ihrer neuen CD nowhere liegt, im Transparentplastik der Hülle gut sichtbar eingeschlossen, ein Streichholz bei! Mach Feuer, alter Freund! Lass die entspannten Grooves und exotischen Klänge warm leuchten, diese modernen, aber niemals modischen Melodien. Denn was bei A Certain Frank wie Lounge-Musik zum Nebenbeihören klingt, kommt in Wirklichkeit aus tiefen Höhlen, von nowhere ist es now here, wie man den Album-Titel auch lesen kann.

Aus dem Nirgendwo ins Hier und Jetzt scheint auch Frank Fenstermachers Stimme zu tönen, wenn er seine Wortspiele wie im ersten Song L‘argent in eine karge, rauh gemurmelte Gesangslyrik verpackt. Das Französische zieht sich sparsam als Signalfarbe der Aufklärung durch Kurt Dahlkes schwelgerische Synthesizermalerei und die aus dem Computer gezauberte Exotik. Wie an einem Streichholz entzünden sich am Wohlklang kleine schrille Funken, melodische Ausrutscher auf dem Weg zur Disharmonie, kurz vorher abgefangen von weichen animalischen Rhythmen. Hier ein etwas zu scharfes Gitarrenschnarren, dort ein übersteuertes Dröhnen oder Pfeifen, überwuchert von Pianolianen, gebannt von Rumbarasseln.

Eine der Höhlen im Urwald heißt trancelingen. Technoides Geschepper weist den Weg, unten drunter wummert es fast wie aus dem Hause Basic Channel. Vorlaut schnattern die Bläser, die frechen Äffchen. Mal nimmt Frank Fenstermachers Saxofon den D-Zug durchs fremd knisternde Idyll, mal bringt es den von den vorigen Platten bekannten jazzigen Chillfaktor. Auch der ist nicht ohne – wer je als DJ die anonyme Abendgesellschaft mit Stücken von noendofno, nobody? no! oder nothing beschallt hat, weiß, welches Maß an nervöser Aufmerksamkeit sogar Kenner zur Nachfrage ans Discopult treibt.

Ein solches Geheimversprechen gibt auch das Stück the earth is round. Die im Refrain stetig wiederholte, ja recht simple naturwissenschaftliche Erkenntnis verhallt im Nebel der Vibraphonechos und verzerrt quäkender Kazoolaute. Daraus entsteigt mit zweigeschlechtlich anmutendem Tarzansingsang eine neue Dschungelgottheit. Auf verschlungenen Loops und elastisch federnden Dub-Beats tanzt sie durch die nächsten Stücke bis in den Himalaya.

Flockig versprengen Geräusche und Melodien ihren Esprit und wirbeln dabei immer wieder Elementares auf, wie im letzten Stück Wald. Von dort flüstern A Certain Frank synästhetisch mit dem Holzmotiv auf der CD-Scheibe, einer Nachbildung des ersten hierzulande gefundenen Holzrades aus dem 11. Jahrhundert vor Christus. Doch alles historisch Schwerwiegende wird hier so verführerisch zur leichten Muse, als sei Platons Höhle mit einer schicken Fototapete ausgekleidet, bambusgrün leuchtend wie der CD-Hintergrund. In Sokrates Becher lockt ein exotischer Cocktail, und als jüngste Gäste im Höhlenpop-Ambiente machen die französischen Dekonstruktivisten Small Talk und wippen dazu mit den Füßen.

„nowhere“ von A Certain Frank ist als LP und CD erschienen bei ata tak

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