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Antisemitismus? Gibt es nicht!

Antisemitismus wird in Deutschland beschönigt: als Satire oder Israelkritik. Dass die Dokumentation „Ausgewählt und Ausgegrenzt“ nicht gezeigt wird, hat andere Gründe.

Antisemitismus: Eine Doku über etwas, das es nicht gibt?
© Amir Cohen/Reuters

Vergangene Woche gab es Aufruhr im Internet. Überall sah ich Links zu Artikeln, in denen vom Verbot eines Films über Antisemitismus in Europa geschrieben wurde. Dienstag konnte man die Dokumentation dann für 24 Stunden auf bild.de sehen. Auch mein erster Impuls war: Ja, klar! Weil es keinen Antisemitismus geben darf, gibt es auch keinen. Nirgendwo! Deswegen muss ein Film, der diesen zeigt, auch aus dem Weg geschafft werden. Mit allen Mitteln. Und das wiederum würde ein weiterer Beweis für, genau, Antisemitismus sein. Weiter„Antisemitismus? Gibt es nicht!“

 

Britisches Theater, dritter Akt

Die vorgezogenen Parlamentswahlen waren eine gute Idee von Theresa May. Das Ergebnis zeigt, dass viele Briten den Brexit immer noch verarbeiten müssen.

© Justin Tallis/AFP/Getty Images

Das englische Sommerwetter ist gleichmäßig. Es ist grau. „English summers take their identity from the stretches of grey on either side. Days of sunshine and warmth do not come as standard but as gifts to be honoured and rejoiced in.“ Das schreibt Alexandra Harris in ihrem Buch Weatherland, einem britischen Bestseller aus dem Jahr 2015. Die Vergänglichkeit dieser Tage, so Harris, erzeuge sowohl die britische Begeisterung über alles Sommerliche als auch den Druck und die Enttäuschungen, die diese Wochen gern mit sich brächten. Weiter„Britisches Theater, dritter Akt“

 

Meine Russlandgefühle

Denke ich an Russland, möchte ich schreien. Auch nach meinem vierten Besuch verstehe ich es nicht. Aber ich bin ihm haltlos zugeneigt. Ein Reisebericht

Sibirische Landschaft (© Alex Kotomanov/Unsplash)

Meine kleine, schöne Erfahrung mit Russland ist, dass ich jedes Mal erstaunlich glücklich dort bin.

Selbstverständlich bin ich jede Sekunde völlig unglücklich in Russland, auf die elementarste Weise verloren, genervt, wenn etwas nicht klappt, entsetzt über den Zustand der russischen Seele – von den Millionen Toten, die überall im Lande herumgeistern und noch immer keine Bleibe gefunden haben, ganz zu schweigen.

Und doch (oder vielleicht auch deshalb): Am Ende kommt immer eine einfältige Art Glück oder Rührung dabei heraus, wobei ich mich frage, ob es sich hierbei um eine private Blödigkeit handelt oder etwas, das mit mir nur am Rande zu tun hat, weil es von weiter her kommt, aus der Tiefe des geschichtlichen Raums, sagen wir mal, der Tatsache, dass es die göttliche Musik von Schostakowitsch und Strawinsky gibt, die nicht weniger göttlichen Bücher von Tschechow und Dostojewski und Gogol, um nur diese zu nennen; sie alle haben die russischen Paradoxien und Verhängnisse ja trefflich beschrieben und gelebt. Weiter„Meine Russlandgefühle“

 

Der Mythos vom Kampf der Unterdrückten

Polens emotionale Spaltung begann spätestens 1989. Der aktuelle Rechtsruck der Gesellschaft zeigt, wie viele Menschen sich als Opfer der Demokratisierung verstehen.

© Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Vor einigen Monaten hat ein Vorgang in Polen unter der 2015 gewählten Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) meine Aufmerksamkeit geweckt. Es war nämlich durch die autokratisch regierende Partei die Richterin Julia Przyłębska zur neuen Präsidentin des Verfassungsgerichts ernannt worden. Dieser Vorgang erschien mir nicht nur deshalb beachtenswert, weil das Verfassungsgericht dadurch – nachdem schon zuvor mehrere Richter durch PiS-nahe Kandidaten ausgetauscht worden waren – endgültig seiner Unabhängigkeit beraubt wurde. Besonders bemerkenswert fand ich bei dieser jüngsten Entwicklung die ernannte Person selbst. Weiter„Der Mythos vom Kampf der Unterdrückten“

 

Heimat ist ein Gefühl

Ist Heimat ein Haus, ein Ort, ein Land? Muss das Zuhause in der Heimat liegen? Darf die Heimat einem fremd sein? Auf jeden Fall gilt: Heimat braucht keine Definition.

Heimat ist ein Gefühl
Nikita Velikanin/Unsplash (https://unsplash.com/photos/wTCVpReyPBU)

Heimat ist schwarz-weiß, und sie ist grau, aber sie ist nicht dieses Grau, das aus der Mischung von Schwarz und Weiß entsteht. Sie ist subjektiv, sie ist die meine, und sie braucht keine Definition, weil sie kein Begriff ist; sie ist ein Gefühl. Das Schwarz-Weiß ist die Birkenrinde, ein schlechtes Klischee, das die russische Seele zu erzählen versucht. Das Grau ist das der Beton-Hochhäuser, ein Symbolbild der inhumanen Städteplanung im Osten. Um die Bedeutung dieser Bilder weiß ich, aber ich fühle sie nicht. Weiter„Heimat ist ein Gefühl“

 

Pünktlich zur Spargelzeit wieder alles in Butter

Aufatmen allerorten: Die AfD doch nur ein Scheinriese, der Rechtsruck doch nicht so arg. Täuschen wir uns nicht. Es ist viel zu tun, um den völkischen Spuk zu beenden.

Rechtsruck: Pünktlich zur Spargelzeit wieder alles in Butter
© Roland Weihrauch/dpa

Spargelzeit 2017: Deutschland kehrt zur Normalität zurück. Will sagen, eine teils verkappt, teils unverhohlen rechtsextreme Partei ist nun ins zwölfte und dreizehnte Länderparlament eingezogen, aber alle sind beruhigt, weil es schlimmer hätte kommen können. Weiter„Pünktlich zur Spargelzeit wieder alles in Butter“

 

Ein Eis ist ein Eis ist ein Eis

Funktionalität war gestern. Schönheit vorgestern. Unser Autor schwört stattdessen auf selbstreferenzielles Design. Die, nun ja, apartesten Stücke hat er gesammelt.

© Jochen Schmidt

Erst durch meine Digitalkamera habe ich die Gewohnheit angenommen, ständig zu fotografieren, es kostet ja nichts. Ich sammle schöne Lüftungsschächte, traurige Tischtennisplatten, einzelne Handschuhe, Darstellungen des Sputniks, schlechte Wortspiele aus der Werbung, unfreiwillig komische Skulpturen im öffentlichen Raum, hässliche Kunst über Hotelbetten, Fotos von Regalen in Buchläden und Bibliotheken, in denen bei „Schmidt“ kein Buch von mir steht. Weiter„Ein Eis ist ein Eis ist ein Eis“

 

Ich wurde zum Meer

Flucht bedeutet auch den Verlust der Sprache. In dem Projekt „Weiter Schreiben“ treffen sich geflüchtete und deutsche Autoren. Text wird übersetzt, Horizont geöffnet.

"Weiter Schreiben": Ich wurde zum Meer
© Sandra Weller

Goldene Flächen, in einer Reihe, abends. Die Fenster neben den Kränen werfen Sonnenlicht zurück. Es ist 19 Uhr. Hier oben endet Berlin am Horizont. Vor den Menschen, die sich an der Brüstung dieser Dachterrasse im 16. Stock eines Hochhauses an der Grenze von Kreuzberg zu Mitte anlehnen, liegt die Stadt ausgebreitet wie eine zufällige Sammlung Stahl, Beton und Asphalt unter einem von Kondensstreifen durchkreuzten Himmel. Es ist fast Sommer, Mai, 28 Grad. Ich sitze jetzt einsam / am runden Tisch / ich sitze rund / um mich selbst herum / gleiche jetzt einem Tisch, an dem niemand sitzt / sitze jetzt / irgendwie / rieche nach Tabak / und Verlust. Das Gebäude ist ein Asylbewerberheim. Die Terrasse gehört zur Bibliothek Baynetna. Weiter„Ich wurde zum Meer“

 

Amerika als T-Shirt

Ist es immer nur rechts gegen links? Wer verstehen will, wie Amerikaner denken, sollte sich ihre T-Shirt-Slogans ansehen. In Iowa findet man besonders schöne Exemplare.

© Jason Reed/REUTERS

SORRY ABOUT BETSY DEVOS, AMERICA NEEDS LESBIAN FARMERS, JUST ANOTHER SLUT ON BIRTH CONTROL. Betsy DeVos ist bekanntermaßen die frischgebackene Bildungsministerin der Vereinigten Staaten, und eines ihrer proklamierten Ziele ist es, die Förderung staatlicher Schulen abzuschaffen. Dass Amerika mehr lesbische Landwirtinnen bräuchte, ist als Replik auf eine abwertende Aussage des konservativen Radiomoderators Rush Limbaugh zu lesen. Und eine slut, die sich für birth control einsetzt: is definitely reclaiming some four-letter-word. Ich befinde mich im T-Shirt-Laden Raygun im East Village von Des Moines, dem hippen, gentrifizierten Viertel der Hauptstadt des Bundesstaates Iowa. Weiter„Amerika als T-Shirt“

 

Eine Totengräberin kann nicht wissen, was Liebe heißt

Die ukrainische Großmutter war geprägt durch ein blutiges Jahrhundert. Als sie stirbt, soll die Enkelin die Trauerrede schreiben. Was bleibt nach einem solchen Leben?

© Gleb Garanich/Reuters

„Du sollst die Rede schreiben“, sagte meine Mutter per Skype, „die Oma ist gestorben.“

„Du musst nicht kommen, es ist weit und teuer, aber die Rede für den Priester sollst DU schreiben. Niemand kannte sie besser, außerdem bist du Schriftstellerin, endlich profitiert unsere Familie davon.“ Weiter„Eine Totengräberin kann nicht wissen, was Liebe heißt“