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„Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass.“

Fankurven im Fußballstadion sind ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn die Minderheit zu toben beginnt, erstarren die Friedfertigen in hilfloser Bestürzung.

Szene aus dem Championsleague-Endspiel Bayern München gegen Chelsea im Mai 2012, © Alex Livesey/Getty Images

Ich bin leidenschaftlicher Anhänger des 1. FC Kaiserslautern und fahre gelegentlich zu Auswärtsspielen, wo ich über mein Lieblingsthema nachdenke – die Barbarei. Mein letztes Auswärtsspiel ist eine Weile her; ich ging mit Freunden zum Spiel gegen Ingolstadt und zwar in der Saison, bevor „die Schanzer“ in die erste Bundesliga aufstiegen. Unwichtig. Es zählt einzig, dass ich viel über Barbarei nachgedacht habe. Weiter„„Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass.““

 

Wenn der Sohn sich den Schulranzen mit dem Einhorn wünscht

Rosa nur für Mädchen, blau nur für Jungs?! Eltern sind froh, wenn das eigene Kind diese blöde Gender-Regel ignoriert. Und etwas Angst haben sie leider trotzdem.

Gender-Regeln: Wenn der Sohn sich den Schulranzen mit dem Einhorn wünscht
© Snev Rotbok/EyeEm

Das ist einer dieser großen Momente, einer, von denen man als Eltern träumt. Oder ich träume ihn und interpretiere zu viel hinein, wie wir Eltern es immer tun, wenn die eigenen Erinnerungen übermannen und man das Kind, das man einmal gewesen war, mit dem eigenen Kind verwechselt. Jedenfalls träume ich diesen Moment, und mein Sohn tut es auch: Der Moment, in dem der Bald-Erstklässler seinen Schulranzen bekommt. Der Bald-Erstklässler kann es nicht erwarten, einen Schulranzen auf seinem Rücken und eine Schultüte in seinen Händen zu tragen, er will „Schulkind“ und „erste Klasse“ sagen dürfen, er will Hausaufgaben machen dürfen, und er ahnt nicht, dass dieser Wunsch nicht lang anhalten wird. Mein Sohn sagt, wir müssten jetzt seinen Schulranzen kaufen, er sagt „endlich mal“ dazu, und er sagt, er will den, den er letztens gesehen hat, den mit dem Einhorn drauf. In Lila. Weiter„Wenn der Sohn sich den Schulranzen mit dem Einhorn wünscht“

 

Antisemitismus? Gibt es nicht!

Antisemitismus wird in Deutschland beschönigt: als Satire oder Israelkritik. Dass die Dokumentation „Ausgewählt und Ausgegrenzt“ nicht gezeigt wird, hat andere Gründe.

Antisemitismus: Eine Doku über etwas, das es nicht gibt?
© Amir Cohen/Reuters

Vergangene Woche gab es Aufruhr im Internet. Überall sah ich Links zu Artikeln, in denen vom Verbot eines Films über Antisemitismus in Europa geschrieben wurde. Dienstag konnte man die Dokumentation dann für 24 Stunden auf bild.de sehen. Auch mein erster Impuls war: Ja, klar! Weil es keinen Antisemitismus geben darf, gibt es auch keinen. Nirgendwo! Deswegen muss ein Film, der diesen zeigt, auch aus dem Weg geschafft werden. Mit allen Mitteln. Und das wiederum würde ein weiterer Beweis für, genau, Antisemitismus sein. Weiter„Antisemitismus? Gibt es nicht!“

 

Britisches Theater, dritter Akt

Die vorgezogenen Parlamentswahlen waren eine gute Idee von Theresa May. Das Ergebnis zeigt, dass viele Briten den Brexit immer noch verarbeiten müssen.

© Justin Tallis/AFP/Getty Images

Das englische Sommerwetter ist gleichmäßig. Es ist grau. „English summers take their identity from the stretches of grey on either side. Days of sunshine and warmth do not come as standard but as gifts to be honoured and rejoiced in.“ Das schreibt Alexandra Harris in ihrem Buch Weatherland, einem britischen Bestseller aus dem Jahr 2015. Die Vergänglichkeit dieser Tage, so Harris, erzeuge sowohl die britische Begeisterung über alles Sommerliche als auch den Druck und die Enttäuschungen, die diese Wochen gern mit sich brächten. Weiter„Britisches Theater, dritter Akt“

 

„Have sex with an immigrant“

Bevor die Studenten die Hüte werfen: Reden vor amerikanischen Universitätsabsolventen haben sich zu einem eigenen Genre entwickelt. Als Lebensratschlag, Ermunterungsbrief, Durchhalteparole.

Copyright: Baim Hanif/Unsplash.com

Ende Mai geht an den amerikanischen Colleges mit der graduation week das Semester zu Ende. Hätte man diese Tatsache nicht dem Kalender entnommen, sie wäre dennoch nicht zu übersehen: Auf den Straßen der Kleinstadt Grinnell im Bundesstaat Iowa in Heartland America finden zahlreiche Partys und Konzerte statt und in den Räumlichkeiten der Universität feierliche Abschlussdinner. In der Burlington Library begegnet man den undergrads aus dem vierten Jahrgang, die wahlweise in der Bibliothek ihre Bachelorarbeiten schreiben oder bereits an schlimmer Senioritis – Leistungs- und Motivationslosigkeit im Abschlussjahr heißt es dazu im Lexikon – leiden. Eine solche diagnostiziert auch mein Kollege Jay, als ich ihm von Student Keith erzähle, der in der letzten Stunde meines Kurses Recent Trends in German Literature plötzlich anfing, witzlose Briefe in schlechtem Deutsch an Angela Merkels Ehemann zu formulieren und danach, beim Senior Dinner, das Silberbesteck zu klauen. Wenn schon schlechtes Deutsch, dann wenigstens witzig, sage ich zu Jay. Weiter„„Have sex with an immigrant““

 

Meine Russlandgefühle

Denke ich an Russland, möchte ich schreien. Auch nach meinem vierten Besuch verstehe ich es nicht. Aber ich bin ihm haltlos zugeneigt. Ein Reisebericht

Sibirische Landschaft (© Alex Kotomanov/Unsplash)

Meine kleine, schöne Erfahrung mit Russland ist, dass ich jedes Mal erstaunlich glücklich dort bin.

Selbstverständlich bin ich jede Sekunde völlig unglücklich in Russland, auf die elementarste Weise verloren, genervt, wenn etwas nicht klappt, entsetzt über den Zustand der russischen Seele – von den Millionen Toten, die überall im Lande herumgeistern und noch immer keine Bleibe gefunden haben, ganz zu schweigen.

Und doch (oder vielleicht auch deshalb): Am Ende kommt immer eine einfältige Art Glück oder Rührung dabei heraus, wobei ich mich frage, ob es sich hierbei um eine private Blödigkeit handelt oder etwas, das mit mir nur am Rande zu tun hat, weil es von weiter her kommt, aus der Tiefe des geschichtlichen Raums, sagen wir mal, der Tatsache, dass es die göttliche Musik von Schostakowitsch und Strawinsky gibt, die nicht weniger göttlichen Bücher von Tschechow und Dostojewski und Gogol, um nur diese zu nennen; sie alle haben die russischen Paradoxien und Verhängnisse ja trefflich beschrieben und gelebt. Weiter„Meine Russlandgefühle“

 

Der Mythos vom Kampf der Unterdrückten

Polens emotionale Spaltung begann spätestens 1989. Der aktuelle Rechtsruck der Gesellschaft zeigt, wie viele Menschen sich als Opfer der Demokratisierung verstehen.

© Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

Vor einigen Monaten hat ein Vorgang in Polen unter der 2015 gewählten Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) meine Aufmerksamkeit geweckt. Es war nämlich durch die autokratisch regierende Partei die Richterin Julia Przyłębska zur neuen Präsidentin des Verfassungsgerichts ernannt worden. Dieser Vorgang erschien mir nicht nur deshalb beachtenswert, weil das Verfassungsgericht dadurch – nachdem schon zuvor mehrere Richter durch PiS-nahe Kandidaten ausgetauscht worden waren – endgültig seiner Unabhängigkeit beraubt wurde. Besonders bemerkenswert fand ich bei dieser jüngsten Entwicklung die ernannte Person selbst. Weiter„Der Mythos vom Kampf der Unterdrückten“

 

Heimat ist ein Gefühl

Ist Heimat ein Haus, ein Ort, ein Land? Muss das Zuhause in der Heimat liegen? Darf die Heimat einem fremd sein? Auf jeden Fall gilt: Heimat braucht keine Definition.

Heimat ist ein Gefühl
Nikita Velikanin/Unsplash (https://unsplash.com/photos/wTCVpReyPBU)

Heimat ist schwarz-weiß, und sie ist grau, aber sie ist nicht dieses Grau, das aus der Mischung von Schwarz und Weiß entsteht. Sie ist subjektiv, sie ist die meine, und sie braucht keine Definition, weil sie kein Begriff ist; sie ist ein Gefühl. Das Schwarz-Weiß ist die Birkenrinde, ein schlechtes Klischee, das die russische Seele zu erzählen versucht. Das Grau ist das der Beton-Hochhäuser, ein Symbolbild der inhumanen Städteplanung im Osten. Um die Bedeutung dieser Bilder weiß ich, aber ich fühle sie nicht. Weiter„Heimat ist ein Gefühl“

 

Pünktlich zur Spargelzeit wieder alles in Butter

Aufatmen allerorten: Die AfD doch nur ein Scheinriese, der Rechtsruck doch nicht so arg. Täuschen wir uns nicht. Es ist viel zu tun, um den völkischen Spuk zu beenden.

Rechtsruck: Pünktlich zur Spargelzeit wieder alles in Butter
© Roland Weihrauch/dpa

Spargelzeit 2017: Deutschland kehrt zur Normalität zurück. Will sagen, eine teils verkappt, teils unverhohlen rechtsextreme Partei ist nun ins zwölfte und dreizehnte Länderparlament eingezogen, aber alle sind beruhigt, weil es schlimmer hätte kommen können. Weiter„Pünktlich zur Spargelzeit wieder alles in Butter“

 

Ein Eis ist ein Eis ist ein Eis

Funktionalität war gestern. Schönheit vorgestern. Unser Autor schwört stattdessen auf selbstreferenzielles Design. Die, nun ja, apartesten Stücke hat er gesammelt.

© Jochen Schmidt

Erst durch meine Digitalkamera habe ich die Gewohnheit angenommen, ständig zu fotografieren, es kostet ja nichts. Ich sammle schöne Lüftungsschächte, traurige Tischtennisplatten, einzelne Handschuhe, Darstellungen des Sputniks, schlechte Wortspiele aus der Werbung, unfreiwillig komische Skulpturen im öffentlichen Raum, hässliche Kunst über Hotelbetten, Fotos von Regalen in Buchläden und Bibliotheken, in denen bei „Schmidt“ kein Buch von mir steht. Weiter„Ein Eis ist ein Eis ist ein Eis“