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176. Prozesstag – Verletzer Friseur aus der Keupstraße im Zeugenstand

Vor dem Friseursalon mit der Nummer 29 in der Kölner Keupstraße zündeten die mutmaßlichen Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt laut Anklage im NSU-Prozess eine Nagelbombe. Bei dem Anschlag vom 9. Juni 2004 wurden 22 Menschen verletzt – darunter der Friseur Hasan Yildirim. In dem Geschäft war die Wirkung des Sprengsatzes am stärksten. Noch 250 Meter weiter brachte die Druckwelle Scheiben zum Platzen. Yildirim wurde verletzt, im Anschluss litt er unter Angststörungen – doch er arbeitet bis heute in dem Friseursalon. Am Mittwoch sagt er als Zeuge im Münchner Gerichtsverfahren aus.

Insgesamt sind neun Betroffene des Anschlags in den Zeugenstand geladen, zudem zwei Ärzte, die drei von ihnen im Krankenhaus behandelten. Es handelt sich um den zweiten Tag, an dem Opfer sich in der Verhandlung äußern.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Jahrelang im Verdacht

Im NSU-Prozess haben erstmals Opfer des Kölner Nagelbombenanschlags von 2004 ausgesagt. Sie mussten mit drastischen Verletzungen leben – und mit Anschuldigungen der Polizei.

Lange Zeit hat sie niemand gehört. Sie waren Opfer von Verdächtigungen und Gerüchten. Standen im Verdacht, sich selbst die Schmerzen zugefügt zu haben, unter denen sie noch heute leiden: die Zeugen, die den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 miterlebt haben.

Selbst im NSU-Prozess wurden die Kölner Zeugen auf die lange Bank geschoben: Mehr als anderthalb Jahre hat es gedauert, bevor sie in München aussagen durften. Am heutigen Dienstag sagten nun diejenigen aus, die unter den Betroffenen die schwersten Verletzungen erlitten hatten.

Denn die Wirkung der Bombe war verheerend: Mit mehr als 700 Nägeln bestückt war der Sprengsatz, den laut Anklage Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf einem Fahrrad angebracht und vor einem Friseursalon in der Keupstraße abgestellt hatten – einem der wichtigsten Zentren des türkischen Lebens in Köln. Die Nägel bohrten sich noch 150 Meter vom Sprengsatz entfernt in jedes Hindernis, noch in 250 Metern Entfernung barsten Fensterscheiben. 22 Menschen wurden damals verletzt.

In dieser und der nächsten Woche hört das Münchner Oberlandesgericht die Opfer und die Ärzte, die sie behandelt haben. Ein Protokoll der Aussagen, die die Folgen der rassistischen Tat dokumentieren.

Sandro D. (34), arbeitssuchend, aus Köln
Kurz vor 16 Uhr war ich mit meinem Freund Melih in Mülheim unterwegs. Wir haben unser Auto auf der Keupstraße abgestellt und uns einen Döner geholt. Auf dem Rückweg vor dem Friseurladen ist es dann passiert. Das fühlte sich an, als hätte mir jemand von hinten die Beine weggeschossen. Überall war Qualm. Neben mir sah ich Melih auf dem Boden. Ich brüllte seinen Namen – ich wusste nicht, ob er lebt oder tot ist. Ich konnte aber nichts hören, weil meine Trommelfelle zerstört waren. Um mich herum standen Menschen, sie zogen mir mein brennendes Oberteil vom Leib.

Später habe ich erfahren, dass wir bei der Explosion genau vor dem Friseurladen waren, direkt an der Bombe. Alles war ohne Geräusche, wie in Zeitlupe. Es war wie ein Stummfilm. Von meinen Verletzungen habe ich nur einen schwarzen Punkt an meinem Bein wahrgenommen und meinen Daumen – da schaute der Knochen raus.

Im Krankenwagen rief ich meine Mutter an, dann war ich weg. Ich bin erst zwei Tage später wieder zu mir gekommen, da konnte ich auch wieder etwas hören.

Ich war dann wochenlang im Krankenhaus, am Anfang auf der Intensivstation. Ich hatte Nägel in den Beinen und am Rücken. Ich durfte nicht mit Melih sprechen, weil es hieß, wir hätten das Fahrrad dorthin gestellt und die Bombe sei zu früh explodiert. Ich wollte wissen, was mit Melih war. Irgendwann hat man uns dann von Intensivstation zu Intensivstation telefonieren lassen.

Diese Sache nagt an einem. Vor allem der Gedanke, dass alles so schnell zu Ende sein kann. Dabei denke ich dann an meine beiden Kinder. Erst habe ich keine psychiatrische Therapie gemacht. Es gab ja keine Täter. Weil man nichts abschließen konnte, habe ich versucht, das zu vergessen. Als es dann hieß, es gebe einen Täter, musste ich mich der Sache stellen. Die richtige Therapie fängt erst nach dieser Aussage an.

Dietmar P. (59), behandelnder Arzt von Sandro D.
Herr D. kam am 9. Juni 2004 mit dem Rettungsdienst in unsere Notaufnahme. Er hatte eine große Risswunde an der linken Schulter, mehrfache Fremdkörpereinsprengungen in Form von zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln, Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht und am linken Arm. Am schlimmsten war, dass der rechte Oberschenkelknochen durch einen Nagel gerissen war. Vier Nägel wurden ihm entfernt. Die Brandwunden mussten durch Hauttransplantationen behandelt werden. Am linken Oberarm musste immer wieder abgestorbenes Gewebe abgetragen werden.

Melih K. (31), Justizangestellter aus Köln
Ich war mit Sandro auf der Keupstraße, als es den Knall gab. Licht aus, Licht an, und dann ist man auf einmal in Texas – alles in Schutt und Asche. Mein linker Arm, meine Haare und meine linke Gesichtshälfte brannten. Die Leute um mich herum schütteten Wasser über mich.

Im Krankenhaus wurde ich operiert, hatte immer wieder Arztbesuche und Reha-Aufenthalte. Ich hatte schwere Verbrennungen, auch an den Beinen. Wenn ich den Fuß bewegt habe, habe ich gesehen, wie sich die Sehnen und die Adern bewegt haben. Das war wie bei Körperwelten. Auch meine Gesichtszüge waren kaum zu erkennen. Als ich wachgeworden bin, lag ich da wie eine Mumie.

Wenn ich mich heute umziehe, sehe ich jedes Mal die Narben. Ich hatte jahrelang Probleme beim Einschlafen, heute gehe ich zur Psychotherapie. Viele Jahre lang habe ich nichts gemacht – ich musste meine Ausbildung abbrechen, weil ich nicht mehr geeignet war. Dann habe ich mich zu Hause eingeschlossen. Erst war ich beim Arbeitsamt, dann habe ich mich abgemeldet, bevor ich Hartz-IV-Empfänger geworden wäre. 2011 habe ich dann eine Umschulung zum Bürokaufmann begonnen und 2013 abgeschlossen. Anfang dieses Jahres habe ich eine Anstellung bekommen.

Ich habe nicht sofort erfahren, dass es sich um eine Bombe handelte. Als die Polizei mich fragte, wer für den Anschlag verantwortlich sein könnte, habe ich die rechte Szene dahinter vermutet. Das ist ja offensichtlich. Wer würde so etwas sonst am hellichten Tag machen, wo es jeder sehen kann. Dafür muss man kein Ermittler sein.

 

175. Prozesstag – Erste Zeugen sagen zum Keupstraßen-Anschlag aus

Mehr als anderhalb Jahre nach Beginn des NSU-Prozesses sagen am Dienstag die ersten Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 aus. Der Fall ist einer der umfangreichsten Komplexe der Anklage: 22 Menschen wurden durch die Detonation eines mit Nägeln gespickten Sprengsatzes verletzt, den Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vor einem Friseursalon platziert haben sollen. Die nächsten zwei Prozesswochen widmen sich daher ausschließlich den Betroffenen und Ärzten, die ihre Verletzungen behandelten. Geladen sind am ersten Tag drei Opfer sowie fünf Ärzte.

Begleitet wird der Prozesstag von einer Demonstration der Initiative Keupstraße ist überall, die vor dem Gericht auf das Leid der Opfer aufmerksam machen will. Auch an den weiteren Tagen will sie das Prozessgeschehen begleiten.

Am Montag vergangener Woche hatten bereits drei Polizisten des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts ausgesagt. Sie schilderten unter anderem, mit welcher Wucht die Bombe explodierte und Schäden auf der Straße anrichtete. Nachhaltig betroffen waren auch die Anwohner der Keupstraße, weil ein rechtsterroristisches Motiv kurz nach der Tat ausgeschlossen wurde. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily strich diese Möglichkeit schon am Tag darauf aus der Liste möglicher Hintergründe. Entsprechend verliefen die Ermittlungen: Immer wieder wurden Zeugen dem Verdacht ausgesetzt, in den Anschlag verstrickt zu sein; auch ein Racheakt türkischer Krimineller wurde lange Zeit als Grund diskutiert.

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174. Prozesstag – V-Mann Piatto erneut im Zeugenstand

Zum zweiten Mal sagt der ehemalige V-Mann Carsten Sz. alias Piatto am Dienstag im NSU-Prozess aus. Er hatte 1998 Hinweise auf Kontaktleute des kurz zuvor untergetauchten Trios aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gegeben, als er für den Brandenburger Verfassungsschutz spionierte.

Die Behörde hatte sich zuvor gegen Sz.s Vernehmung ausgesprochen. Bei seiner ersten Vernehmung erschien der Rechtsextreme mit einer Perücke. Offen sprach er dennoch nicht über seine Erkenntnisse aus der rechten Szene. Insbesondere konnte er sich an die Meldung an den Geheimdienst angeblich nicht mehr erinnern.

Sz. ist ein verurteilter Gewalttäter: 1994 wurde er festgenommen, nachdem er sich an einem versuchten Mord an einem Asylbewerber beteiligt hatte. Noch aus der Untersuchungshaft nahm er Kontakt zum Verfassungsschutz auf und wurde V-Mann. Sein Quellenführer zeigte sich begeistert über die Informationen, die Piatto bis zu seiner Enttarnung im Jahr 2000 lieferte. Die Behörde gab ihm auch ein Handy, auf dem eine verdächtige SMS eines Mitglieds der militanten Organisation Blood & Honour einging. Inhalt war der Text “Hallo, was ist mit dem Bums” – die Nachricht werten Ermittler heute als Hinweis auf eine Waffenlieferung an den NSU.

Update: Urspünglich sollte Sz. auch am Mittwoch gehört werden. Die Befragung endete jedoch bereits am Dienstag.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Geschosse aus dem Fahrradkoffer

Im NSU-Prozess geht es erstmals um den Anschlag in der Kölner Keupstraße von 2004. Beweise zeigen, wie zerstörerisch die Tat wirkte – und wie gut die Terroristen sie vorbereitet hatten.

Es gab 22 Verletzte. Doch genauso gut hätten auch viele Menschen sterben können, als am 9. Juni 2004 eine mit Nägeln gespickte Bombe in der Kölner Keupstraße explodierte. Mit der Wucht von mehr als fünf Kilo Schwarzpulver traf sie Gewerbetreibende, Passanten, Kunden eines Friseursalons. Die Opfer in der vom türkischen Leben geprägten Straße erlitten Verbrennungen, Brüche und Wunden, manche brauchten Transplantationen. Vor allem aber trug der Anschlag von Köln die Angst in die Kölner Migrantengemeinde – die Angst vor Terroristen, die jederzeit und ohne Vorwarnung zuschlagen konnten.

Mehr als anderthalb Jahre nach Beginn des NSU-Prozesses greift das Münchner Oberlandesgericht die Tat auf, die laut Anklage Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verübten. Während die zehn mutmaßlichen NSU-Morde gleich zu Beginn behandelt wurden, mussten sich die Anschlagsopfer aus der Keupstraße gedulden.

Die Betroffenen selbst kommen erst in der nächsten Woche zu Wort. Es wird ihre Stimmen brauchen, um das Ausmaß der rassistischen Gewalt begreifen zu können. Doch Zeugen der zerstörerischen Kraft der Nagelbombe sind auch Fotos und Vermerke, die drei Polizisten des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts am ersten Tag nach der Weihnachtspause im Gericht zeigen.

Kurz vor 16 Uhr detonierte die Bombe am 9. Juni. Die Kölner Polizei zog Spezialisten für Sprengstoffverbrechen des Landeskriminalamts in Düsseldorf hinzu. Der erste Experte am Tatort war der Kommissar Martin W. Er dokumentierte den Hass auf rund 500 Fotos.

Eines davon zeigt ein verbogenes Fahrrad mit silberfarbenem Rahmen. Der Vorderreifen fehlt, der hintere Teil ist mit tiefschwarzem Ruß bedeckt. Auf dem Rad war die Bombe platziert. Uwe Böhnhardt schob es laut Anklage in die Keupstraße, vor den Friseursalon mit der Hausnummer 29. Zuvor waren er und Mundlos an einer Überwachungskamera des Fernsehsenders Viva vorbeigegangen. Auf dem Gepäckträger befestigt war ein Hartschalenkoffer, darin eine Gaskartusche, die wiederum mit Schwarzpulver gefüllt war. Um den Sprengstoff herum hatten die Täter zudem mehr als 700 Nägel drapiert, jeder zehn Zentimeter lang.

Als die Bombe zündete, wurden die Metallstifte zu scharfen Geschossen. Bis zu 150 Meter flogen sie weit. Sie durchschlugen Körper, Fensterscheiben, Autos. Ermittler W. spricht von „großflächigen Entglasungen“: Noch in 250 Metern Entfernung barsten Fenster aus den Rahmen. Ein weiteres Foto zeigt die Bäckerei gegenüber, die mit Säulen an der Fassade dekoriert ist. Die Druckwelle verschob eine der Säulen um mehrere Zentimeter nach links. In anderen Geschäften sind die Leuchtreklamen abgeblättert, ein Teil einer Fahrradbremse hat die Heckscheibe eines Autos zerfetzt. W. nennt die Szene „ein Bild der Verwüstung“.

Am schlimmsten traf es das Friseurgeschäft, das zugleich ein beliebter Treffpunkt in der Keupstraße war. Die Wucht drückte die massive Haustür vor dem Wohnflur aus den Angeln, durch den Salon schossen die Nägel. Es liegt nahe, dass Mundlos und Böhnhardt den Tatort ganz bewusst ausgesucht hatten – um möglichst viele Menschen zu treffen.

Fest steht, dass die Täter den Anschlag zumindest technisch mit höchster Sorgfalt vorbereitet hatten. Mehrere Fotos zeigen kleine Schaltplatinen und andere elektrische Bauteile. Sie sind Belege für eine ausgeklügelte Konstruktion: Demnach wurde der Zünder mit einer Fernbedienung für Modellflugzeuge ausgelöst, die einen Schalter umlegte.

Auch das Fahrrad hatten die mutmaßlichen Terroristen offenbar eigens für die Tat angeschafft: Es wurde kurz zuvor bei Aldi verkauft, wie die Ermittler herausfanden. Nur den Seitenständer tauschten die Täter gegen ein massiveres Modell aus, damit es die schwere Bombe im Koffer tragen konnte.

Im Rückblick gibt es zahlreiche Parallelen zu einem vorherigen Anschlag in Köln: Im Dezember 200ß brachten Mundlos und Böhnhardt in einem iranischen Lebensmittelgeschäft eine Bombe in einer Stollendose vorbei. Auch sie war mit Schwarzpulver gefüllt, der Zünder ähnlich beschaffen. Auf einen Zusammenhang kamen die Ermittler jedoch erst, als der NSU sich im November 2011 selbst enttarnte und beide Taten ausführlich in seinem Bekennervideo darstellte.

Stattdessen richtete sich der Verdacht in den Jahren nach dem Anschlag immer wieder gegen Opfer und Anwohner, Spekulationen um einen Racheakt und das organisierte Verbrechen machten die Runde. Auch deshalb haben Vertreter der Nebenklage bereits angekündigt, den Fall Keupstraße mit vielen kritischen Fragen zu begleiten.

 

173. Prozesstag – Gericht untersucht Anschlag in der Keupstraße

Der Anschlag vom 9. Juni 2004 ist bis heute ein Trauma für die türkisch geprägte Keupstraße in Köln: Dort explodierte ein Sprengsatz mit einer Nagelbombe vor einem Friseurgeschäft, den laut Anklage Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf einem Fahrrad vorbeigebracht hatten. Mehr als 20 Menschen wurden durch die Bombe verletzt.

Am ersten Tag nach der Weihnachtspause beginnt in München die Aufarbeitung der Tat. Dazu hört der Strafsenat drei Polizisten des Landeskriminalamts, die nach dem Anschlag am Tatort ermittelten, Zeugen befragten und Spuren auswerteten. Die Betroffenen selber werden in der kommenden Woche geladen.

Die Befragung der Ermittler ist auch deshalb brisant, weil ein rechtsterroristisches Motiv kurz nach der Tat ausgeschlossen wurde. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily strich diese Möglichkeit schon am Tag darauf aus der Liste möglicher Hintergründe. Entsprechend verliefen die Ermittlungen: Immer wieder wurden Zeugen dem Verdacht ausgesetzt, in den Anschlag verstrickt zu sein; auch ein Racheakt türkischer Krimineller wurde lange Zeit als Grund diskutiert.

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Noch ein weiterer NSU-Anschlag?

Schon vor dem ersten Mord verübte der NSU möglicherweise einen Bombenanschlag in Nürnberg. Ein ausländerfeindliches Motiv schlossen die Ermittler aus.

Der Knall hat ein Loch in die Decke gesprengt. Auf dem Boden der Herrentoilette liegen Kunststoffteile, auch den Handtuchhalter hat es zerrissen. In der Luft liegt der strenge Geruch gezündeter Chinaböller.

In einer Nürnberger Kneipe namens Sonnenschein übernimmt der Polizist Peter O. am 23. Juni 1999 einen Fall, den er nicht aufklären wird: Es geht um eine Bombe, die im Tubus einer Taschenlampe versteckt war und den 18-jährigen Putzmann Serkan Y. verletzt hat. Nach einigen Monaten wird die Akte geschlossen.

Mehr als ein Jahrzehnt später gibt es ein deutliches Indiz auf die Urheber des Sprengsatzes: Die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt könnten ihn damals im Sonnenschein abgelegt haben. Stimmt das, wäre der Nürnberger Fall der erste terroristische Anschlag des NSU und nicht mehr der Mord an dem Blumenverkäufer Enver Simsek vom September 2000. Polizist O., damals tätig als Ermittler des bayerischen Landeskriminalamts, sagt darum am letzten Tag vor der Weihnachtspause als Zeuge im Münchner Prozess aus.

Den Hinweis auf die möglichen Täter hatte der Mitangeklagte Carsten S. in seiner Aussage zu Prozessbeginn geliefert. S. gestand, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei einem Treffen um die Jahrtausendwende die Pistole übergeben zu haben, mit der die beiden mutmaßlich neun Menschen erschossen. Unter Tränen erzählte er, bei der Verabredung in Chemnitz hätten die beiden Uwes ihm erzählt, sie hätten in Nürnberg „eine Taschenlampe hingestellt“. Er habe sich erst keinen Reim darauf machen können – später sei ihm der Gedanke gekommen, Mundlos und Böhnhardt könnten Sprengstoff in die Lampe eingebaut haben.

Serkan Y., das Opfer des bis heute nicht aufgeklärten Anschlags, putzte damals gelegentlich im Sonnenschein, manchmal schenkte er auch Getränke aus. Am Nachmittag des 23. Juni fand er im Vorraum der Herrentoilette eine Taschenlampe hinter dem Abfalleimer. Er konnte sich nicht erklären, wie sie dorthin gekommen war und schaltete sie ein. Kurz hörte er ein Surren, als ein Glühdraht das Schwarzpulver entzündet, das in ein Rohr im Inneren gefüllt ist. Y. sah einen blauen Blitz, dann schleuderte ihn die Wucht der Explosion an die Wand.

Seine Mutter fuhr den Verletzten ins Krankenhaus, er hatte blutende Schnittwunden im Gesicht, am Oberkörper und den Armen. Möglicherweise lebensrettend war für ihn, dass nicht das gesamte Schwarzpulver zündete. Andernfalls wäre die Sprengkraft wesentlich höher gewesen: „Das Rohr wäre zerlegt worden, was schwerwiegende Verletzungen bis zur Todesfolge hätte verursachen können“, mutmaßt Polizist O.

Nun, da der Fall im Gerichtssaal geschildert wird, werden auch die Parallelen zu einer anderen NSU-Tat offensichtlich: dem Anschlag in der Kölner Probsteigasse von 2001. Opfer wurde damals die Tochter eines iranischen Geschäftsinhabers. Auch damals war die Bombe getarnt, nämlich in einer Stollendose versteckt. Das Funktionsprinzip war analog: Ein Glühdraht zündete Schwarzpulver, dessen Explosion dem Opfer schwerste Brandverletzungen zufügte.

Auch die Ermittlungen in Nürnberg verliefen so, wie es praktisch immer im Anschluss an die rassistischen Taten der Fall war: Ein ausländerfeindliches Motiv schloss der Staatsschutz aus. Tatsächlich schrieben die Polizisten vor Ort bereits in ihrer ersten Meldung an das Landeskriminalamt, ein politischer Hintergrund der Tat sei ausgeschlossen. Stattdessen hörten sich die Ermittler sehr genau an, was etwa Y.s Arbeitgeber vermutete: Dass das Opfer eine Mitschuld trage, weil er in irgendetwas verwickelt sei oder die Bombe gar selbst gebaut habe. Nachteilig war für Y., dass er der Polizei wegen kleinerer Drogendelikte auffällig geworden war.

„Auf den vagen Hinweis hin wurde das Opfer selbst verdächtigt“, kritisiert der Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler. Alle anderen Hinweise hätten die Ermittler ignoriert – etwa, dass die Zeugen überhaupt keine möglichen Feinde von Y. oder dem Pächter der Gaststätte benannten.

Die Opferanwälte sehen im Taschenlampen-Komplex zudem einen weiteren Beweis für die Glaubwürdigkeit des Angeklagten S. Ohne seine Angaben wäre der Fall wohl nie dem NSU zugeordnet worden, gibt Daimagüler zu bedenken. „Das macht mich unruhig, weil es vor Eröffnung des Prozesses hieß, die Sache sei ausermittelt.“

Bisher ist das Sprengstoffdelikt nicht Teil der Anklage. Die Bundesanwaltschaft prüft noch immer, ob die Liste der Vorwürfe gegen Zschäpe wegen Mittäterschaft erweitert werden soll.

Dennoch ist völlig unklar, wie verfänglich der Fall für die Hauptangeklagte ist. Denn Carsten S. hatte in seiner Aussage noch mehr vom geheimen Treffen erzählt, bei dem er von der Taschenlampe erfuhr: Kurz darauf sei Zschäpe mit an den Tisch gekommen. Die Uwes hätten daraufhin etwas wie „Psst, die darf das nicht hören“ gesagt. Wenn die beiden Männer die Bombe platziert hatten – hielten sie Zschäpe daraufhin aus der Sache heraus? Oder sollte die lediglich nicht merken, dass die Uwes über eine Tat des Trios plauderten?

 

172. Prozesstag – Der Taschenlampenanschlag von Nürnberg

Es ist ein weiteres rätselhaftes Puzzlestück im NSU-Komplex: Verübten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 1999 einen Anschlag auf eine Kneipe? Darauf hatte der Mitangeklagte Carsten S. zu Beginn des Prozesses einen Hinweis gegeben. Prozesbeteiligte bringen die Aussage in Zusammenhang mit einer Tat, bei der ein Putzmann im Juni 1999 unwissentlich eine als Taschenlampe getarnte Rohrbombe auf der Toilette einer Gaststätte gezündet hatte. Am Mittwoch sagt dazu ein Polizist des Münchner Polizeipräsidiums aus, der den Vorfall damals untersucht hatte.

S. hatte ausgesagt, dass Mundlos und Böhnhardt ihm zugeraunt hätten, sie hätten in Nürnberg „eine Taschenlampe hingestellt“. Er habe sich darauf keinen Reim machen können. Das Opfer wurde bei der Tat schwer verletzt. Die Tat gilt bis heute als unaufgeklärt, auch durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurde sie vor S.‘ Aussage nicht in Zusammenhang mit dem NSU gebracht.

Bei der Sitzung handelt es sich um den letzten Gerichtstermin vor der Weihnachtspause. Der Prozess wird am 12. Januar 2015 fortgesetzt.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

171. Prozesstag – V-Mann-Unterstützer erneut im Zeugenstand

Zum zweiten Mal sagt am Dienstag der mutmaßliche Blood-&-Honour-Aktivist Michael P. aus. Er hatte im Jahr 1999 dem V-Mann Carsten Ri. alias Piatto geholfen, aus dem Gefängnis freizukommen, indem er ihm eine Stelle in seinem Szenegeschäft gab. Ri. hatte dem Verfassungsschutz Hinweise auf Waffenlieferungen der militanten Organisation Blood & Honour an den NSU gegeben. In seiner Vernehmung äußerte sich Piatto zwar zu dem Netzwerk, gab sich ansonsten aber vage und bedeckt.

Außerdem geladen ist ein Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs, der den Mitangeklagten Carsten S. nach dessen Festnahme im Februar 2012 vernommen hatte. S. hatte im Prozess Hinweise auf einen weiteren Anschlag geliefert, an die er sich bei der Befragung vor dem Haftrichter offenbar noch nicht erinnern konnte.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Unterwegs auf Opfersuche

Fotos zeigen, wie der NSU mögliche Opfer ausspähte. Doch rätselhaft bleibt: Wie entschieden die Terroristen, wen sie wirklich töten wollten?

Auf den ersten Blick wirkt es fast wie ein Urlaubsfoto: Ein Mann in Dreiviertelhose und mit Sonnenbrille, die Hand lässig auf den Sattel des Mountainbikes gelehnt, im Hintergrund ein Café. Doch die Bilder, die am Donnerstag im NSU-Prozess gezeigt werden, sind keine Ferienerinnerungen – sondern Beweisstücke aus dem Fundus mutmaßlicher Terroristen.

Ermittler bargen eine CD aus dem Schutt des Hauses in Zwickau, das Beate Zschäpe am 4. November 2011 in Brand gesteckt haben soll. Auf dem Datenträger mit der Aufschrift „Stuttgart“ und „PDS Hoff“ entdeckten sie zehn Fotos, darunter die sommerlichen Motive. Bald wurde ihnen klar: Die Dateien zeigen offenbar, wie der NSU mögliche Opfer ausspähte. Denn bei dem Mann auf dem Bild handelt es sich anscheinend um Uwe Böhnhardt, aufgenommen wurde es in der Nähe des Stuttgarter Nordbahnhofs.

Ausgewertet hat das Material der Ermittler Gerhard Z. aus Baden-Württemberg, der dafür zum Bundeskriminalamt abgeordnet worden war. „Ich hatte die Vermutung, dass es um ein Ausbaldowern des Objekts ging“, sagt Z. In der Straße lagen Objekte, wie sie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei jedem der neun Migrantenmorde und der zwei Terroranschläge der NSU-Serie wählten: ein türkisches Lebensmittelgeschäft, eine italienische Bar, ein Grillimbiss.

Sieben Bilder wurden in Stuttgart gemacht – möglicherweise von Mundlos. Er selbst ist nicht darauf zu sehen. Laut dem Zeitstempel in der Datei stammen sie vom 25. Juni 2003. Zu diesem Zeitpunkt waren der Mordserie bereits vier Menschen zum Opfer gefallen. Das letzte, die Polizistin Michèle Kiesewetter, starb im April 2007 in Heilbronn – rund 50 Kilometer von Stuttgart entfernt.

Auch nach langen Ermittlungen nach der Selbstenttarnung des NSU ist kaum bekannt, wie das NSU-Trio seine Opfer aussuchte. Auffällig ist jedoch, dass die Tatorte immer sorgfältig gewählt waren: kleine Geschäfte oder Imbisse, die von außen nicht vollständig einsehbar waren und von denen aus es sich leicht flüchten ließ. Die Vermutung liegt nahe, dass die Täter sich auf Insiderwissen von Unterstützern vor Ort verlassen konnten. Bewiesen ist das jedoch nicht.

Unklar ist zudem: Wie fiel die Wahl auf die jeweiligen Opfer? Wer entschied, wieso ausgerechnet die Menschen sterben mussten, deren Namen heute als zehn NSU-Opfer auf Gedenkplaketten geschrieben stehen? Eine Antwort könnte Beate Zschäpe liefern – doch die schweigt weiterhin.

In der Zwickauer Brandruine stellten die Ermittler Material sicher, aus dem hervorgeht, wie viel Zeit die mutmaßlichen Mörder auf die Planung ihrer Anschläge verwendeten. Dazu gehört eine Adresssammlung mit mehr als 10.000 Einträgen, außerdem unzählige Stadtpläne mit Markierungen. So waren auf einer Karte von Stuttgart vier Polizeireviere eingezeichnet. Für die Stadt Nürnberg, wo drei Migranten ermordet wurden, existierte eine Liste, auf der in Maschinenschrift sechs Adressen von Asylbewerberheimen, Kneipen und Imbissen eingetragen waren. Darunter ein handschriftlicher Eintrag zum Imbiss in der Scharrerstraße – dort starb 2005 der Betreiber Ismail Yasar.

Die Fotos, die am Donnerstag an die Wand des Schwurgerichtssaals projiziert werden, zeigen jedenfalls, dass die Täter auch selbst Opfer recherchierten. Es scheint, als hätten sie sich eigens zu Spionagezwecken auf Reisen begeben. Einen Tag nach dem Aufenthalt in Stuttgart, am 26. Juni 2003, entstanden zwei weitere Fotos in der fränkischen Stadt Hof. Sie zeigen ein Kupferschild, das auf die Geschäftsstelle der örtlichen SPD hinweist. Darüber ist ein Straßenschild zu sehen. Planten die Rechtsextremen, auch hier zuzuschlagen?

Der NSU sammelte auch Adressen von Parteibüros. Als Zschäpe nach der mutmaßlichen Brandstiftung 2011 quer durch Deutschland flüchtete, verschickte sie 15 Exemplare des NSU-Bekennervideos auf DVD. Eins davon ging ebenfalls an eine Partei: die PDS-Geschäftsstelle in Halle. Mit den Bezeichnungen kam das Trio bisweilen durcheinander – so erklärt sich Ermittler Z. die Aufschrift „PDS Hoff“ auf der CD: Gemeint war vermutlich „SPD Hof“. Die Bilder waren ihnen offenbar so wichtig, dass sie eigens dafür einen Datenträger anlegten.

Die Motive in Hof wurden kurz nach 16 Uhr aufgenommen. Rund zwei Stunden später entstand das letzte der zehn Bilder auf der CD: Es zeigt Uwe Böhnhardt, wie er neben Beate Zschäpe auf einem blauen Sofa sitzt. Als es im Saal gezeigt wird, betrachtet es Zschäpe intensiv von der Anklagebank aus. Vermutlich entstand es in der Wohnung des Trios in Zwickau, das rund eine Dreiviertelstunde von Hof entfernt ist.

Für den Nebenklageanwalt Reinhard Schön ist mit den Fotos bewiesen, dass Zschäpe „an der Ausspähung von Anschlagsorten beteiligt war“, wie er nach der Aussage von Z. erklärt. Dieser Ansicht dürfte das Gericht jedoch nicht folgen: Auf den anderen Bildern ist sie nicht zu sehen. Klar ist nach diesem Verhandlungstag, dass die Beweisführung in diesem Prozess nur funktionieren kann, wenn sie ein stimmiges Gesamtbild ergibt.