Lesezeichen
 

Vergiss New York

Die Jazzwelt schaut nach Norwegen, von dort kommen derzeit die spannenden Töne. "Jazzland Community: Live" ist einer von vielen Beweisen

Jazzland Community Live

Im vergangenen Jahr feierte Bugge Wesseltofts Label Jazzland Recordings seinen zehnten Geburtstag. Aus diesem Anlass sollte es ein paar Jubiläumsauftritte in Norwegen geben, schließlich wurde daraus eine Konzertreise durch ganz Europa. Die Auftritte in Hamburg, Köln und Oslo wurden mitgeschnitten, Teile davon erscheinen jetzt auf der CD Jazzland Community: Live. Mit dabei sind neben Wesseltoft die Sängerin Sidsel Endresen, der Gitarrist Eivind Aarset, der Saxofonist Hakon Kornstad, der Bassist Marius Reksjo und der Schlagzeuger Wetle Holte.

Wesseltofts New Conceptions of Jazz hatten ihm und der Firma gleich zu Beginn großen Erfolg und internationale Beachtung beschert. Der junge norwegische Jazz ist seitdem auf den europäischen Festivals präsent, sicher nicht nur, weil der norwegische Staat seine Künstler bei Auslandstourneen finanziell unterstützt. Talentierten Nachwuchs gibt es in der norwegischen Metropole offenbar zuhauf. Die letzten kreativen Töne aus den USA seien mindestens vierzig Jahre alt, behauptet Wesseltoft. Das Zentrum für neue spannende Musik habe sich seitdem mehr und mehr nach Europa verlagert. Gerade in Skandinavien gibt es eine Menge guter Musiker, die an Klängen basteln, die einst vom Label ECM groß und bekannt gemacht wurden. Wesseltoft interessiert besonders die elektroakustische Welt, jene Mischung aus Jazz und elektronischer Musik, die als sehr europäische Kunstform gilt.

Er schwärmt von den Künstlern, die einst mit zeitgenössischer Musik und frühem Techno experimentierten und berichtet, dass Berlin in jener Entwicklung eine maßgebliche Rolle gespielt habe. Höhepunkte auf Jazzland Community: Live sind die Stücke mit Wesseltofts langjähriger musikalischer Partnerin Sidsel Endresen. Ihre Stimme betört, sie ist sehr weit entfernt von der Tradition des Jazz. Auch sie begrüßt es, dass die amerikanische Dominanz des Jazz in der öffentlichen Wahrnehmung bröckelt. Sie mag Billie Holiday und Chet Baker, doch die zahlreichen stilistischen Klischees, die es im Jazzgesang gibt, gefallen ihr nicht. Trotz großem Respekt für Ella Fitzgerald und Scat-Gesang habe sie diese Musik eigentlich nie wirklich hören mögen, gesteht Endresen. Deshalb schaute sie sich nach anderen Quellen um und nach neuen Wegen, ihre Stimme als Instrument einzusetzen. Das ethnische Segment wurde ihr zu einer großen Inspirationsquelle, Jan Garbarek ebnete da schon vor über dreißig Jahren Wege.

Die New Yorker Szene fühle sich keineswegs rückständig, auch wenn neue Töne von ihr zurzeit nur sehr spärlich kommen. Ihr sei wohl das Widerstandspotenzial abhanden gekommen, vermutet Endresen. Für sie ist klar, dass sich die Dinge auch wieder ändern werden. Bis dahin genießt sie das starke Interesse an der norwegischen Szene.

„Jazzland Community: Live“ ist erschienen bei Jazzland Recordings/Universal

Zur Veröffentlichung der CD startet die Jazzland Community ihr sogenanntes Sommercamp in Berlin. Vom 27.5. bis 17.7. spielen jeden Sonntag die Jazzland-Künstler auf dem Badeschiff. Hakon Kornstad eröffnet die Reihe am 27.5., Sidsel Endresen tritt zusammen mit Jan Bang am 3.6. auf, Bugge Wesseltoft spielt am 10.6. ein Soloklavierkonzert. Die Konzerte beginnen um 20 Uhr, der Eintritt beträgt 3 Euro.

Sidsel Endresen tritt auch beim Moers-Festival auf. Christian Broecking berichtet darüber in unserem Festival-Blog ZELT online
...

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Andile Yenana: „Who's Got The Map?“ (Sheer Sound/Rough Trade 2007)
Arve Henriksen: „Strjon“ (Rune Grammofon 2007)
Cor Fuhler: „Stengam“ (Potlatch 2006)
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ohne The

Die Battles aus New York verstehen es, ihre Instrumente zu bedienen. Schade, dass sie so hohle Lieder schreiben

Battles Mirrored

Drei Mitglieder angesehener Bands und der Sohn eines bekannten Komponisten machen zusammen Musik. Kann denn so etwas schiefgehen? Und wie!

Die Battles aus New York sind schwer angesagt. Gerade haben sie ihr Debütalbum Mirrored veröffentlicht, es kursierten bereits zwei Minialben. Die ambitionierte Plattenfirma Warp Records nahm sie unter Vertrag. Das Label hat schon vielfach bewiesen, dass man anspruchsvolle Musik nicht nur veröffentlichen, sondern auch stapelweise verkaufen kann. Der Name Warp ruft Assoziationen hervor. Dazu die ganzen Namen, die im Umfeld der Band fallen – Namen! Namen! Namen! Und nun?

Nun wird gefeiert! Im Feuilleton und in der Musikpresse, auch auf ZEIT online. Die Battles machen die Musik der Zukunft, heißt es. Revolutionär seien sie und dabei so etwas wie der neue Jazz.

Nur: Wenn ein Rocker mal keinen Viervierteltakt spielt, dann ist das noch lange nicht Jazz. Ebenso wenig ist es Rock, wenn ein Jazzer mal gerade spielt. Allenfalls Jazzrock. Und da wären wir beim Hauptproblem der Battles. Sie paaren Inhaltsleere mit dem Gestus des Beeindruckenden. Sie erschaffen eine Aura des Virtuosen, ohne zu wissen, wofür sie das eigentlich tun. Wie nichtssagend die Musik ist, sieht man schon daran, dass die wichtigste Botschaft der Battles ist, dass man sie nicht mit The Battles verwechseln dürfe. Wow.

Ihre Instrumente können sie wahrhaft bedienen. Aber es wirkt, als könnten sie keine Musik damit machen. Was herauskommt, hat weder Seele, noch ist es innovativ. Alles klingt leer und knüpft nahtlos an die Ära an, in welcher der Jazz verstarb. In Fusion und Jazzrock der späten Siebziger und frühen Achtziger wurde gegniedelt und gedaddelt, dass es ein Graus war. Im Ringen um Komplexität und Schnelligkeit spielten sich die Stanley Clarkes und Weather Reports um ihren musikalischen Verstand. Fusion wurde zum Sport und entfernte sich so weit von Musik, dass es beinahe zur olympischen Disziplin wurde.

Das ist alles lange her. Braucht es eine Neuauflage?

Die Battles spielen sehr rhythmisch, aber eindimensional, immer der vordergründigen Idee folgend. Wenn eine Melodie auftaucht, dann ist sie uninteressant und dreht sich nur um die eigene Achse. Dazu wird gepfiffen wie im amerikanischen Bürgerkrieg. Die einzige Leistung der Band ist, dass sie zeigt, wie man Fusion ohne den gefürchteten Slap-Bass spielt.

Nur ein gutes Stück gibt es: Leyendecker ist druckvoll und verbindet harten Rhythmus mit Elementen der Musik aus Pferdeopern. Dieses eine Mal entsteht eine dichte Atmosphäre. Es ist mehr ein Glückstreffer.

Die aufwendig gestaltete Hülle der Platte zeigt ein Spiegelkabinett, passend zum Titel. Glitzernde Oberflächen, nichts dahinter.

„Mirrored“ von den Battles ist erschienen bei Warp/Rough Trade

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Arctic Monkeys: „Favourite Worst Nightmare“ (Domino 2007)
Dinosaur Jr.: „Beyond“ (PIAS 2007)
Maximo Park: „Our Earthly Pleasures“ (Warp 2007)
!!!: „Myth Takes“ (Warp 2007)
The Fall: „Reformation! Post-TLC“ (Slogan/Sanctuary 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Mundharmonika an Tofu

Die Gruppe Laub sitzt nicht am Mississippi, sie wandelt zwischen hohen Bürogebäuden im renovierten Berliner Osten. So klingt ihre Musik auch anders als der Blues der Alten

Laub Deinetwegen

In einer Ecke des spärlich beleuchteten Raums sitzt John Lee Hooker, in einer anderen Muddy Waters. Hooker atmet kurz durch, greift nach seiner Gitarre und daddelt drauflos. Das Instrument legt sich an seinen Körper, sie winden sich umeinander. Ein paar Versuche, dann grinst er zufrieden und schickt Waters eine launische Tonfolge hinüber. Er macht eine Pause und schaut den Klängen hinterher. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie angekommen und vollkommen verklungen sind. Dann Waters, er spielt das Echo, fünf, sechs Mal und beginnt sanft zu variieren. Schließlich schickt er die Töne umgeordnet zurück, ein bisschen schlampig vielleicht. Dazu murmelt er ein paar Zeilen, „All you people, you know the Blues got a soul, well this is a story, a story never been told, well you know the Blues got pregnant, and they named the baby Rock’n’Roll“.

Das muss lange her sein. Der Rock’n’Roll ist im Rentenalter. John Lee Hooker ist seit sechs Jahren tot, Muddy Waters seit 25. Und der Blues? Spielt den heute noch jemand, der unter 60 ist? Ja! Laub aus Berlin tun das. Vier Alben lang ließen die Dichterin Antye Greie und der Gitarrist Jotka elektronische Musik zu lyrischen deutschen Texten hören. Während der Aufnahmen zur fünften Platte Deinetwegen entdeckten sie den Blues und spielten ihn, spielten mit ihm. Die Elektronik gaben sie nicht auf, so sind sie weniger die Pfleger des Blues als seine Heiler, die ihm mit Frischzellen kommen.

Ein dumpfer Schlag eröffnet das Album und das Stück Covering. Ein paar Saiten werden gestreichelt, eine dunkle Stimme ruft etwas, das wie I know her klingt. Langsam bilden die Töne Muster, die Schläge werden rhythmischer, das Stück bekommt Struktur. Das ist astreiner Blues, einfach und traurig. This Way, empfiehlt die Stimme. Schließlich wird das Gitarrenmuster zersägt, im Hintergrund knackt’s. Blues und Elektronika fließen zusammen, eine Frauenstimme singt die Tonfolge der Gitarre, „Dadldidau, Dadldidau“.

Und der Blues steckt nicht nur in den Gitarren. Antye Greie spielt mit den Worten, dreht und wendet sie, variiert Wortfolgen. Sie singt kaum, stellenweise rezitiert sie. Assoziative Wortfolgen schickt sie durch den Raum und horcht ihnen nach. Es geht um Alltägliches, Liebe, die Bestellung beim asiatischen Imbiss gegenüber: „Während ich warte auf mein verschrumpeltes Tofu und mir das Gehirn zerkrümle über Politik in Musik und wozu, fragt ein sechs Jahre alter Junge am Nebentisch seinen Papa, »Sag mal, sind Augen auch aus Chemie?« Mir wird klar, und wie, und wie, darüber hatte ich und auch der Vater so konkret noch nicht nachgedacht. Mit meiner fünf Euro Plastetüte Natriumglutamat zieh ich mir ’ne Lucky aus’m Automat und ’ne DVD aus’m Megastore. Ich schieb die DVD in mein Powerbook und mir die Nummer 21 vom Asi rein.“ Manche Texte wenden sich ins Bittere, andere sind sehr poetisch. „Seitdem sah ich dich untergehen, wie die Titanic – erst langsam, dann plötzlich – warst du weg, alles andere war noch da, der Schnee, die Stadt, deine Frau, dein Kind“, heißt es in Schnee.

Laub beherrschen das für den Blues typische Spiel mit Zitat und Variation. In Analog wiederholt Antye Greie Mal um Mal die Worte „Boom Boom Boom“, so heißt ein Lied John Lee Hookers, und so heißt auch ein Blues-Club in San Francisco. Das Stück Ruf erhebt sich aus den klagenden Lauten einer Mundharmonika. Viele der von Jotka eingespielten Gitarrenschnipsel auf der Platte klingen sehr alt und irgendwie bekannt. Sie sind handgemacht, nur an wenigen Stellen bearbeitet. Alles andere ist elektronisch erzeugt.

Klar, Laub sitzen nicht am Mississippi, sie wandeln zwischen hohen Bürogebäuden im renovierten Berliner Osten. Sie schuften nicht auf Baumwollfeldern und hängen nicht im Strafgefangenenzug, sie erzählen von sinnloser Telekommunikation, Beziehungsproblemen und kapitalistischen Lebensverhältnissen, auch irgendwie zermürbend. Der Blues passt gut in die hektische Welt der Schönen und Erfolgreichen am Prenzlauer Berg.

„Deinetwegen“ von Laub ist als CD erschienen bei AGF Producktion

Weitere Beiträge aus der Kategorie BLUES
Flanger: „Spirituals“ (Nonplace 2005)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wo geht’s lang?

Einer der bekanntesten jungen Pianisten in Südafrika ist Andile Yenana. Durch die Stücke auf „Who’s Got The Map?“ klingt die Zuversicht der Menschen in seinem Land

Yenana Map

Auch 13 Jahre nach dem Ende der Apartheid steht Südafrika vor großen Problemen. Arbeitslosigkeit, Armut und Aids sind schwer in den Griff zubekommen, akzeptabler Wohnraum fehlt für die Mehrheit der Bevölkerung, das Ausbildungssystem entwickelt sich nur schleppend. Doch die jungen Menschen im Land verbreiten Zuversicht. Ob in den Stadtzentren von Johannesburg und Kapstadt oder in den Townships Soweto und Langa – viele Südafrikaner sind optimistisch.

Auch der Pianist Andile Yenana ist zuversichtlich, die mangelnde Orientierung der Menschen und fehlende Transparenz in der Politik geben ihm jedoch zu denken. Who’s Got The Map? fragt er auf seiner aktuellen Platte, die in Südafrika schon vor zwei Jahren erschien und jetzt endlich auch in Deutschland erhältlich ist. Der Vertrieb Rough Trade hat sich der Platten des südafrikanischen Labels Sheer Sound angenommen.

Es wird auch Zeit. Seit Abdullah Ibrahim hat die südafrikanische Jazzszene keine großen Namen mehr exportiert. Dabei sei Südafrika ein Land, in dem Jazz das ganze Jahr über ein Thema ist, berichtet der 1968 geborene Andile Yenana. Die Zeitungen seien voll davon, die Leute hören sich zusammen mit Nachbarn und Freunden Jazzplatten an, meist altes Blue-Note-Zeug aus den sechziger Jahren. Das hätten schon seine Eltern so gemacht, sagt er.

Noch habe der südafrikanische Jazz keine eigene Ästhetik gefunden, die dem Leben nach der Apartheid entspricht, sagt Yenana. Doch die Musiker seien inspiriert, und es gebe viele Festivals. Nun müsse man sich auf die Entwicklung kleiner Clubs konzentrieren.

Andile Yenana möchte die Menschen ermutigen. Die Aktivisten der sechziger Jahre, die Kämpfer für schwarzes Selbstbewusstsein um Steve Biko, sind tot. Die erste Generation nach der Apartheid sei ein Phänomen, findet Yenana. Zum ersten Mal gebe es in seinem Land nun Musik, die von jungen Leuten dominiert wird. Doch ihre Strukturen sind unterentwickelt, bemängelt er. Die Mehrheit der Südafrikaner lebt außerhalb der großen Städte, die Apartheid hat die Leute davon abgehalten, sich öffentlich zu treffen.

Yenana studierte Klavier bei Dave Brubecks Sohn Darius, der schon lange Professor in Durban ist. Zwölf Jahre lang spielte er in der Band des virtuosen südafrikanischen Saxofonisten Zim Ngqawana. Dass Yenanas eigene Musik sich nicht ausdrücklich von den amerikanischen Vorbildern entfernt, verwundert nicht. Er hat auch gar nicht das Problem, sich davon befreien zu wollen. Denn selbst wenn er die Nervosität des New Yorker Bop mit Township-Klängen mischt, bleibt das für Yenana doch afrikanische Musik. Sein Kontinent ist für ihn der Ursprung guter Musik, Mutter Afrika gibt ihm Halt.

„Who's Got The Map?“ von Andile Yenana ist erschienen bei Sheer Sound/Rough Trade

...

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Arve Henriksen: „Strjon“ (Rune Grammofon 2007)
Cor Fuhler: „Stengam“ (Potlatch 2006)
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Mein Leben als Musical

Patrick Wolf ist der neue Prinz Pop. In seinen Stücken türmen sich Ukulele, Vibrafon und Atari-Computer übereinander. Obendrauf schlägt bisweilen der Disko-Hammer

Patrick Wolf The Magic Position

Es ist eine Eigenart der Briten, dass sie sich aufrichtig über good looks and style freuen können, gleich, welcher Herkunft diese sind. In roten Caprihosen hat sich Patrick Wolf für das Cover seines neuen Albums The Magic Position fotografieren lassen, herrlich auf ein Karussell-Bambi drapiert, um den Hals trägt er eine Art Lametta, die Haare leuchten orangerot, seine Füße sind in spitze, goldene Schuhe gekleidet. Der Junge könnte aus einem bunten Disney-Traum auf die Erde gepurzelt sein, das Cover aber sollte man als Pop-Art-Installation verstehen, in der die Bilder einer heilen Kinderwelt spielerisch ins Androgyne überführt werden.

Patrick Wolf unterscheidet sich nicht nur äußerlich von der gerade aktuellen Klasse der Londoner Gitarrenjugend, distinktionssicher nimmt der 23-Jährige seine Popstarwerdung unter Aufbietung privater Mythen und Erzählungen seit seiner ersten Veröffentlichung Lycanthropy (2003) in Angriff. Es ist die Geschichte vom ehrgeizigen Knaben aus kulturell engagiertem Elternhaus, der das Violinenspiel aufgab, weil er es nur zur zweiten Geige brachte. Der zur Harfe griff, statt sich den Jungsbünden mit den Gitarren anzuschließen. Der geschlagen, gemobbt und verlacht wurde an der Schule, weil er Kleider trug, die die meisten ihren Mädchen nicht anziehen würden. Seine ersten Lieder nahm Patrick Wolf mit Kassettenrekordern und Synthesizern auf, einige davon schickte er seinem Idol Björk, ohne jemals Antwort zu erhalten. Mit 16 vagabundierte er durch London.

Die Inszenierung gilt bei Wolf immer dem eigenen Körper: Auf Lycanthropy war er noch der Lumpenbube, der in seinen verfremdeten Folksongs von Vergewaltigung und Verletzung berichtete, beglaubigt mit Field Recordings vom Trafalgar Square und schlimmen Atari-Geräuschen. Diese Musik, die direkt aus dem Leben um die Ecke zu biegen schien, diente vorbildlich der Illustration eines durchlittenen Martyriums. „It’s wonderful what a smile can hide / if the teeth shine right“, jubiliert Patrick Wolf jetzt zum Auftakt der CD The Magic Position – eine verlängerte Gedenkminute für den Schuljungen und die Last, die dieser so lange auf dem Herzen trug. Die 13 Lieder der neuen Produktion dürfen in prächtigen Streicher- und Posaunen-Arrangements erstrahlen, Wolfs Stimme thront auf wilden Soundgebirgen, deren Innenleben von umhergeisternden Ukulelen, von Vibrafon, Klarinette und Glockenspiel bestimmt wird, und irgendwo im Stollen schlägt auch jemand den Disko-Hammer.

The Magic Position bedient sich durchaus der Hurra-Ästhetik der frühen achtziger Jahre, als Pop für eine kurze Zeit Avantgarde sein konnte, bevor George Michael und Wham! zum Ernst des Lebens übergingen. Es würde niemanden wundern, wenn Patrick Wolf Songs mit Marc Almond (Soft Cell) oder Kevin Rowland (Dexys Midnight Runners) aufgenommen hätte, beim Vertreiben der alten Dämonen aber kam ihm Pop-Ikone Marianne Faithfull zu Hilfe, mit verlebter Stimme. Was ja auch wieder passt, der Entertainer Wolf führt längst sein Leben als Musical auf. Im Video zu The Magic Position hat man ihm bunte Kulissen besorgt und viel Volk, das tanzt. Schaut her, das ist der neue Prinz Pop, bisexuell, mit breiter Brust und immer noch in kurzen Hosen: „You put me in the magic position / to live to learn to love / in the major key.“

„The Magic Position“ von Patrick Wolf ist erschienen bei Loog/Polydor

Dieser Text ist entnommen aus DIE ZEIT Nr. 21/2007

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Hauschka: „Versions Of The Prepared Piano“ (Karaoke Kalk 2007)
Electrelane: „No Shouts No Calls“ (Too Pure 2007)
Manic Street Preachers: „Send Away The Tigers“ (Red Ink 2007)
Wolke: „Ich will mich befreien“ (Tapete Records 2007)
Peter von Poehl: „Going To Where The Tea Trees Are“ (Herzog Records 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Immer rein damit!

Kronkorken und Alufolie, Filz und Klebeband, bei Volker Bertelmann alias Hauschka gehört das alles ins Klavier. Es ist die pure Lust am Imperfekten, die ihn treibt

Hauschka Prepared Piano

Wer einmal erlebt hat, wie aufwändig das Stimmen eines Klaviers ist, der versteht, weshalb viele Musiker seinen Klang für perfekt halten. Umso faszinierender ist, welchen Reiz die Zerstörung dieses perfekten Klangs auf viele Pianisten ausübt. Henry Cowell, John Cage, Arvo Pärt, Cor Fuhler, sie alle geben sich mit den 88 Hämmern nicht zufrieden, sie öffnen ihre Instrumente und streuen Grautöne zwischen die schwarzen und weißen Tasten.

Vor zwei Jahren nahm der Düsseldorfer Volker Bertelmann unter dem Pseudonym Hauschka ein Album am präparierten Klavier auf, The Prepared Piano. Er klemmte Lederfetzen, Filzstücke und Gummi zwischen die Saiten, umwickelte die Hämmer mit Alufolie, legte Gegenstände auf die Saiten, wob Gitarrensaiten ein und verband sie mit Klebeband.

Kronkorken hüpften durch den Korpus, stumpf schlugen die abgeklebten Saiten an – oder hörte man ein Schlagzeug? Mancher Klang war so verfremdet, dass er von einem Keyboard oder einer Gitarre stammen konnte. In Wirklichkeit war auf der Platte fast nur das Klavier zu hören. Gesang gab es keinen.

Bertelmann schwelgte nicht, seine Melodien wären auch ohne die Störklänge nicht romantisch. Traffic wirkte in seinem rastlosen Drängen wie eine Hommage an Jacques Tatis gleichnamigen dialogfreien Film von 1971. Immer wieder blieben die Klänge hängen, vielen Mustern wurde die harmonische Auflösung von dumpfem Hämmern verweigert. Bei Firn stolperten beinahe alle Töne, kaum eine Saite schien unpräpariert. Kein Wort bestand aus zufällig Hingeworfenem, einer Lockerungsübung gleich – knacken da Gelenke? Nur ganz selten tauchten hier melodiöse Muster auf, manchmal hieb er mehrmals auf die gesperrte Taste ein, immer vehementer, so als vermutete er irgendwo da unten einen freundlichen Klang. Die pure Lust am Imperfekten trieb ihn zu immer neuen Experimenten, klanglich und rhythmisch.

Hauschka Versions

Die Stücke dieser Platte sind nun die Grundlage für die Versions Of The Prepared Piano. Volker Bertelmann bat elf Musiker, seine Stücke mit ihren eigenen Mitteln weiter zustricken. Sie dürften dabei auch gern singen.

Legt man die CD in den Rechner, so ordnet iTunes sie dem Genre „Unclassifiable“ zu, das ist nur gerecht. Jeder der zwölf Musiker bastelt etwas Neues und vor allem Anderes aus dem Material. Den Anfang macht Eglantine Gouzy, sie fügt Two Stones nur ihre Stimme hinzu. Im Duett mit sich selbst singt sie eine zerbrechliche Melodie. Ähnlich funktionieren World Of Things To Touch von Tarwater und Morning von Mira Calix.

Die meisten anderen Musiker gehen weniger rücksichtsvoll mit Bertelmanns Geklimper um. Barbara Morgenstern legt über die hypnotisierenden Klänge von Where Were You eine leichte Keyboardmelodie, auch sie singt dazu. Bertelmann selbst macht aus Traffic eine säuselige Popnummer mit mehrstimmigem Gesang und Schlagzeugcomputer. Vert baut in das gleiche Stück Bläser und breites Synthesizer-Bratzeln ein, dazu rappt er. Twins wird in den Händen von TG Mauss zu einer treibenden Diskonummer.

Nobukazu Takemura und Frank Bretschneider nahmen sich jeweils das Stück Kein Wort vor, es sind die beiden einzigen Instrumentalstücke auf dem Album. Takemura zerstückelt das Ursprungsmaterial mit grobem Messer, wildgewordene Bandmaschinen verspulen sich dazu, der Rhythmus ist dahin. Bei Bretschneider hingegen brummt es düster, ein mechanisches Klopfen gibt Struktur.

Die Stücke bleiben Experimente, niemand schummelt das stolpernde Klavier soweit in den Hintergrund, dass man es nicht mehr hört. Ihre Stimmungen werden weiter getragen, hier und da taumeln auch die hinzugefügten Instrumente, Klänge und Stimmen ganz gehörig. Am interessantesten ist das Album dort, wo man Versionen und Herangehensweisen vergleichen kann, weil sich mehrere Musiker über das gleiche Stück hermachen.

Vor einigen Wochen stellte Pinky Rose an dieser Stelle Alva Noto vor und sein Prinzip, Klängen durch unzählige Kopiervorgänge die Graustufen zu nehmen. Bei Hauschka funktioniert es umgekehrt. Zwölfmal werden seine kargen Stücke aus dem Jahr 2005 auf den Kopierer gelegt, in diesem sitzt ein kleiner Gnom, der willkürlich Farbe auf die Walzen der Maschine aufträgt. Im Hintergrund sieht man noch das grieselige Original, davor tummeln sich nun bunte Kleckse.

„Versions Of The Prepared Piano“ von Hauschka ist als CD erschienen bei Karaoke Kalk, ebendort erschien im Jahr 2005 „The Prepared Piano“ als CD und LP

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Electrelane: „No Shouts No Calls“ (Too Pure 2007)
Manic Street Preachers: „Send Away The Tigers“ (Red Ink 2007)
Wolke: „Ich will mich befreien“ (Tapete Records 2007)
Peter von Poehl: „Going To Where The Tea Trees Are“ (Herzog Records 2007)
The Go Find: „Stars On The Wall“ (Morr Music 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Buddha am Alex

Sinnlich und verführerisch schaukelt der Groove, die Berlinerin Gudrun Gut legt uns ihre neue Platte auf.

Gudrun Gut I Put A Record On

Zarah und Paula sind zwei Berliner Mädchen von ungefähr zwölf Jahren. Sie filmen sich selbst, beim Spielen, beim Anprobieren zu großer Kleider, beim Posieren und Tanzen in der elterlichen Wohnung – überall. Hier tun sie es für das Video zum Eröffnungsstück Move Me auf Gudrun Guts neuer Platte I Put A Record On.

Was auf den ersten Blick wie eine von Millionen Amateuraufnahmen auf Meine-Peinlichkeiten.de anmutet, offenbart zur sanft schiebenden Tango-Polka und Frau Guts gehauchtem Gesang sehr schnell eine tiefere Geschichte. Diese Art der verschwörerischen gegenseitigen Beobachtung, der wortlos nach Vertraulichkeit tastenden Körpersprache, gibt es nur unter Mädchen und Frauen. Schon in verschiedenen Stilepochen der darstellenden Kunst tauchten sie am Rande auf mit ihrem Pas de deux der Selbstbespiegelung, als Malerinnen, als Fotografinnen, und später beim Film.

Heute übergibt die Altmeisterin des Berliner Elektro-Punk in ihrem Musikvideo die Stafette an die jungen Mädchen: Move Me – tragt es weiter, ihr zwei! Das ist fürwahr ein Stück Frauenbewegung, getanzt, gesungen, gefilmt, und schon für sich ein brillanter Auftakt. Gar nicht weit spannt sich der Bogen zu dem Video Celle, das der CD beigefügt ist, Pipilotti Rist hat es gedreht. Große Kunst also, aber eben nicht als künstlicher Überbau, sondern als folgerichtiger Weg, als Teil 2 dieser Frauengeschichte, diesmal zwischen den zwei großen Mädchen Gut und Rist, die sich lange kennen.

Mit der selben Nonchalance und Leichtigkeit ist man als Hörer versucht, im Laufe der CD die Bedeutungsschwere von Gudrun Guts Musikerinnenbiografie abzustreifen und hinter sich zu lassen. So sinnlich und verführerisch schaukelt der Groove durch die elf Stücke von I Put A Record On, da wird die kennerhafte Erbsenzählerei ganz nebensächlich. Steht Gudrun Guts Wirken in der Underground-Szene der achtziger Jahre im Gegensatz zu diesen sanften elektronischen Tönen? You Make Me Cry Easy heißt es im vierten Stück, die Gefühle liegen dicht unter der Oberfläche, es geht nicht um einfache Aufrechnungen. Die Rhythmen sind warm, der Sprechgesang in seiner flachen Melodik distanziert und doch eindringlich.

War der Techno-Boom im Berlin der neunziger Jahre prägend für Gudrun Guts Zugang zu elektronischer Musik? Als Grundgeschwindigkeit lässt sich ein beschleunigter Dub oder ein verlangsamter Techno ausmachen, House ist es von den musikalischen Zutaten her eher nicht. Doch die aberwitzigen Basshüpfer, der beinahe folkloristische Shuffle und der Zigeuner-Swing der Stücke wollen von Techno gar nichts wissen, lesen die Chronologie der Ereignisse quer zu eigenwillig sich wellenden Gefühlsmustern.

Wo bleibt auf einer Soloplatte der Kult-Status von Gudrun Guts Frauenbands Malaria! und Mania D? Im Stück Girlboogie 6, das bereits auf der Kompilation Girl Monster erschien, schreibt er sich fort als vernuschelte Oral History, souffliert von Maschinenbeats und Laptop-Klängen. Hänsel und Gretel summen, schubsen, singen, schieben sich durchs Nachtleben, geraten im Rhythmus von elektronischem Händeklatschen plötzlich in den Blätterwald. Dort raunt das Hutzelweib Beschwörungsformeln zur Walpurgis-Disco, die E-Gitarren kreischen ums Feuer, die Basstrommel wirft lange Schatten und lässt die Zweige in der Glut knacken. Es ging hoch her, Last Night, im Ocean Club vielleicht, Gudrun Guts jahrelanger Radio- und Veranstaltungsreihe.

Aus Schritten werden Drehungen, Schleifen, Loops, langsamer pumpen sie den Pleasuretrain durchs Trip-Hop-Dickicht. In diesem wie im folgenden Stück The Wheel leiht die Weggefährtin und Band-Kollegin Manon Duursma ihre Stimme, das Helle spiegelt sich im Dunklen. Hinter dem nächsten Blubbern aus der Rhythmusbox gluckst ein Country-Akkord, hinter dem nächsten Kirmesorgelrauschen wartet dein zweites Ich.

Gudrun Guts jüngste Identität ist die als Labelchefin von Monika Enterprise, der Berliner Plattenfirma für elektronische Spezialitäten. Mit ihrem Soloalbum I Put A Record On geht der Esprit des Punk nicht verloren, er trifft sich mit der Spiritualität elektronischer Liedschreibekunst auf leisen und verschlungenen Pfaden. Die Loops schleifen den Straßenstaub der Musikgeschichte mit sich wie der niedliche, schlaue Linus in den Peanuts-Comics seine schmutzige Schmusedecke. Und das magische Summen, die treibenden Elektroströme, das heisere Flüstern tönen, als säße Buddha mitten auf dem Alexanderplatz.

„I Put A Record On“ von Gudrun Gut ist als CD und LP erschienen bei Monika

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
A&E: „Oi!“ (Sonig 2007)
Alva Noto: „Xerrox Vol. 1“ (Raster Noton 2007)
2Raumwohnung: „36 Grad“ (it sounds/EMI 2007)
Diverse: „Girl Monster“ (Chicks On Speed Records 2006)
Diverse: „4 Women No Cry“ (Monika 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Das ist nicht Björk!

Augen zu, Ohren auf: A&E aus Paris jagen billige Keyboard-Klänge und glockenhelle Stimmen kreuz und quer durch traditionelle japanische Minyo-Musik.

A&E Oi!

Verstehst du die Dinge, wird alles eins;
Falls nicht, fällt alles entzwei.
Verstehst du die Dinge nicht, wird alles eins;
Falls doch, fällt alles entzwei.

Diese Worte des Zen-Meisters Mumon Ekai (1183-1260) beschreiben die Vielschichtigkeit von Klang und Musik. Strebsamkeit allein hat niemals gute Musik gemacht, pure Erfüllung gerät zum Scheitern. Musik über Musik zu machen ist folglich sehr schwer, denn die Grenze zwischen eigenem Ausdruck und bloßem Zitat ist fließend.

Das Duo A&E macht auf seinem Album Oi! genau das: Musik über Musik. Wie geht das? Geht der Klang zum Ohr oder geht das Ohr zum Klang? Mumon sagt:

Wenn du mit deinen Ohren hörst,
kannst du es nicht begreifen.
Wenn du mit deinen Augen hörst,
kannst du es begreifen.”

Versuchen wir es.

Wir hören — Verzeihung — sehen eine liebliche Stimme. Ein Glockenklang umgarnt ihre Geschichte, die von der Liebe handelt. Der Vortrag erinnert an einen friedlichen Tag im Garten. Dazu spielt eine Jazzgitarre hektische Skalen, scheppernde Drum’n’Bass-Rhythmen irren durch den Raum und kommen bei keiner Tanzfläche an. Ein Keyboard beschallt die Szenerie vom Rand aus, Rhythmus Nummer 18. Hier tummeln sich Franzosen mit Baguettes unter den Armen und Blumenketten über den Schultern. Die Sonne strahlt, jeden Moment könnte es Regen geben. A&E sind realistisch und exotisch zugleich. Zu jeder Sekunde spielen sie mit Klischees, aber sie brechen ab, bevor es peinlich wird.

A&E sind der Brite Andrew Sharpley und die Japanerin Emiko Ota. Sie leben in Paris und haben viele gemeinsame Kinder. Oi! ist ihr drittes Album. Ota singt und spielt teure Perkussion-Instrumente und erlesene Trommeln. Sharpley bedient billige Keyboards und Sampler, seine Elektronik klingt lebendig, mehr nach Kapelle als nach Computer. A&E ist nicht sein einziges Projekt, mit Stock, Hausen & Walkman zerlegte er Hammondorgeln und Popstücke, mit Dummy Run erforscht er die Grenzen der Nervosität.

Auf den vorherigen Alben des Paares ging es elektronischer und punkiger zu. Wilde Schnippeleien reihten sich an Andeutungen im Sekundentakt. Das neue Album ist fast beschaulich. Früher haben sie viel geschrien, nun verfolgen sie ein anderes Konzept. Oi! ist um vier Minyo-Stücke herum aufgebaut, japanische Folklore, spannend und unberechenbar umgesetzt. Emiko Otas Stimme erzählt und bringt Ruhe und Langsamkeit. Andrew Sharpleys Elektronik rödelt dazu, sie bildet einen Gegenpol.

Die Verbindung von Folklore und Elektronik funktioniert erstaunlich gut. Die Mischung der Stile ist subtil und collagenhaft, nie ist sie persiflierend oder albern. Oi! ist nicht nur für Zen-Meister interessant.

„Oi!“ von A&E ist als Digipak-CD erschienen bei Sonig

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
Alva Noto: „Xerrox Vol. 1“ (Raster Noton 2007)
2Raumwohnung: „36 Grad“ (it sounds/EMI 2007)
Diverse: „Girl Monster“ (Chicks On Speed Records 2006)
Diverse: „4 Women No Cry“ (Monika 2006)
DAF: „Alles ist gut“ (EMI 1981)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Tuff, Tuff, Tuff

Der Rhythmus ist stoisch, der Bass treibt eintönig. Davor dröhnen Keyboards, die Gitarrenlinien pulsieren. Electrelanes Spiel mit der Wiederholung wird nie langweilig.

Electrelane No Shouts No calls

Die Repetition hat eine lange Geschichte in der Popmusik. Schon vor dem Minimalismus von Velvet Underground spielte der amerikanische Gitarrist Bo Diddley mechanische Rhythmen, gleichförmig und präzise wie der Takt einer Lokomotive. In den Siebzigern trieben vor allem die deutschen Gruppen Kraftwerk und Can das Prinzip zur Perfektion.

Auch das Quartett Electrelane aus Brighton macht sich dieses Spiel mit der Wiederholung zu Eigen. Auf dem letzten Album Axes gab es mit Gone Darker sogar ein Stück, in dem die Musikerinnen das Bild der Lokomotive konkret aufgriffen. Man hört, wie sich ein Güterzug nähert, wie er vorbeidonnert und sich entfernt.

So seien klassische Rocklieder aufgebaut, erklärt Verity Susman, die Sängerin und Keyboarderin der Band, zumindest die Lieder von Electrelane. Meist beginnen sie zaghaft und leise, um sich dann plötzlich zu steigern und Spannung aufzubauen und diese zu halten. Irgendwann lassen sie die Stücke einfach ausklingen, ohne sie zu einem wirklichen Höhepunkt geführt zu haben.

In der repetitiven Musik Electrelanes geht es – wie auch schon in den endlosen Improvisationen bei Can – um die Freiheiten, die die Wiederholung bietet. Der stetige Rhythmus der Schlagzeugerin Emma Gaze ermöglicht der Bassistin Ros Murray und der Gitarristin Mia Clarke, ihre zunächst monotonen Linien in viele Richtungen aufzubrechen. Verity Susman wechselt derweil zwischen Synthesizer, Farfisa-Orgel, Keyboard und Klavier und gibt jedem Stück eine eigene Klangfarbe. Freiheit bedeutet ihnen nicht das Zurschaustellen von Virtuosität. Bis auf Susman sind die Musikerinnen Autodidaktinnen, Susman sagt, sie habe erst verlernen müssen, was sie konnte. Freiheit ist stattdessen die Möglichkeit, jederzeit die Richtung ändern zu können, ohne dass die Musik auseinanderfällt.

Ihr Debüt Rock It To The Moon von 2001 war noch weitgehend instrumental, erst mit dem zweiten Album The Power Out näherten sie sich klassischen Strukturen, sie sangen auch häufiger. Auf dem im vergangenen Jahr erschienenen Album Axes trieben sie die Prinzipien von Wiederholung und Variation weiter. Ein Männerchor kam zu unorthodoxem Einsatz, das Quartett führte ungewöhnliche Instrumente wie Akkordeon und Ukulele ein. Es übte sich sogar in freier Improvisation und verzichtete dabei ausnahmsweise auf das monotone Grundmuster.

Das vierte Electrelane-Album No Shouts No Calls ist in Berlin entstanden, Verity Susman lebt dort. Es ist eine richtige Pop-Platte geworden, voller Liebeslieder vom Kennenlernen, vom Kontrollverlust und vom Verlassenwerden. Sie sind eingängig und immer etwas melancholisch. Das Fundament bleibt die Repetition, der stoische Rhythmus, die markanten Linien der Gitarre, der flexible, aber treibende Bass und die pulsierenden Keyboard-Akkorde.

Das Album besteht aus einer Vielfalt von Texturen und schimmernden Harmonien. Die Schönheit der häufig mehrstimmig gesungenen Stücke und die Kraft des stetigen Rhythmus wirken geradezu euphorisierend.

„No Shouts No Calls“ von Electrelane ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Too Pure/Beggars Banquet

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Manic Street Preachers: „Send Away The Tigers“ (Red Ink 2007)
Wolke: „Ich will mich befreien“ (Tapete Records 2007)
Peter von Poehl: „Going To Where The Tea Trees Are“ (Herzog Records 2007)
The Go Find: „Stars On The Wall“ (Morr Music 2007)
Brett Anderson: „Brett Anderson“ (V2 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Fjord Bop

Die Landschaft seiner norwegischen Heimat hat den Trompeter Arve Henriksen geprägt. Die Natur klingt mit in jedem Ton des Albums „Strjon“.

Arve Henriksen Strjon

Als der norwegische Trompeter Arve Henriksen einige der Stücke wiederhört, die er 20 Jahren zuvor in seinem Heimstudio aufnahm, wird er neugierig. Bei einem Stück hatte er zum ersten Mal einen DX-21 Synthesizer von Yamaha benutzt, damals war er 19. Er spielt es seinem Produzenten Helge Sten vor, der ist begeistert. Gemeinsam hören sich die beiden unzählige Kassetten, DATs und Mini-Discs aus Henriksens Anfangszeit an und suchen Material aus, mit dem sie weiterarbeiten können. Als eine Kombinationen aus diesen improvisierten elektronischen Sequenzen aus den vergangenen 20 Jahren und einigen Neuaufnahmen entsteht Henriksens dritte CD: Strjon.

Henriksen begann mit Folklore, später spielte er in einer Marching Band und studierte Jazzimprovisation. Die japanische Bambusflöte lernte er durch eine Kassette kennen, die ihm der norwegische Trompeter Nils Petter Molvær gab. Mit Helge Sten erforschte Henriksen nun seine Einflüsse und Prägungen. Er fand heraus, wie wichtig ihm die Natur ist. Besonders in seinen frühen Aufnahmen spüre er diese Beziehung in jedem Ton, sagt er. Das drückt sich auch in den Titeln aus. Glacier Descent erinnere ihn an das Besteigen eines Gletschers, an eine lange Reise. Die grüne Färbung, die die Seen seiner Heimat im Frühjahr durch die Schneeschmelze bekommen, beschreibt er in Green Water. Black Mountain sei inspiriert von dem Moment, in dem sich die Sonne hinter den Bergen verstecke, wenn sie fast schwarz aussehen.

Käme er aus New York, würde er anders spielen, sagt Henriksen. Die nervösen Rhythmen einer Metropole, der Bebop und der Post Bop, passten nicht zu Norwegen. Dort lebten vier Millionen Menschen zwischen Fjorden und Bergen – es sei klar, dass man den Raum in der Musik höre. Der amerikanische Saxofonist Branford Marsalis sagte deshalb einmal, der norwegische Jazz sei eine neue Art von New-Age-Musik. Henriksen stört die Wucht der Natur nicht. Modernen Komponisten der E-Musik wie György Ligeti, György Kurtág und Olivier Messiaen stehe er kulturell und musikalisch näher als den Amerikanern und ihrer Jazztradition. Über Jazz könnten er und seine norwegischen Musikerfreunde in Büchern lesen, aber es sei nicht ihr kulturelles Erbe.

„Strjon“ von Arve Henriksen ist erschienen bei Rune Grammofon/Cargo

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Cor Fuhler: „Stengam“ (Potlatch 2006)
Metheny/Mehldau: „Quartette“ (Nonesuch 2007)
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik