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Rock’n’Roll in 17 Stichen

Die Manic Street Preachers wollten eine einzige Platte aufnehmen und sich danach auflösen. „Send Away The Tigers“ ist nun ihre achte.

Manic Street Preachers Send Away The Tigers

Ist das Kim Wilde? „Your love alone is not enough, not enough, not enough. When times get tough, they get tough, they get tough, they get tough.“ Wenn die Zeiten hart, hart, hart sind, ist auch deine Liebe nicht genug, genug, genug, klar. Zeilen, die dem Popsternchen und Männertraum der Achtziger durchaus gut stünden, stumpf gereimt und ein bisschen doof. Kim Wilde würde gut zu den hier musizierenden Manic Street Preachers passen. Schließlich nahmen sie bereits das Stück Little Baby Nothing gemeinsam mit der wenig gesangsbegabten Pornodarstellerin Traci Lords auf.

Es ist nicht Kim Wilde, es ist Nina Persson, Sängerin der schwedischen Popgruppe The Cardigans. Ihr dünnes Stimmchen verrät sie in der ersten Minute von Your Love Alone Is Not Enough, der ersten Single des neuen Albums der Manic Street Preachers Send Away The Tigers. Ein schwaches Lied, inklusive „La la la la la la la la“-Gesäusel.

Es ist ihr achtes Album, bei ihnen wird gerne argwöhnisch mitgezählt. Im Jahr 1992 veröffentlichten sie ihr Debüt, Generation Terrorists. In unzähligen Interviews erläuterten sie ihren Plan: ein einziges Album veröffentlichen, davon mehr Exemplare verkaufen, als Guns ’n’ Roses von Appetite For Destruction, drei Abende hintereinander im ausverkauften Wembley-Stadion spielen und sich dann auflösen. Damals beliebte Bands hielten sie für „worse than Hitler“, im Video zu You Love Us trat der Bassist Nicky Wire als Marilyn Monroe auf, in Thailand erreichten sie ein Auftrittsverbot, nachdem sie der königlichen Familie dort den Tod gewünscht hatten. In einem Interview mit dem BBC-Moderator Steve Lamacq ritzte sich der Gitarrist Richey James mit einer Rasierklinge 4 Real in den Arm. Siebzehn Stiche machten ihn zur Ikone.

Die vier Musiker aus Wales betonten nimmermüde, wie ernst sie es meinten. Und ihr Plan erfüllte sich zu einem Hundertstel. Von Generation Terrorists wurden eine Viertelmillion Exemplare verkauft, von Appetite For Destruction indes 25 Millionen. In London spielten sie zweimal vor 900 Menschen im Marquee Club, in Wembley wären es 90.000 gewesen. In Deutschland traten sie auf im Vorprogramm der Toten Hosen. Auflösen konnten sie sich besser: Nachdem ihre ruppiges drittes Album The Holy Bible erschien, verschwand plötzlich Richey James. Sein Auto wurde an der Severn Bridge gefunden, der Grenzfluss zwischen Wales und England ist dort beinahe einen Kilometer breit. Vom Musiker fehlt bis heute jede Spur.

Als Trio machten sie weiter und nahmen mitreißende Alben auf, Everything Must Go erschien im Sommer 1996 und This Is My Truth Tell Me Yours zwei Jahre darauf, beide wurden mit dem Brit Award für das beste Album belohnt. Danach ging’s musikalisch bergab. Ihr letztes Album, Lifeblood, klang gepflegt nach Langeweile. Die Ironie der früheren Jahre, der Glam und der Punk waren verschwunden. Ihre Gesten gerieten immer größer, der glatte Bombast ihrer Stücke begann zu nerven. Gar die Hülle der letzten Platte glänzte aufdringlich. Derweil gaben sich die Musiker als große Sozialisten, besuchten Fidel Castro und sangen ein Lied für Elián Gonzáles, ein Kind, das zum Politikum zwischen Kuba und den USA geworden war.

Send Away The Tigers ist ein kleiner Schritt nach vorne, immerhin. Es ist weniger geschliffen, die Stücke sind wieder besser. Vieles klingt typisch: die getragenen, hallenden Gitarren, das einfache Bum-Tschak des Schlagzeugers Sean Moore, die hymnischen Refrains und die zitatreiche Lyrik. Besonders gelungen ist das rockige Underdogs, es versprüht diese renitente Attitüde der frühen Jahre, verpackt Sozialromantik in punkige Akkorde. Der Autumnsong baut auf einem ergreifenden Gitarrenmuster auf, im Mittelteil wird leider ein bisschen zu viel geklatscht. The Second Great Depression besticht durch ein düster gestrichenes Cello und eine schöne Melodie. Mit gepresster Stimme beklagt James Dean Bradfield in Rendition die Folterpraktiken der CIA, „Never knew the sky was a prison“. So was hört man gerne von ihm, auch wenn das Lied sonst lahm daherkommt.

Vieles vom Rest klingt verfettet und satt. Hier ein Schunkelrhythmus (Indian Summer) und ein übertriebenes Gitarrensolo (Imperial Bodybags), dort eine Reminiszenz an den peinlichen deutschen Metal der Achtziger (Rendition) und ein zu billiger „Nanana“-Refrain (Winterlovers). Unübertroffen schlecht ist die Single Your Love Alone Is Not Enough.

Zehn Stücke sind es insgesamt, die Bilanz wäre wohl ausgeglichen, fünf zu fünf. Wenn es nicht ganz am Ende, einige Minuten nach dem eigentlich abschließenden Stück Winterlovers, plötzlich weiter tönen würde: „As soon as you’re born they make you feel small, by giving you no time instead of it all. Till the pain is so big you feel nothing at all“, krächzt James Dean Bradfield sich durch eine unerträglich dick aufgetragene, bluesrockige Version von John Lennons Working Class Hero aus dem Jahr 1970. „If You Wanna Be A Hero, Just Follow Me“. Bei Lennon klang das noch ironisch.

Knapp verloren. Schade.

„Send Away The Tigers“ von den Manic Street Preachers ist als CD und LP erschienen bei Red Ink.

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Klavierstimmers Tipp

Mit Supermagneten verändert Cor Fuhler die Klänge seines Instruments. Nun hat er auf diese Art ein ganzes Album improvisiert: „Stengam“.

Cor Fuhler Stengam

Magnetfelder überlagern sich und erzeugen Spannung, Dichte und Töne. Sie bewegen das Universum, bestimmen die Gezeiten und Strömungen, die geheimnisvollen Wellenmuster auf dem Meeresboden, walten zwischen den Polen, zwischen Nord und Süd. Metalladern ziehen sich rund um den Globus durch den Erdboden.

Magnetfelder sind auch das Thema des Pianisten und Klangforschers Cor Fuhler auf seinem Album Stengam. North-South heißt das erste Stück darauf, ein anderes heißt Ferrous, Eisen. Herzstück der Aufnahmen ist das Stück Stengam, das rückwärts geschriebene Wort für Magnets, Magnete. Rund einhundert davon verwendete Fuhler zur Verfremdung der Klänge seines Klaviers.

Seit über zwanzig Jahren experimentiert der 1964 geborene Holländer mit solchen Klangerweiterungen. Auf die Idee mit den Magneten brachte ihn sein Klavierstimmer. Die besonders starken Magnete, sogenannte Supermagnets, werden auf die Klaviersaiten gelegt, um ihre Schwingungseigenschaften zu verändern. Fuhler hat etwa einhundert dieser Magnete zu Hause, zehn bis zwanzig davon nimmt er zu seinen Konzerten mit. Die Schwingungen der angeschlagenen Saiten verlängert er mit Hilfe von E-Bows, speziellen Effektgeräten, die in den siebziger Jahren für Gitarren entwickelt wurden.

Stengam ist ein ungewöhnliches, experimentelles Album. Eingespielt wurde es rein akustisch, neben dem Klavier kamen nur E-Bows und Magneten zum Einsatz. Doch es klingt wie ein ganzes Ensemble aus Bläsern, Streichern und Perkussionisten, erweitert durch das Rauschen von Sinuswellen und Obertongesänge einsamer Bergmönche. Die Musik ist vollständig improvisiert, aus dem Moment entstanden. Viele der Klänge muten elektronisch an, es entstehen sparsame, düster urbane Klanglandschaften. Fuhler betont, dass die Klänge für ihn nichts Maschinelles haben, sondern etwas Leichtes. Und dass er es schätzt, wenn sich die Rezeption der Hörer von seiner eigenen unterscheidet.

Im Jahr 1995 nahm er sein erstes Solo-Album mit einem elektronisch präparierten Klavier auf. Er spielte unter anderem mit George Lewis, John Zorn und Roswell Rudd, seine eigenen Projekte sind ein Trio mit dem Schlagzeuger Han Bennink und dem Bassisten Wilbert de Joode, das Corkestra mit zwei Schlagzeugern und diversen Streichinstrumenten und das Cortet mit dem Saxofonisten John Butcher.

Fuhler ist Teil einer neuen Bewegung reduzierter improvisierter Musik, die geografisch weit verzweigt ist und sich über das Internet organisiert. Es gibt für die Musiker kaum regelmäßige Auftrittsorte, die Konzerte werden auf den musikereigenen Internetplattformen angekündigt oder auf kleinen Festivals für experimentelle Musik präsentiert.

Stengam hat er selbst aufgenommen und produziert. Sein Conundrum-Studio ist ein selbstgebauter Schuppen in seinem Garten in Amsterdam, gerade groß genug für den Flügel und zwei Computer. Viele Musiker aus der Szene würden heute so arbeiten, erzählt er. Das kleine französische Label Potlatch bietet seiner Musik nun ein Forum, auch wenn die Aufnahmen nur in kleinen Auflagen erscheinen. Für diese Musik gäbe es eben kaum Publikum, sagt er, sie werde vor allem von den Musikern selbst gehört.

„Stengam“ von Cor Fuhler ist als CD erschienen bei Potlatch Records

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Tänze im Keller

Medeski, Martin & Wood begeistern junge Hörer mit Hammondorgel und pumpenden Rhythmen. Auf „Out Louder“ spielt der alte John Scofield Gitarre dazu.

Medeski Scofield Martin and Wood Out Louder

Vor knapp zehn Jahren nahmen der Gitarrist John Scofield und das Trio Medeski, Martin & Wood gemeinsam die Platte A Go Go auf. Nun kooperieren sie ein zweites Mal, Out Louder heißt das Ergebnis. Aufgenommen haben sie das Album im Studio des Trios, einem Keller in Brooklyn. Der Bassist Chris Wood berichtet, dass dies die Aufnahmen der Band ganz wesentlich beeinflusst habe, wie eine hungrige Garagenband seien sie sich vorgekommen. Hungrig nach neuen Klängen und Rhythmen, fesselnden Akkorden und Melodien.

Wie immer, wenn Medeski, Martin & Wood ins Studio gehen, spielte die Spontaneität eine wichtige Rolle. Sie kennen sich mit Jazz, Funk, Rock und Reggae aus, in jüngster Zeit wirkten der Schlagzeuger Billy Martin und der Keyboarder John Medeski auch auf verschiedenen New Yorker Avantgarde-Platten mit. Beim Musizieren mit dem Jazzgitarristen John Scofield wollten sie nun Stücke aufnehmen, die zum Tanzen animieren.

Ihr Publikum in Amerika ist sehr jung, es ist die zweite Generation einer Bewegung, die schon vor zehn Jahren große Erfolge feierte: Jam Band. Nicht der Musikkonsum aus der Konserve steht im Mittelpunkt, sondern die – manchmal stundenlange – Improvisation und das Dabeisein. Inspiriert ist die Bewegung von der Hippie-Band Grateful Dead.

Nun also Out Louder: Das Eröffnungsstück Little Walter Rides Again bedient sich eines Stücks des Chicagoer Bluesmundharmonikaspielers Little Walter, Miles Behind ist eine freie Quartettimprovisation, angelehnt an die elektrische Periode von John Scofields einstigem Bandchef Miles Davis. Kitschig klingen die beidem Cover-Versionen des Albums: John Lennons Julia und Peter Toshs Legalize It.

Im Gespräch betont John Medeski gerne den Unterschied zwischen Geschäft und Musik und die Notwendigkeit, beides zu bedienen. Out Louder klingt dennoch wenig kalkuliert. Selbst in den süßlichen und schlichten Passagen scheint noch die Radikalität durch, die diese Band für sich beansprucht. Nach einer langen Zusammenarbeit mit dem Jazzlabel Blue Note erschien das Album in den USA auf dem eigenen Label der Band, Indirecto Records. In Europa wird es nun durch die Universal Music Group veröffentlicht, ergänzt um eine Bonus-CD mit Live-Aufnahmen ihresletztjährigen Auftritts im Bowery Ballroom in New York City.

Einzigartig seien Medeski, Martin & Wood, sagt John Scofield. Und, ja, selten wirkt eine Band so glaubwürdig, die Unabhängigkeit tut ihr gut.

„Out Louder“ von Medeski Scofield Martin & Wood ist als Doppel-CD erschienen bei Emarcy/Universal

Lesen Sie hier das Interview, das Christian Broecking mit Medeski, Scofield, Martin & Wood geführt hat

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Calypso aus Sheffield

“Favourite Worst Nightmare” von den Arctic Monkeys ist in seinem tropischen Mittelteil neu und gut. Der Rest klingt, als kopierten sie sich bloß.

Arctic Monkeys Favourite Worst Nightmare

Lieber Leser,

Geschichten über die Arctic Monkeys sind mühsam zu lesen und noch mühsamer zu schreiben. Denn die Erfolge der Rockband aus Sheffield werden seit einem Jahr immer wieder durchgekaut. Daher vorweg: In diesem Text wird nicht über Web 2.0 geredet. Nicht über Internetdownloads. Nicht über Verkaufszahlen britischer Debütalben. Auch nicht über das Alter der Band. Und MySpace? Vergessen Sie’s! Falls Sie, lieber Leser, mehr über diese Themen wissen wollen, klicken Sie einfach hier. Oder hier. Dort dürften Sie fündig werden. Es wäre nett, würden sie danach hier weiterlesen. ––

Wieder da? Wie schön. Sie wollen jetzt sicher wissen, wie das neue Album Favourite Worst Nightmare klingt. Es beginnt stürmisch. Ein Trommelfeuer, der Bass schnarrt und die Gitarre klingt, als werde sie mit rostigen Nägeln gespielt. Brianstorm heißt das Lied. Der Sturm legt sich bald, Struktur kommt ins Lied, ein körniger Basslauf treibt es an. Aber die Stimme? Ein Verzerrer malträtiert den Yorkshire-Akzent des Sängers Alex Turner. Es rauscht und krächzt. Die Silben sind schwer zu verstehen. Aus „don’t“ wird „dun“, „something“ wäscht aus zu „summat“.

Ruppig geht es weiter. Kaum ein Lied ist länger als zweieinhalb Minuten. Ein kantiger Bass baut das Grundgerüst. Simple Muster spielt er, sie klingen nach gut abgehangenem Funk und ein bisschen nach Punk. Vier Lieder lang donnern die Arctic Monkeys furios, als hätten sie keine Lust mehr, über Disko-Plattenteller gescheucht zu werden. Und diese ständigen Rhythmuswechsel, dazu kann kein Mensch tanzen. Der Schlagzeuger soll Box-Unterricht genommen haben, damit seine haarsträubenden Wirbel ihn nicht aus der Puste bringen. Mit dem fünften Stück wird’s milder auf Favourite Worst Nightmare.

Ein tropischer Wind bläst durch Sheffield. Palmen wiegen sich zwischen Thatcher’schen Zweckbauten, lässige Gitarren kehren ein: Fluorescent Adolescent gerät zu einer schwelgenden Calypso-Nummer. Es folgt Only Ones Who Know, eine Ballade! Ein bisschen missglückt kräht der mehrstimmige Gesang, aber hat man so was erwartet? Und dass der rotzige Alex Turner plötzlich Sätze singt wie: „True romance can’t be achieved these days“? Nein, oder? Das wehmütige Do Me A Favour beschließt die Ruhephase. Es ist das schönste Lied des Albums. „Do me a favour and unbreak my nose“, fleht Turner und jetzt könnte die Platte zu Ende sein. Aber nein. Kurzes Luftholen, bevor der Verzerrer wieder zugeschaltet wird. Aufs Neue schrubben die Gitarren los. Schade.

In den schnellen Stücken fällt zuweilen auf, wie sehr sie sich ähneln – und wie sehr sie denen des vorigen Albums ähneln. Natürlich, sie sind besser aufgenommen. Der jugendliche Ungestüm von vormals klingt nun kalkuliert. Sie mühen sich nach einem zweiten „I Bet You Look Good On The Dancefloor“, doch es wirkt, als imitierten sie sich selbst. Und das in diesen jungen Jahren! Immerhin, der Mittelteil des Albums weckt Hoffnung. Und vielleicht ist ihr nächstes Album ja eines für lauschige Stunden? Ohne Wut und Rebellion. Das wär doch was.

„Favourite Worst Nightmare“ von den Arctic Monkeys ist erschienen bei Domino/Rough Trade

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Krach wie früher

Die Indie-Rocker Dinosaur Jr. sind zurück, in der Original-Besetzung des Jahres 1987. „Beyond“ klingt, als wäre es von damals: scheppernd, sumpfig, dreckig.

Melody and Noise, Melodie und Geräusch, das war die Devise der Stunde im alternativen Rockgeschehen vor zwanzig Jahren. Die drei Platten, die das am besten umsetzten, waren Isn’t Anything von My Bloody Valentine, Candy Apple Grey von Hüsker Dü und You’re Living All Over Me von Dinosaur Jr. Verglichen mit diesen Bands erscheint ein Großteil des heutigen Indie-Rock handzahm und lahm.

You’re Living All Over Me war das zweite Album von Dinosaur Jr., sie schufen darauf ihre eigene Mischung aus Punk und Metal. Ergreifende Melodien bahnten sich ihren Weg durch meterdicken Lärmschlamm, es klang, als hätte Neil Young unter dem Einfluss aufputschender Drogen mitgewirkt.

In der Urbesetzung aus J. Mascis, Lou Barlow und Murph legte Dinosaur Jr. kurze Zeit darauf mit Bug ein weiteres Meisterwerk vor. Danach verließ der Bassist Lou Barlow die Band, um sich seinem eigenen Projekt Sebadoh zu widmen. Der Gitarrist und Sänger J. Mascis nahm in den folgenden zehn Jahren – anfangs unterstützt vom treuen Schlagzeuger Murph – vier weitere Alben auf. Die waren voller schöner Melodien und bezaubernden Arrangements, weniger krachig. Auf der Bühne fehlte der Gegenpol zu Mascis’ ausladenden Gitarrensoli. Nicht selten artete das in hemmungsloses Gegniedel aus – ein typisches Verfallssymptom alternder Rocker. Es wurde noch schlimmer, als Mascis Dinosaur Jr. im Jahr 1998 auflöste und zwei Platten unter seinem eigenen Namen veröffentlichte.

Im vergangenen Jahr tourten Dinosaur Jr. erstmals seit 18 Jahren wieder in der Originalbesetzung und gaben ohrenbetäubende Konzerte, die viele Fans ratlos zurückließen. War das jetzt wirklich großartig oder nur ein nostalgischer Reflex?

Jetzt gibt es mit Beyond eine neue Platte. Sie beginnt mit einem Gitarrensolo von J. Mascis, unterlegt mit einem infernalischen Lärmteppich. Lou Barlow ist wieder da und mit ihm dieser verzerrte Bass-Klang, der weniger Rhythmus denn Textur ist – pures Geräusch. Er ist das Gegengewicht, das Mascis quecksilberartige Soloergüsse brauchen. Murph poltert dazu wie eh und je und treibt so die Musik voran. Die Stücke sind fantastisch, J. Mascis ist immer noch ein hervorragender Schreiber. Zwei Stücke stammen von Lou Barlow, sie verhalten sich zu Mascis‘ Stücken wie Mitte der Siebziger die Stücke von Stephen Stills auf Neil Youngs Alben: Sie sind die Ruhepole mit Harmoniegesang inmitten der rastlosen Eigenwilligkeit.

Das Erstaunlichste an dieser Platte ist, dass sie sich den derzeit üblichen Klangidealen komplett verweigert. Hier gibt es nicht die im Studio zu Tode komprimierten Klangblöcke, die heutzutage als Härte gelten. Beyond klingt scheppernd, sumpfig und dreckig, als sei es im Jahr 1987 entstanden.

Mit Nostalgie hat das nichts zu tun.

Sehen Sie hier das Video zu „Been There All The Time“

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Am Rande der Party

Über die Jahre (22): Wie minimaler Techno funktioniert – die Berliner Medienkünstler Rechenzentrum zeigten es im Jahre 2001 mit einer Platte für John Peel. Sie klingt immer noch gut.

Rechenzentrum Zhe John Peel Sessions

Am besten setzt man sich auf den Boden und rückt die Lautsprecher an sich heran. Einen neben das linke Ohr, einen neben das rechte. Dann lässt man die CD laufen, dreht die Lautstärke weit auf und schließt die Augen. Auf der Innenseite der Lider beginnt ein Film – manchmal gruselig, dann düster, immer intensiv. Man hält die Luft an und lauscht.

Als das Album The John Peel Session von Rechenzentrum im Jahr 2001 erschien, war es außergewöhnlich für das Genre. Es richtete sich nicht an Clubs und Tanzwillige, das Album klang nach den Rändern der Party. Rechenzentrum machten viel aus wenig, auch heute noch ist es eines der besten Minimal-Techno-Alben.

An der Oberfläche sind die Stücke klar, zurückhaltend und geordnet. Wie eine Hand legt sich die Musik auf den Kopf des Hörers und hält ihn ruhig. Regelmäßige Elektrostöße kontern die Ruhe, von Innen her zwirbelt und treibt und drückt es. Das Konzept liege darin, sagt Marc Weiser von Rechenzentrum, „möglichst viele Klänge, die normalerweise nicht einer Funktionalität unterliegen, miteinander zu kombinieren“. Versteht man das, dann versteht man, wie Techno bei Rechenzentrum funktioniert.

Das erste Mal gemeinsam aufgetreten sind Christian Conrad und Marc Weiser bei der documenta X im Jahr 1997. Seitdem reisen sie gemeinsam um die Welt, gerne auch mal als Vorzeige-Deutsche für das Goethe Institut und oft in Kooperation mit anderen Musikern. Ihr erstes Album erschien im Jahr 2000, daraufhin lud der englische Radiomoderator John Peel sie ein, Stücke für seine legendäre Radiosendung aufzunehmen. Nach nur drei Jahren als Band wurden sie in den Musikadel aufgenommen, neben Rockgrößen wie Led Zeppelin, Queen, Nirvana und den White Stripes. In ihrem eigenen Studio spielten die beiden Musiker sieben neue Stücke für die BBC ein, erstmals nahmen sie neben Geräuschschnipseln von ratternden Eisenbahnen, bedrohlich klingenden Kirchenglocken oder hallend tropfenden Wasserhähnen auch Instrumente und Gesang zur Hilfe. Das macht die Stücke rund, sie lassen sich nicht so einfach als Experiment abtun. Manchmal möchte man zwischen den Lautsprechern aufspringen, um die Hüften zu schwingen. Veröffentlicht wurden die für die Session aufgenommenen Stücke mit vier weiteren im folgenden Jahr auf dem Berliner Label Kitty-Yo.

Rechenzentrum sind eher Medienkünstler als eine richtige Band. Zur Musik treten Videoinstallationen und Filmschnipsel von Lillevän. Bei Konzerten ist das ein Gesamterlebnis. Ihre letzte CD Director’s Cut gab es zusammen mit einer DVD, auf der man sich das ganze Album als Film anschauen konnte, auch auf The John Peel Session gibt es Multimedia. Das zu Sehende ist immer abstrakt, es sind keine Musikvideos im klassischen Sinn. Manchmal mutet es an wie ein Ersatz psychoaktiver Substanzen.

The John Peel Session ist eine Platte, die den bebrillten Kunstmagazinleser genauso fesseln kann wie den aufgeputschten Tänzer. Anhänger elektronischer Musik hielten sie damals für eine Offenbarung, viele andere Hörer führte sie an elektronische Musik heran.

„The John Peel Session“ von Rechenzentrum ist im Jahr 2001 bei Kitty-Yo erschienen, im Herbst kommt ein neues Album der Gruppe. „Director’s Cut“ wird dieser Tage wiederveröffentlicht.

Hören Sie hier „Ahab“

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(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Auf Englisch noch blöder

Guns n‘ Roses, Queen, Whitney Houston und Daft Punk haben etwas gemeinsam: Ihre Stücke werden von dem Kölner Duett Wolke nachgespielt

„Ich will mich befreien, ich will mich be-he-freien! Ich will mich befreien, denn du brauchst nur dich selbst, deine Lügen die brauch ich nicht. Ich muss mich befreien, Gott weiß, ich will mich befreien.“ Das klingt irgendwie bekannt? Freddy Mercury schmachtete diese Zeilen vor dreiundzwanzig Jahren ins Mikrofon – auf englisch natürlich: I Want To Break Free. Im Hintergrund litt sich seine Band Queen nicht weniger leidenschaftlich durch ein bombastisches Rockstück. Und hier? Ein Klavier spielt ein sanftes pling-pling-pling-pling, dazu ein freundlicher Bass und ein elektronischer Rhythmus, zurückhaltend, fast weinerlich gesungene Worte. Was ist das?

Ich will mich befreien ist das Titelstück eines Minialbums des Kölner Duetts Wolke. Sie interpretieren darauf fünf sehr unterschiedliche Lieder aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Da sind zu hören Stücke von Queen, den kalifornischen Rockern Guns n’ Roses, dem Soulpopsternchen Whitney Houston, von Daft Punk aus Frankreich und der Frankfurter Tanzkombo Snap.

Wolke, das sind Oliver Minck und Benedikt Filleböck. Ihre behutsam arrangierte Popmusik tragen sie mit Bass und Klavier vor, dazu singen sie, ein programmiertes Schlagzeug ploppt die Rhythmen. Der Name passt, bei Wolke klingt alles leicht. Zwei Alben haben sie bisher veröffentlicht, Sušenky (2005) und Möbelstück (2006), Sušenky ist tschechisch und heißt Süßigkeit, auch das passt.

Ein Xylophon gibt den Takt vor in Um die Welt rum, dazu werden ein paar Akkorde auf dem Bass geschrammelt, später klatscht es programmiert, jemand spielt Harmonium. Die französische Band Daft Punk schrieb das Original, Around The World. Viel zu übersetzen gab es in diesem Fall nicht, sie singen nur immer wieder „Um die Welt rum“, zweiundvierzig Mal. Es fällt auf, wie übertrieben lang die Originale sind. Around The World muss nicht sieben Minuten dauern, Wolke kommen mit drei Minuten aus.

Sweet Child O’ Mine kürzen sie von sechs auf viereinhalb Minuten und nennen es Mein süßes Kind. Das Gitarren-Gezeter des Guns n’ Roses Gitarristen Slash wurde vor einigen Jahren vom amerikanischen Magazin Guitar World unter die besten einhundert Gitarrensoli gewählt, das einleitende Gitarrenmuster galt den Lesern des britischen Magazins Total Guitar als das beste aller Zeiten. Es hilft alles nichts, Wolke ersetzen es durch ein gesäuseltes „Badada, Badada, Badada, Badada“.

Das flotteste Stück in der Sammlung ist Ich will mit jemandem tanzen, Whitney Houstons I Wanna Dance With Somebody. „Ooh, ich will mit jemandem tanzen, ooh, ich will mit jemandem die Hitze spüren. Mmh, ich will mit jemandem tanzen, aah, mit jemandem, der mich liebt.“ Köstlich.

Wolke nehmen das ernst, was sie machen, das ist sehr angenehm. Die Süßlichkeit und Leichtigkeit ihrer Lieder ist nicht ironisch. Auch die nachgespielten Stücke auf Ich will mich befreien leben nicht nur vom Kalauer. Die Übersetzungen sind – soweit es eben geht – lyrisch, den Pathos der Originale lassen sie meist weg. Nur bei In Ewigkeit, ihrer Version von Snaps The First, The Last, Eternity legt sich Oliver Minck mehr ins Zeug und brüllt die Texte mit rauchiger Stimme. Aber wie sollte er mit dem dick Aufgetragenen auch sonst umgehen? „Ganz egal, wo ihr herkommt, ich habe euch was zu erzählen. Und ich will, dass ihr mir zuhört, dass ihr mit mir geht. Macht euch keine Sorgen, gute Nachricht ist unterwegs. Und so wie alles anfing wird es auch zu Ende gehen.“ Das klingt im englischen Original sogar noch blöder.

Aber was hätten sie auch davon, sich nur lustig zu machen? Wenig. Denn wie oft kann man lachen, wenn eine Band wie die Original Deutschmacher eine sinnlose Übersetzung eines internationalen Hits nach dem anderen singt? Wenn sie You Keep Me Hanging On von den Supremes bzw. Kim Wilde mit „Du lässt mich hängen an“ übersetzen? „Setz mich frei, warum nicht Säugling? Geh aus meinem Leben, warum tust du’s nicht, Säugling? Weil du nicht wirklich liebst mich, du nur lässt mich hängen an!“ Nun, ja, einmal. Wenn überhaupt.

Die liebevollen Neubearbeitungen von Wolke kann man immer wieder hören.

Hören Sie hier „Ich will mich befreien“

„Ich will mich befreien“ von Wolke ist als CD erschienen bei Tapete Records

Wolke auf Tour:
18.04.07 Aachen (Raststätte)
19.04.07 Luxembourg (D:qliq)
20.04.07 Duisburg (Buschbrand)
21.04.07 Berlin (Maschinenhaus)
26.04.07 Köln (Studio 672: Unplugged bei Lagerfeuer deluxe)
27.04.07 Nürnberg (K4)
28.04.07 Karlsruhe (Nun Cafe)
17.05.07 Düsseldorf (Pretty Vacant)
18.05.07 Frankfurt (Das Bett)

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Verschwende deinen Mythos

Die Fehlfarben – zu jung zum Sterben und zu alt für den Punkrock. Als jugendliche Rebellen gehen sie auf ihrem neuen Album „Handbuch für die Welt“ nicht mehr durch

Dieses Mal zählt’s. Als vor fünf Jahren die alten Herren des deutschen Punk nach vieljährigem Hobbymusikerdasein wieder die Gitarren umschnallten, war noch nicht ganz sicher, wohin die Reise gehen sollte. Zurück in die Vergangenheit oder mitten hinein ins Hier und Jetzt? Ein Aufenthalt auf Dauer oder doch nur der Versuch, kurzfristig in Jugendzeiten versäumte Rendite einzuspielen, um das Rentnerdasein finanziell ein wenig abzufedern? Knietief im Dispo war die Mission überschrieben: ein augenzwinkernder Seitenhieb auf all die geschmäcklerischen Rückkehrversuche, von denen das Popgeschäft im Zeichen der eigenen Wiederkehr seit je wimmelt. Bis dahin war die Band Fehlfarben ein deutscher Punk-, wenn nicht Popmythos, der auf immer mit dem Jahre 1980 verbunden sein sollte. Ihr Revoluzzer-Monument Monarchie und Alltag bildete für viele ihrer damaligen Hörer, also die heutigen Mitt- und Endvierziger, die Tonspur ihrer Jugend. In den Texten von Peter Hein fand zusammen, was einmal zusammengehörte: bundesrepublikanische Alltagsbeobachtungen und jugendliches Rebellentum, Punk und Politik.

Fast mag das heute ein wenig anachronistisch anmuten, in Zeiten, in denen der Revoltenchic vergangener Tage längst zum Marktsegment verkommen ist und auf Privatsendern in Achtziger-Jahre-Mottoshows auch die Fehlfarben ihre 60 Sekunden Ruhm ernten dürfen –kommentiert von den einstigen Klassenfeinden. Geschichte wird gemacht – so oder so, auch wenn’s musikalisch längst nur noch an anderer Stelle vorangeht. Volle Kraft voraus, Viervierteltakt, Punkrock? War da was?

Vom Mythos der jugendlich ungestümen Rebellen sind die Fehlfarben heute so weit entfernt wie nur denkbar. Ihr Verdienst um die deutschsprachige Musik ist unbestritten. Trist ist allenfalls die Gegenwart: Ein paar ergraute Herren proben noch einmal den Aufstand und schwingen das Schwert der gesellschaftlichen Fundamentalkritik. Unerbittlich im Gestus, rückwärtsgewandt in den ästhetischen Mitteln. Neu, frisch und unverblümt klingt auf dem aktuellen Album Handbuch für die Welt wenig. Die, die sich Ende der Siebziger aufmachten, den Altherrenrock von der Bühne zu fegen, sind selbst zu einer Altherrenband geworden. „Ja, wir sind anders, anders geblieben“, grummelt Peter Hein im Eröffnungsstück des Albums, als gelte es, mit aller gebotenen Schärfe noch einmal den neuen, alten politischen Standort zu bestimmen. Nur: Die Zeiten haben sich gewandelt. So sehr die Fehlfarben in den Achtzigern in ihre Zeit passten und diese widerspiegelten, so weit sind sie heute von allen gesellschaftlichen und musikalischen Strömungen entfernt.

Wehe dem, der am eigenen Mythos kratzt. Zu jung zum Sterben und zu alt für den Punkrock: Es ist das Malheur aller zu früh Geborenen, die Helden waren, als sie das selbst noch nicht wussten. Ironischerweise gelingt den Fehlfarben des Jahres 2007 mit dem einzigen wirklich alten Stück, einer Coverversion der singenden GIs The Monks (We Do Wie Du), ihre zeitgenössischste Ausformulierung. Für einen Moment weicht alles Bedeutungsschwangere aus den Zeilen, aller bleierne Schwulst aus den Arrangements. „We do as you, we do, we do, wie du, wie du.“ Du, das heißt bei den Fehlfarben wohl „wir“, – Humor lugt durch die Zeilen. Nichts gibt’s umsonst: keinen Mythos und keine Wiederkehr. Der Rest ist Geschichte.

Hören Sie hier „Anders geblieben“

„Handbuch für die Welt“ von den Fehlfarben erscheint am 20. April bei V2 Records

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Wenn die Zahnfee kommt

Im Land der Teebäume singen holde Feen Weihnachtslieder, und die Bläser der Heilsarmee scheppern klagend. Der Schwede Peter von Poehl singt, als hätte sich Brian Wilson in die Tundra verirrt

Wenn der schwedische Musiker Peter von Poehl deutsch spricht, hat er einen auffälligen österreichischen Akzent. Ob es daran liegt, dass er lange mit dem österreichischen Musiker Florian Horwath zusammengearbeitet hat? Gemeinsam werkelten sie in der Graefestraße in Berlin an Aufnahmen, Graefe Recordings nannten sie sie. Deutsch habe er aber von seinem Vater gelernt, erzählt der 33-jährige von Poehl. Seine Mutter ist Schwedin. In Schweden ist er aufgewachsen, von dort hat es ihn 1998 nach Frankreich verschlagen, dann vor zwei, drei Jahren nach Berlin, genauer Kreuzberg. Er arbeitete mit Bertrand Burgalat zusammen, begleitete den Autor Michel Houellebecq auf Tournee und produzierte das letzte Album des Königs der Nouvelle Chansons, Vincent Delerm.

Was hat ihn nun dazu gebracht, an eigenen Stücken zu arbeiten? „Um ehrlich zu sein: Ich musste diese Platte machen, ich hatte keine Wahl.“ Das Album Going To Where The Tea Trees Are ist zur Hälfte in Schweden und zur anderen Hälfte in Deutschland entstanden, Aufmerksamkeit wurde ihm zuerst in Frankreich zuteil. Beim Pariser Sender Radio Nova wurde seine erste Single Going To Where The Tea Trees Are zum Hit.

Wenn man in Schweden aufwächst, berichtet er, habe man nur zwei Möglichkeiten: „Entweder du spielst in einer Rockband oder Fußball. Ich war immer eher derjenige, der in der Rock- oder Garagenband gespielt hat. In meiner Heimatstadt Malmö bekamen wir den Proberaum von der Stadt gestellt. Wir haben monatlich sogar 50 Euro erhalten, um uns Instrumente zu kaufen. Natürlich haben wir davon eher Bier gekauft.“ Gibt es diese Förderung junger Bands noch immer? „Ich glaube nicht. Aber zu meiner Zeit waren auch die staatlichen Musikschulen für alle Kinder frei. Es ist ein Grund dafür, dass es so viele schwedische Bands gibt.“

Going To Where The Tea Trees Are erzähle vor allem von seiner komischen Beziehung zu seinem Heimatland. Man könnte auch sagen: von der Suche nach einer Heimat. „Schweden ist für mich einerseits bekannt, andererseits vollkommen fremd. Eine wirkliche Heimat habe ich noch immer nicht gefunden.“ In Berlin glaubte er anfangs, einen solchen Ort gefunden zu haben: „Berlin ist weit genug entfernt von Schweden, aber auch nicht zu sehr. Ich glaube, in Schweden gibt es pro Quadratkilometer zehn Menschen, in Paris eine Million. Und in Kreuzberg? In der Graefestraße, hatte ich das Gefühl, gibt es einen Graefe pro Quadratmeter. Das hat mir sehr gut gefallen.“

Mit subtilen Arrangements nimmt er die Hörer gefangen. Kindergitarre und Bläserensemble gehören für Peter von Poehl zusammen. Mit hauchzarter Stimme singt er zur akustischen Gitarre von der Sehnsucht nach einem Platz im Leben, vom Reisen und der Tooth Fairy, der Zahnfee. Saxofon und Tuba, Cello, Flöte, Klarinette und analoge Keyboards umspielen sich. Mit schwedischem Garagenrock hat das wenig zu tun.

Spricht durch die opulenten Hintergrundchöre ein Brian Wilson aus der schwedischen Tundra zu uns? Der Vergleich sei sehr schmeichelhaft und mache ihn stolz, sagt von Poehl, aber eigentlich seien seine Stücke weit mehr von schwedischen Weihnachtsliedern beeinflusst, als von den Beach Boys. „Als Kind habe ich im Schulchor gesungen. Die Arrangements kommen daher. Mich hat damals auch die Kapelle der Heilsarmee sehr beeindruckt. Deshalb verwende ich Bläser. Bei uns gab es in jedem Klassenzimmer ein Harmonium. Jeder Morgen begann mit Musik. Die Lehrerin setzte sich ans Harmonium und begann zu singen, wir stimmten ein.“

“Home is where my heart is”, singt er in A Broken Skeleton Key. Englische Texte, deutschsprachige Interviews, französisches Lebensgefühl und schwedische Erziehung: Irgendwo dazwischen liegt die Heimat des Peter von Poehl. Sein Album träumt ausgehend von den musikalischen Eindrücken seiner Kindheit vom Pop der Gegenwart. Seit Kurzem führe er das auch hin und wieder opulent live auf – „mit zehn Musikern, Bläsern und allem drum und dran“. In Paris trat er mit großer Besetzung unlängst sogar in der altehrwürdigen Cigale auf.

Hören Sie hier „A Broken Skeleton Key“

„Going To Where The Tea Trees Are“ von Peter von Poehl ist erschienen bei Herzog Records/Edel Contraire

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