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Bürogeräte-Blues

Original oder Kopie? Für Alva Noto keine Frage, bei ihm kommt die elektronische Musik wie aus dem Fotokopierer

Alva Noto Xerrox

Es rauscht und piepst ohne Ende. Geräusche, Geräusche, sie bauschen sich wie mit Elektrosmog verunreinigte Zuckerwatte. Hindurch wabern verschwommene Melodien von neutraler Schönheit, vielleicht ein monumentales Orchesterwerk. Vielleicht auch nur die Musikberieselung vom Hotelklo oder aus der Abfertigungshalle: Haliod Xerrox Copy 2 (Air France) heißt eines der vierzehn Stücke.

Man könnte es einfach Ambient nennen, doch Alva Noto alias Carsten Nicolai, bildender Künstler und Elektronikmusiker, verfolgt andere Ziele. Während die Musikindustrie sich nach wie vor an das Verwertungsmonopol künstlerischer Originale zu klammern versucht, sucht er in der Reproduktion und Vervielfältigung von Klängen neue ästhetische Motive.

Auf seiner Platte Xerrox thematisiert er die Frage nach Original und Kopie mittels einer selbst entwickelten Software, die das technische Prinzip des vor gut fünfzig Jahren erfundenen Xerox-Fotokopierers auf Musik anwendet. Allerdings nicht auf irgendwelche Musik, sondern auf jene Muzak des modernen Lebens, die uns ständig im Berufsalltag, auf Reisen und zwischen den Orten umgibt. Als Samples wandern Ausschnitte aus den Telefonwarteschleifen und Musikunterhaltungsprogrammen internationaler Fluggesellschaften und Hotels in den virtuellen Vervielfältiger. Dauertöne, die an das nervige Summen eines nimmermüden Kopierergebläses erinnern, vermischen sich mit dem Echo eines Lautsprecheransagengongs zu surreal anmutenden Klanglandschaften.

Der besondere Zauber entsteht durch die Fehlerquellen, die sich bei wiederholten Kopiervorgängen ergeben. In Wirklichkeit ist keine Kopie wie die andere, aus diesen Ungenauigkeiten schöpft Carsten Nicolai das Musikalische seiner Geräuschkunst. Die Melodien, die sich Gehör und Bewusstsein besser merken können, als rhythmische Unterschiede, ähneln in ihrer Schlichtheit den einfachen plakativen Farben alter Xerox-Kopien. Spinnwebenfein jedoch dämmern sie nun herauf aus der unbewussten Wahrnehmung und wirken in ihrem neuen Ambiente voller verfremdetem Rauschen und Pulsieren viel intensiver und berührender, als das Original aus der Flughafenhalle oder dem Hotelaufzug.

In seinen früheren Klangwelten ging es Carsten Nicolai um experimentelle Abstraktion. Als Noto schuf er Werke von naturwissenschaftlicher Strenge und kristalliner Eleganz, seine Kooperationen mit dem japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto fanden weltweite Beachtung. Mit Xerrox eröffnet er nun auf dem Chemnitzer Label Raster-Noton eine neue Reihe musikalischer Transaktionen, der ersten CD sollen weitere folgen. Und er meint es ernst mit der Kopieridee: Nicht nur auf dem Silberling für den CD-Schlitz und auf Liebhaber-Vinyl sind die Stücke zu haben, man kann sie auch als SD-Card, als Datenspeicherchip, erwerben! Genau wie bei dem kleinen Ding in der Digitalkamera können die Daten dann beliebig kopiert, weiterverbreitet oder sogar gelöscht und neu überspielt werden.

Doch so flüchtig und austauschbar Daten ihrer technischen Natur nach sein mögen, die musikalisch hintergründige Tristesse auf Xerrox gräbt sich umso tiefer ein. Der kühle, verlorene, aber irgendwie auch selbstvergewissernde Blick von außen, dieses akustische Schweben im Off des ansonsten hektischen Treibens, halten einen noch lange gefangen. Es ist das Lied vom summenden Faxgerät, das der Letzte im Büro vergessen hat auszuschalten. Es ist die Hymne vom weißen Rauschen im Fernseher, als es noch Programme gab, auf denen zwischen nachts und morgens nichts mehr lief. Es ist die Ballade des Geschäftsreisenden, der sich auf der Taxifahrt durch graue Vororte zum Flughafen nicht mehr an die Gesichter oder Namen der Leute erinnert, mit denen er den letzten Drink an der Hotelbar genommen hat. Es ist der Blues des Digitalkünstlers, der dem Schöpfungsfluss von Abbild zu Abbild mit der nächsten Kopie die stille Euphorie kleiner Differenzen entgegenschleudert.

„Xerrox Vol. 1“ von Alva Noto ist als CD, als Doppel-LP und als limitierte SD-Card erschienen bei Raster Noton; das Album ist erhältlich u.a. im Labelshop von Raster Noton

Hören Sie hier „Haliod Xerrox Copy 2 (Airfrance)“ und „Haliod Xerrox Copy 6“

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Laptop und Flokati

The Go Find malen Musik mit warmen Farben. Wäre die Welt gerecht, würde ihr Album „Stars On The Wall“ die Hitparaden anführen. Sie ist es nicht, ganz oben stehen andere Sterne.

Auf dem ersten Platz der Deutschen Single-Hitparade der vergangenen Woche standen die zwei Schwerenöter Gerhard Friedle und Nikolaus Presnik vulgo DJ Ötzi und Nik P. Ihr Stück Ein Stern (der deinen Namen trägt) verharrt dort seit einigen Wochen. Weder die „sensationelle neue Single“ (Pressemitteilung der Plattenfirma) Nelly Furtados noch die „sensationelle neue Single“ (ebd.) der Mädchengruppe No Angels konnten den tumben Karnevalsknaller bisher überflügeln. „Ein Stern, der deinen Namen trägt, hoch am Himmelszelt, den schenk ich dir heut’ Nacht.“ Utz, utz, utz. Das schmerzt, nicht nur in den Ohren.

In einer gerechteren Welt würden die Lieder von Musikern wie Dieter Sermeus die Hitparaden anführen. Er ist Anfang Dreißig, kommt aus Belgien und hat unter dem Namen The Go Find vor drei Jahren sein erstes Album Miami veröffentlicht. Darauf sang er viele schöne Melodien, begleitet von sich selbst am Laptop und an der Gitarre. Auf Tour bot er seine Lieder mit drei weiteren Musikern dar. Weil das viel besser klang und netter war, nahm er sie hernach mit ins Studio, um das zweite Album Stars On The Wall aufzunehmen. Tim Coenen, Nico Jacobs und Joris Calluwaerts scheinen auf den gemeinsamen Reisen viel gelernt zu haben über den Pop-Entwurf ihres Arbeitgebers.

Solche Sterne lässt man sich gern gefallen. Bunte Sterne, in warmen Farben an die Schlafzimmerwand gemalt. Weich und gedämpft klingen die Instrumente – wie viel schöner doch ein echtes Schlagzeug zu dieser Musik passt! Und die betagt knackenden Synthesizer-Transistoren machen sich viel besser als scheppernde Laptop-Klänge. Über allem liegt eine feine Süße, die weder klebrig ist, noch ironisch gemeint. Dieter Sermeus’ etwas weinerliche Stimme wird hier und da von sanften Doo-doo-doo-doo-Chören begleitet, doch selbst wenn er dick aufträgt, klingt es noch zurückhaltend. Herr Ötzi und Herr P. kämen mit dem bisschen Schmiere nicht bis zum ersten Refrain.

Sermeus‘ neue Stücke lassen deutlich mehr akustische Freiräume, als die des ersten Albums. Erstaunlich, waren hier doch viermal so viele Musiker am Werk. Die Töne sitzen präziser, die Spielerei mit Geräuschen im Hintergrund ist weitestgehend verbannt. Jeder eingesetzte Klang scheint allein das Ziel zu verfolgen, die Melodie herauszustellen. Damit man sie auch ja nicht überhöre, diese feinsinnigen Linien. Aber wie könnte man? Schon das zweiminütige Beautiful Night lockt den Hörer an. Ein Keyboard fiepst süßlich, der alte Synthesizer wabert einen Flokati darunter. “Biii-juuu-tiii-fuuuul Naaa-haaaait“ flüstert ein Frauenchor. Aus der Melodie, die Dieter Sermeus singt, hätte er mehr machen können als so eine winzige Einleitung. Musste er aber offensichtlich nicht, die folgenden zehn Lieder sind ebenso ergreifend. Mal sind sie freudig, mal melancholisch, wie es sich auf einer guten Pop-Platte gehört.

In einer gerechten Welt bräuchte man beim Erzählen von solchen Liedern nicht ins Schwärmen kommen. Aber das wäre ja irgendwie auch schade.

Hören Sie hier „Dictionary“

„Stars On The Wall“ von The Go Find ist als CD und LP erschienen bei Morr Music

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Öl in die Melone

Maximo Park retten den Britpop. Ihre neue Platte treibt uns den Schmerz der Liebe ins Ohr, gießt warmen Klang hinterher und lässt die Beine nicht ruhen.

Paul Smith trägt neuerdings einen Bowler, wenn er sich für die Presse fotografieren lässt, und das darf man wohl als klare Aussage verstehen: „Seht her, ich bin britisch. Unsere Musik ist es auch!“ Ob dieser Hinweis nötig ist? Der Sänger und seine Band Maximo Park haben gerade ihre zweite Platte, Our Earthly Pleasures, veröffentlicht, und die wirkt auf den ersten Blick schon etwas befremdlich. Was ist das für ein Cover? Fast würde man hinter dem trüben Paar eine jammerige Placebo-Scheibe erwarten.

Um es vorwegzunehmen: Die zehn Lieder auf dem neuen Album jammern nicht. Sie sind aufregend und besänftigend, harmonisch und schräg, rhythmisch und fließend. Sie laufen einem ins Ohr wie warmes Öl. Erst dröhnend, dann mit akzentuierten, zackigen Gitarren beginnt das Lied Girls Who Play Guitar. Hier und in vielen anderen Stücken schimmert noch der erste, aufwühlende Tonträger-Ritt der Jungs aus Newcastle durch, am Anfang von Our Velocity etwa oder im punkigen New Wave von The Unshockable.

Trotzdem wird schnell klar, dass Our Earthly Pleasures keinesfalls die logische Fortsetzung von A Certain Trigger ist – oder gar dessen zweiter Aufguss. Die Band hat vielmehr das vorangetrieben, was sich ganz leise schon auf vielen Stücken der B-Seiten-Sammlung Missing Songs ankündigte: Duncan Lloyd bettet Smiths Stimme mit akustischer und elektrischer Gitarre jetzt in einen satten, flüssigen Klang. Lukas Wooler am Keyboard schöpft nicht mehr ausschließlich aus der vollsynthetischen Tonbox, sondern zeichnet seine Linien häufiger mit dem Klavier, Streichern oder Glöckchen. Die neue Platte ist, selbst wenn sie richtig laut wird – das wird sie oft –, erstaunlich klar und geschliffen arrangiert. Und so ungern wir dieses Wort benutzen: Sie ist auch deutlich eingängiger als ihre Vorgängerin. Our Earthly Pleasures ist eine richtig feine Pop-Platte.

Bestechend ist aber nicht allein die Intelligenz, mit der die Töne zusammengefügt wurden. Es sei mal dahingestellt, ob Paul Smith seit dem ersten Album wirklich so viele Frauen gehabt und so voll gelebt hat, wie nun überall herauf-, herunter- und abgeschrieben wird. Völlig uninteressant auch all die Referenzen an die Weltliteratur, die Smith teils sogar als anmaßend vorgeworfen werden – als müsse man entweder rechtfertigen oder anzweifeln, dass der Mann ganz feinsinnige Texte schreiben kann.

In allen zehn Liedern singt Smith von der Liebe und von den vielen Tönungen, in denen sie dem Menschen begegnet: Da ist der Schatten des Vorgängers, der Schmerz nach dem Ende, die Getriebenheit des Betrugs, die Leere nach dem Tod – und der Zauber des sinnlichen Details. Ob es die leisen Seufzer des Mädchens an der kleinen Bar sind oder die Äderchen auf dem Rücken Rebeccas. Smiths Verse sind Andeutungen, Fragmente, Wortspielereien voller Zärtlichkeit und Zynismus. Es bleibt offen, was sich tatsächlich zugetragen hat. Das Gefühl aber, die Stimmung wird perfekt inszeniert.

Das ist größtenteils sehr traurig, so, wie die Liebe manchmal eben ist. Das Schöne an der neuen Platte von Maximo Park ist: Selbst ein trauriges By The Monument, ein düsteres Karaoke Plays und das melancholische letzte Lied der Platte, Parisian Skies, klingen wild, leidenschaftlich, und vor allem – lebensbejahend.

Hören Sie hier „Our Velocity“

„Our Earthly Pleasures“ von Maximo Park ist erschienen bei Warp/Rough Trade

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Bittersüß

Ungestört zappeln und zwischendurch eine kleine Träne abdrücken: Die Berlinerin MIA macht Techno, zu dem man am liebsten allein auf einer riesigen Tanzfläche stünde.

Cover Herbert

MIA ist Michaela Grobelny aus Berlin. Sie macht Techno, der sowohl zu Hause funktioniert als auch im Club. Weitere Vertreter dieser Dream Techno genannten Spielart sind Lawrence und Pantha Du Prince. Bittersüss ist ihr zweites Album. Ihr erstes hieß Schwarzweiss, die Titel spiegeln die Ambivalenz ihrer Musik wider. In ihr schwingen die Ekstase der Tanzhalle und die Melancholie des Alleinseins. Ihre Stücke vereinen aufwühlendes Stampfen und drängende Basslinien mit ruhigen Klangflächen.

Harmonisch geht es zu auf Bittersüss, simpel und klar. Die Stücke bestehen meist aus wenigen, sparsam eingesetzten Klangelementen. Mit wenigen Mitteln gelingt es MIA, ihnen einen dramatischem Aufbau zu verleihen. Erstmals setzt sie häufiger ihre Stimme ein – auf früheren Aufnahmen kam sie allenfalls in Schnipseln vor. Sie singt nicht, hier flüstert sie, dort summt sie eine Melodie. Auf Under The Bridge legt sie ihren durch Hall verfremdeten Erzählfluss über seltsam klingende, beschleunigte Gesangs-Fragmente. Diese Form des Nichtgesangs, des entkörperlichten Erzählens taucht noch einmal auf bei So I Felt, dem ambitioniertesten Stück des Albums. Es ist eine wahre Industrial-Suite: Ein forsches Bassdröhnen, stumpf-metallisch klingende Schlaginstrumente, schabende Klangeffekte, und darüber ein harsch gestrichenes Cello.

Einiges auf Bittersüss erinnert an den Synthesizer-Pop der frühen achtziger Jahre, wie der Sprechgesang und die industriellen Klänge. Der Synthesizer und die kalten Maschinenklänge helfen ihr, zwiespältige Emotionen auf den Punkt zu bringen. Das Stück Can’t Find You spricht vom Sehnen als einer treibenden Kraft. Der Rhythmus ist fordernd und der Bass schwingt, die verlangsamten Seufzer und die warm wie Kupfer schimmernden Klänge sprechen von einer unstillbaren Sehnsucht. Cold City besteht aus melancholischen Flächen, hochfrequenten Signalen und einem träge insistierenden Rhythmus. Es könnte ein frühes Trance-Stück sein, stark verlangsamt. Die Faszination und Fremdheit einer Großstadt schwingen mit, die Einsamkeit in der Menge. Das ist sicher kein neues Thema im Techno, aber selten wurde es so exquisit artikuliert wie hier.

„Bittersüss“ von MIA ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Sub Static

Hören Sie hier „Swoon“ von „Bittersüss“ und „Swoon (Drama Society Remix)“ von der parallel erscheinenden Vinyl-Maxi „Bittersüss Remixe“

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Pantha Du Prince: „The Bliss“ (Dial/Kompakt)

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Sexy Wummern

Jeden Morgen vor dem Musizieren machen die Musiker von !!! gemeinsame Kung-Fu-Übungen in Unterhosen. Soviel Beweglichkeit zahlt sich aus, ihr neues Album „Myth Takes“ fegt lockeren Fußes über die Tanzflächen.

Aus einer dunklen Ecke der Tanzhalle wankt einer hinüber zum DJ-Pult. Er fragt, was da gerade läuft. Der DJ sagt spuckend so etwas wie „tschik tschik tschik“. „Hä?“ Der DJ schreit zurück: „Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen“, malt diese mit dem Finger in die Luft. Er wünscht sich ein Schild mit drei Ausrufezeichen, das könnte er dann hochhalten. Wahrscheinlich verstünde das aber auch niemand.

!!!, welch ein Name. Um in Suchmaschinen etwas über die Band zu finden, muss man chk chk chk eingeben, so wird das meistens ausgesprochen. Weiß man das, dann erfährt man, dass die Gruppe aus Kalifornien kommt und gerade ihr drittes Album Myth Takes veröffentlicht hat. Man darf sie auch pow pow pow oder bam bam bam nennen, Hauptsache dreimal dasselbe einsilbige Wort. Viel weiter unten liest man, dass das aus dem Film Die Götter müssen verrückt sein kommt, dort wurden rhythmische Laute von Ureinwohnern in der Kalahari-Wüste mit „!!!“ übersetzt.

Früher verfingen sie sich oft in langen Stücken. Auf Myth Takes dominieren klare Strukturen mit Strophe und Refrain, es klingt geordneter, gezügelter. Keine „shit, scheiße, merde“-Gesänge mehr, dafür soulige Frauenstimmen und Rhythmen, die durch den Hintern galoppieren. Rockende Gitarren und Schlagzeuge verschmelzen mit wummernden Clubgeräuschen. Und das so sexy, man muss dazu tanzen. Schon ihr letztes Album Louden Up Now war so clubtauglich, dass der Techno-DJ Sven Väth es zu einer seiner liebsten Platten kürte.

Hier geht es um Rhythmen, erzeugt mit Hilfe elektronischer und gedroschener Schlagzeuge. Drumherum Bläser, selbstversunkene Gitarren, Klanggewirr und Glocken, Punk, Rock und Funk. Das alles nie zu sauber. Die Stücke bauen sich auf, explodieren im Klanggewirr und werden dann plötzlich runtergebrochen. Als wäre der Tänzer gestolpert und würde nun auf der Tanzfläche sitzen. Dann steht er wieder auf und tanzt umso ekstatischer weiter. Gucken ja jetzt sowieso alle.

Geschichten gibt es wenige über die Band. Weder verbreiten die Musiker eine spektakuläre Version ihres Kennenlernens, noch Mythen über Drogenexzesse oder Hotelverwüstungen. Allein die Entstehungsgeschichte von Myth Takes wird wohldosiert der Öffentlichkeit preisgegeben. Für die Aufnahmen hatten die acht Musiker sich gemeinsam ein Haus gemietet, jeden Morgen vor dem Musizieren absolvierten sie gemeinsam Kung Fu-Übungen in Unterhosen. Folglich gibt es auch lustige Werbefotos zur Platte.

Auch auf der Bühne seien !!! großartig. Bei solchen Gelegenheiten werde getanzt, wie sonst nur in der Technodisko, heißt es. Im April kann man das selbst überprüfen, da ist die Band zu vier Konzerten in Deutschland.

„Myth Takes“ von !!! ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Warp/Rough Trade

Hören Sie hier „Heart Of Hearts“

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Harmoniesüchtig

Pat Metheny trifft das Brad Mehldau Trio: eine Erzählung aus perlenden Tönen in einer Filmmusik ohne Film

Ein Klang wie Sonnenstrahlen, die aus einer Wolke brechen. Wie eine Kaskade hauchzarter Tröpfchen, die sich aus dem feuchten Nebel eines Wasserfalls materialisieren. Eine Harfengitarre lässt die Töne über ihre 42 Saiten perlen; Pat Metheny hat dieses Instrument entworfen und sammelt dessen Klänge in der Komposition The Sound Of Water.
Auf dem aktuellen Album Quartet trifft Metheny auf das Trio Brad Mehldaus. Die Aufnahmen entstanden im Dezember 2005, ein Teil ist bereits im vergangenen Jahr als Duo-Album erschienen. Metheny/Mehldau war 2006 das erfolgreichste Jazzalbum bei iTunes. Jetzt sind auch die zu viert eingespielten Stücke zu hören.

Metheny erklärt, er habe seine Harfengitarre entwickelt, um zu erforschen, was sie als orchestrierendes Element leisten könne.Gerade im Zusammenspiel mit Brad Mehldau habe es sehr viel Raum für Klangexperimente gegeben. Die Harfengitarre habe sich da ganz natürlich eingefügt.

Auffallend sind die durchgängig sanften und weiträumigen Kompositionen. Metheny hat wie Brad Mehldau großes Interesse an Formen. Beiden sei das Musikschreiben ebenso wichtig wie das Spielen. Er versteht sich und seinen Partner vor allem als klangvolle Geschichtenerzähler.

Die Musik auf Quartet erzählt Geschichten, die wie Filmsequenzen vorbeiziehen. Metheny verehrt Ennio Morricone. Und so passen auf diese Platte auch die Stücke Silent Movie und Marta´s Theme, ein Ausschnitt aus Methenys Filmmusik Passagio Per Il Paradiso.

Leider hat die sonst sehr engagierte Plattenfirma Nonesuch den Plattentitel unglücklich gewählt, denn es gibt bereits ein Metheny-Album gleichen Namens aus dem Jahr 1996. Warum nach dem sehr konzentrierten Duo-Album noch die Quartett-Einspielungen veröffentlicht werden mussten, ist auf Anhieb nicht nachzuvollziehen: Der Bassist Larry Grenadier und der Schlagzeuger Jeff Ballard halten sich streng im Hintergrund. Längere Passagen intensiver Auseinandersetzungen finden sich im Quartett-Kontext nicht; auch schaffen die Hinzugekommenen kein Gegengewicht zur manchmal extremen Harmoniesucht der Melodien. Aber vielleicht wollten die Musiker gerade darauf hinaus. In der ruhigen Schönheit liegt die Kraft, im Klang des Wassers.

Hören Sie hier „The Sound Of Water“

„Quartet“ von Pat Metheny & Brad Mehldau ist erschienen bei Nonesuch

Lesen Sie im Interview, was Pat Metheny über Ennio Morricone, Barack Obama und die Avantgarde des Jazz erzählt.

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Der Luxus-Leider

Als Sänger der britischen Band Suede war Brett Anderson immer ein arroganter Mime. Die Stücke seines ersten Soloalbums spülen die Theaterschminke weg – er singt von echten Gefühlen

Was war Brett Anderson für ein Wichtigtuer zu Beginn seiner Karriere als Sänger der britischen Band Suede. Manchen Auftritt absolvierte er mit dem Rücken zum Publikum. In Interviews berichtete er ausführlich von seinem – Achtung, verrucht! – bisexuellen Lebensstil. Glamrock, David Bowie und Gender-Verwirrung waren die Bausteine seiner Karriere. Die Gefühle, von denen er sang, nahm man ihm nicht ab, alles war Pose. Suede wirkten wie ein gut durchdachtes, blutleeres Planspiel auf der Bühne des Pop. Die Gitarrenakkorde trieften, in den Texten reimte sich „bar“ erwartbar auf „car“. An jeder Ecke lauerte Wehleidigkeit. Die Anhängerschaft war riesig.

Ein Wandel im Auftreten setzte erst ein, als Andersons Stern sank. Auf einer der letzten Tourneen von Suede mussten sie auf Festivals die große Bühne für neue Gitarrenbands aus Amerika räumen. Suede spielten so engagiert wie nie. Zum ersten Mal glaubte man einen Blick hinter die Maske des Brett Anderson erhaschen zu können: Ein angstverzerrter Unterhalter stand da, dem die Zeit davonlief. Crack und Heroin brachten den kreativen Stillstand, im Jahr 2003 verkündeten Suede, auf unabsehbare Zeit nicht mehr gemeinsam aufzutreten. Zwei Jahre darauf nahm Brett Anderson ein Album mit der Band The Tears auf. Die Posen der Anfangsjahre legte er ab, die Gefühle, die er einst nur mimte, schienen nun echt.

Auf seinem ersten Soloalbum gibt sich der Engländer persönlich und ungeschützt. Es steigt herab von der Theaterbühne – in den Orchestergraben. Seine Luxus-Leiden haben Spuren hinterlassen, er singt von Drogen, Reichtum, seelenlosen Liebschaften und der großen, verflossenen Liebe. Viele Torch-Songs sind dabei, Liebeslieder eines unfreiwillig Entliebten. Die große Geste liegt ihm immer noch am Herzen. Streichergirlanden umranken die Lieder. Das Piano und dezente Gitarrenlinien schaffen Intimität. Das Album mutet trotz gelegentlicher orchestraler Opulenz spartanisch an.

Das Stück Scorpio Rising ist eine Referenz an den gleichnamigen Film von Kenneth Anger. Die Zeilen „There’s anger in their skin / (…) They move with murder in their veins” klingen wie ein spätes Echo auf die Halbstarken-Bilder, die Anger 1963 mit Musik von Elvis Presley, Ray Charles und Martha Reeves & The Vandellas unterlegte.

Brett Anderson hat über den Umweg einer in den Sand gesetzten Karriere zu sich selbst gefunden. Seine aktuellen Stücke erzählen nur von ihm. Manchmal rührt einen das an.

Hören Sie hier „Scorpio Rising“

„Brett Anderson“ von Brett Anderson ist erschienen bei V2

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Luftlos

Das Duo Air lebt von seinem guten Namen. Doch ob auf der neuen Platte oder im Konzert: Was als kühne Mondreise begann, tritt jetzt auf der Stelle.

Der Erfolg hat ihnen nicht gutgetan. Jean Benoît Dunckel und Nicolas Godin neigen zur Selbstüberschätzung, und eine riesige Anhängerschaft erlaubt es ihnen. Mit seinem ersten Album Moon Safari von 1998 hat sich das französische Duo Air ein Denkmal gesetzt. Die Platte traf den Zeitgeist, stieg vom Sofa der Musikspezialisten über die Kneipentresen in die Betten der Mengen. Wohlig vibrierte diese Musik, rührend der Gesang Beth Hirschs.

Noch neun Jahre später zehren die beiden Dandys aus Paris von der Kraft dieser Wellen. Inzwischen haben sie eine unverkennbare, perfekte Klangwelt erschaffen: butterweiche Basslinien, warme Streicher, wabernde Moog-Synthesizer und blitzsaubere Effekte in klümpchenfreier, luftgeschlagener Creme. Air serviert makellose Petits Fours, ideal, um den Augenblick zu zuckern. Den Hunger nach seelenvoller Musik vermögen sie nicht zu stillen.

Das neue Album heißt Pocket Symphony; der Titel lässt an ein Miniatur-Meisterwerk denken. Dunckel und Godin streben nach Großem, scheitern jedoch schon im Kleinen. Eine Sinfonie ist nicht nur ein künstlerisches, in sich schlüssiges Werk. Sie lebt von einer Idee und deren Entwicklung. Musikalische Einfälle finden sich auf dieser Platte nur wenige, ihre Fortschreibung sucht man vergebens.

Air hat der melancholischen Langeweile eine musikalische Entsprechung gegeben. Die Gedanken drehen sich im Kreis, der Schwelgende tritt (oder liegt) auf der Stelle, träumt von bittersüßer Liebe und dämmert in einer See aus Luft dahin. „I’m falling down, down on the ground„, lispelt Jean Benoît Dunckel im Lied Napalm Love. Einmal mitgesunken in diese 48-minütige taschensinfonische Nebelstarre, gibt es nur wenig, was einen aufhorchen lässt.

Die Melodien wirken abwesend, sie umschreiben nur die Akkorde, über denen sie schweben. Wenn Dunckel seine Stimme durch die Effektgeräte schickt und sie in liebliche Frauenchöre transferiert, liegt das Herz des Hörers längst auf eisigem Boden. Lediglich die Gastsänger Jarvis Cocker (Pulp) und Neil Hannon (The Divine Comedy) erwecken das Publikum aus der Betäubung. Ihre gesungenen Geschichten sind eindringlich; zwar kühl, aber menschlich. Sie beherrschen die Stimme als Instrument, anstatt sie mittels Instrumenten zu verfremden.

Cocker und Hannon haben ihre Lieder im Studio abgeliefert, auf Tournee begleiten sie Air nicht. So blieb das Konzert diese Woche im Hamburger Docks statisch. Stilvoll gekleidet erschienen Dunckel und Godin im diffusen Scheinwerferlicht, im Hintergrund drei Mitmusiker. Selbstverliebt und -verloren stellten die beiden Herren ihre Arrangements in den Raum – kein Lächeln, keine Schwäche, keine echte Sympathie für das Publikum. Air spielte die Musik ihrer fünf Platten. Erklangen Stücke von Moon Safari, war der Jubel am größten.

Mit diesem Album haben sich ein Mathematiklehrer und ein Architekt zur Poplegende geformt. Seither ist der Name Air eine Marke kultivierter Wellness-Musik. Das Publikum kauft ungeprüft alles, was unter diesem Zeichen erscheint. Eine zweite Moon Safari wird es aber nicht mehr geben, der Stern verglimmt. Das dämmert den Anhängern, einsehen mögen sie es noch nicht.

Hören Sie hier „Once Upon A Time“

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Täuschend unecht

Der Musiker als Bastler: Auf „Construction Kit“ verfugt Jakob Grunert Elemente aus Jazz, Funk, Soul und HipHop zu einem verblüffenden Ganzen.

Grunert Construction Kit

Jakob Grunert aus Berlin, später Lüneburg, heute Hamburg, erst Blockflöte, zwischendurch Geige, letztlich schwarz-weiße Tasten, hat dann doch nicht Musik studiert. Sein Fach ist das Kommunikationsdesign, da lernt man auch was und muss hinterher nicht von dem Horn in den Mund leben. Er wird dieses Jahr 27, da wird’s bald ernst.

Vorher noch Construction Kit, seine zweite Platte, zu Deutsch Bausatz. Passend ist die Hülle in jener Optik gehalten, die jeder kennt, der als Kind Flugzeuge, Schiffe oder Panzer zusammengeleimt und bemalt hat.

Um maßstabgetreue Modelle bekannter Musiken geht es Grunert indes nicht. Er verfugt Elemente aus Jazz, Funk, Soul und Hip-Hop zu etwas täuschend Unechtem. Gestopfte Trompete wie von Miles, warmer Bass wie bei Mingus, Fender Rhodes wie zu Zeiten Herbie Hancocks, kraftvolle Rhythmen nach Art seiner jüngeren Vorbilder Medeski, Martin und Wood, Bit-Folklore à la Four Tet, dazu Plattendrehen und Rillenknacken, als wäre die CD aus Vinyl.

Nach dem ersten Hören, der ersten Verblüffung wehrt sich der Kenner. Kennt man doch alles von damals, hat man als digitalen Aufguss schon vitaler gehört vom Kölner Frickler Burnt Friedman oder dem elfköpfigen Tied & Tickled Trio aus Weilheim. Zu harmlos, diese Platte, ein Plättchen!

Aber dann, beim zweiten, dritten, vierten Durchgang, lugen die vielen kleinen Feinheiten, Leimheiten, Gemeinheiten aus den Ritzen des Kunstkörpers hervor. Eben erklang da noch das seelenvolle Baritonsaxsolo mit strömendem Bläsergeschwitz nach Art verehrter Meister, als plötzlich eine Spur eine ednukeS gnal rückwärts läuft. Hier frieeert ein Ton kurz ein, da wiederholt er sisisisich, aber nie so lang, dass man auf seinen Player klopfen wollte.

Natürlich ist das verspielt, mehr 13- als 26-jährig, aber so schön verspielt, dass es schon Spaß macht. Außerdem muss man die Platte beim Wort nehmen. Deconstruction Kit heißt sie eben nicht. Grunert lässt die Musik nie zerfasern, nie zerplatzen; er führt sie nicht vor. Er führt nur vor, was es bedeuten kann, Tonkonserven vieler Jahrzehnte schon mit der Muttermilch eingesogen zu haben. Wer über dem Klanggewirr in unseren Köpfen nicht zum Puristen oder Kostverächter geworden ist, setzt sich zu Jakob ins Zimmer und freut sich am Druck auf die Tube.

„Construction Kit“ von Grunert ist erschienen bei Hongkong Recordings

Hören Sie hier „Intro“ und „The Cosmic Pigeon“

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Ja, ich bin eine Hexe

Sie singt mit der Zunge in der Backe. Sie schreit, sie jault, auf Englisch, auf Japanisch. Sie ist Yoko Ono. Und dies ist ihre neue Platte.

Sie kann machen, was sie will. Bis an ihr Lebensende und darüber hinaus wird sie die Frau sein, die den Beatles John Lennon nahm. Von der es heißt: Ach, ja, Musik hat sie auch gemacht. Aber Yoko wäre nicht Ono, würde sie nicht immer wieder versuchen, diesem Schicksal zu entfliehen. Diesmal versucht sie es mit einem Bekenntnis: Yes, I’m A Witch – Ja, ich bin eine Hexe.

Sechzehn ihrer alten Lieder hat sie neu aufgenommen, mit Musikern der Independent-Szene. Es ist kein zweifelhafter Künstler dabei, außer vielleicht ihr. Aber ein Erfolg sei Yoko Ono gegönnt, denn so schlecht wie ihr Ruf war ihre Musik nie. Früher standen ihre schrillen Kompositionen in einem interessanten Gegensatz zu John Lennons verträumten Friedensliedern. Viele der nun eingespielten Stücke stammen aus den Jahren zwischen 1969 und 1980, sind also zu einer Zeit entstanden, da sie mit ihm Bett und Studio teilte. Von einer Ausnahme abgesehen hat sie alle geschrieben.

Die meisten der beteiligten Musiker dürften sie gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Ihnen wurden die Bänder mit ihrer Stimme zur Verfügung gestellt, sie spielten dann die Musik dazu, wie, blieb ihnen überlassen. In den meisten Fällen fügt sich Onos Stimme hervorragend ein.

In den Siebzigern hieß es oft, sie sei ihrer Zeit voraus; so musste man sich mit ihrer Kunst nicht groß auseinandersetzen. Und nun? Rock ist dabei und Drum’n’Bass, Tanzbares und Schmalziges – eine krude Mischung. Die englische Band Spiritualized nimmt sich das Stück Walking On Thin Ice vor und macht eine laute Hymne daraus. Die Gitarren heulen, die Orgel dröhnt, das Schlagzeug poltert, Bedeutung kracht durch die Luft. Angeblich hielt John Lennon eine Kassette mit der Originalaufnahme in den Händen, als er im Dezember 1980 in New York vor seinem Haus erschossen wurde.

Auch Toyboat klingt wichtig, Yoko schrieb es kurz nach Johns Tod: “I’m waiting for a boat to help me out of here.“ Antony – der von den Johnsons, hier aber ohne sie – lässt es die schmalzige Ballade sein, die es im Original schon war, legt allerdings einen sehr, sehr billigen Keyboardrhythmus und esoterische Gesänge drunter. Ihm gelingt das Kunststück, ein mittelmäßiges Lied richtig schlecht zu machen.

Bei aller Zerrissenheit des Albums sind viele der Stücke für sich genommen gar nicht übel. Peaches’ flirrende Tanznummer Kiss Kiss Kiss und Le Tigres schleppendes Sister O Sister sind sogar ziemlich großartig. Da passt alles zusammen, proletarische Rhythmen, dicker Bass, exaltierte Stimme, hier und da sogar Schreie.

Durchgängige Begeisterung kommt jedoch nicht auf. Das Konzept krankt daran, dass die Auswahl der Künstler lieblos wirkt. Die Tanzbässe von Peaches und Le Tigre passen nicht zum Elektrorock von The Brother Brothers und Blow Up, die sanften Klaviertöne der Cat Power nicht zu den triefigen Balladen des Craig Armstrong. Spiritualized und The Flaming Lips ertränken Yoko Onos Stimme in klirrendem Gitarrenlärm, Hank Shocklee von Public Enemy lässt sie zu hektischem Drum’n’Bass verkünden: „Ich bin eine Hexe, ich bin eine Hure, ist mir doch egal, wie ihr das findet!“

Eine Doppel-LP mit nach Genres sortierten Seiten hätte sich für ein solch zerfahrenes Projekt angeboten. Doch weder gibt es Yes, I’m A Witch vollständig auf Vinyl, noch wäre Ordnung im Sinne der Künstlerin gewesen. So muss der Hörer seinen CD-Player selbst programmieren. Lust zu tanzen? Dann bietet sich die Reihenfolge 1, 2, 4, 5, 16 an. Drückt das Herz? Die Stücke 6, 8, 10 und 13 trösten. Harmlose Popliedchen? 3, 7, 11, 15. Die Welt im Gitarrenlärm vergessen? 12 und 14, auf Dauerwiederholung stellen.

Die Stücke 9 und 17 hört man am besten gar nicht.

„Yes, I’m A Witch“ von Yoko Ono ist als CD erschienen bei Astralwerks/Virgin. Einzelne Stücke gibt es auf limitierten Vinylmaxis.

Hören Sie hier Ausschnitte aus
„Kiss Kiss Kiss“ von Yoko Ono und Peaches,
„Cambridge 1969/2007“ von Yoko Ono und The Flaming Lips,
„Revelations“ von Yoko Ono und Cat Power,
„Yes, I’m A Witch“ von Yoko Ono und The Brother Brothers

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