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Fest in Bienenwachs

Über die Jahre (29): Weihnachtsplatten sind unerträglich? Diese nicht. Vor acht Jahren versüßten Low unserem Autor zum ersten Mal die Adventszeit, seitdem immer wieder.

Low Christmas

Das Schlimmste an Weihnachten ist die Musik! Mal ehrlich: Weihnachtsplatten sind das Gaukelwerk abgehalfterter Popstars. Die schnelle Mark mit der eigenen Einfallslosigkeit und dem Wärmebedürfnis der Fans zu verdienen, ist so abstoßend wie zynisch.

Es gibt wenige Ausnahmen. Zwischen den grellen Lämpchen von Wham und Chris Rea, Céline Dion und André Rieu funkelt verhalten ein warmes Bienenwachskerzenlicht: Christmas von der Gruppe Low, einem Trio aus Duluth, Minnesota. Angeführt vom Mormonenpaar Alan Sparhawk und Mimi Parker machen sie andächtige Musik, die ohne Kitsch auskommt. Lange galten sie als langsamste Band der Welt. Low spielen in Minimalbesetzung, zu dritt stehen sie aufgereiht vor einem roten Vorhang: rechts der Bass von Zak Sally, links die Gitarre von Alan Sparhawk und in der Mitte Mimi Parker mit Mikrofon und etwas Schlagwerk. Ist das Pop? Ist das Rock? Oder etwa Folk? Egal.

Töne stellen sie in den Raum, breiten sie aus, lassen sie verhallen. Darüber schwebt ein Gesang, der das Herz erwärmt. Alan Sparhawk und Mimi Parker harmonieren hervorragend. Wenn sie zusammen ins Mikrofon hauchen, entstehen Momente der Magie. Die Welt bleibt einen Augenblick stehen, man kann durchatmen und Geschehenes betrachten.

Im Jahr 1999 haben Low dieses Album aufgenommen, es befinden sich acht Weihnachtslieder darauf. Sie haben die CD im Eigenverlag veröffentlicht – eigentlich nur für einen kleine Fangemeinde. Seither wird es immer wieder aufgelegt. Christmas verbindet weihnachtlichen Frohsinn mit Melancholie und Düsterkeit. Low spielen darauf einige klassische Weihnachtslieder wie Little Drummer Boy und Silent Night in sehr ruhigen Versionen. Ihr Blue Christmas ist White Christmas für Trauerklöße. Das Stück haben schon Elvis, Céline Dion und der Punkrocker Billy Idol gesungen, bei Low leuchtet es wie der Polarstern: „You’ll be doing alright with your christmas of white“. Aus Mimi Parkers Stimme klingt eine Spur abgründigen Humors. Dazu gibt es eigene Stücke der Band zu hören.

Christmas ist eine ungewöhnlich kunstvolle Platte. Im Gesang herrscht Harmonie, in der Musik tauchen immer wieder Dissonanzen auf. Sparsam streut Zak Sally seine dumpfen Töne ein. Low sind moderne religiöse Künstler, sie machen religiöse Kunst modern. Zur Hintergrundbeschallung beim Auspacken der Geschenke ist diese Platte zu schade.

„Christmas“ von Low ist erstmals im Jahr 1999 bei Chairkicker’s Music/Rough Trade erschienen.

Der Tonträger geht nun in den Festtagsurlaub und legt am 2. Januar die nächste Platte auf.

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Radikal selbstgemacht

Der New Yorker Folksänger Jeffrey Lewis nimmt sich die Punkband Crass vor und verpasst einem Dutzend ihrer Stücke eine zarte Lasur.

Jeffrey Lewis 12 Crass Songs

Etwa 23 Jahre ist es her, dass die englische Punkband Crass die Gitarren an den Nagel hängte. Sie waren Anarcho-Kommunarden, bis ins Absurde politisch korrekt. Nichts ließen sie sich aus der Hand nehmen, betrieben ein eigenes Plattenlabel und organisierten ihre Konzerte. Auf diesen führten sie selbstgemachte Kunst, Literatur und Filme vor und genossen das selbstgekochte vegane Essen gemeinsam mit den Besuchern. Do It Yourself, D.I.Y. war ihr Motto. Crass spielten aggressiven Punk, seltsam monoton und statisch.

Damals regierte in Großbritannien Margaret Thatcher, die Bergarbeiter streikten und die nukleare Bedrohung wuchs. Crass fanden viele Gleichgesinnte, ihr gemeinsames Ziel war der Kampf gegen die Herrschenden, „das Schweinesystem“.

Jeffrey Lewis spielt auf seinem neuen Album 12 Crass Songs ein Dutzend ihrer Stücke nach. Er kommt aus der umtriebigen New Yorker Folkszene, Kritiker heften ihm gern das nichtssagende Etikett „Antifolk“ an. Lewis spielt Gitarre und zeichnet Comics, wie Crass ist er für die Gestaltung seiner Plattencover selbst verantwortlich. Aufgewachsen ist er, so geht die Legende, mit den Platten der Folkrock-Band The Fugs, seine Eltern lebten in Greenwich Village und musizierten selbst.

Den Stücken der Punks hat er auf gleichermaßen humor- wie respektvolle Art neues Leben eingehaucht. Er folgt nicht der gegenwärtigen Mode, Country- oder Bossanova-Versionen von Klassikern einzuspielen, sein Zugang erinnert an die musikalischen Dekonstruktivisten Eugene Chadbourne und Jad Fair. Und wenn die großen US-amerikanischen Folksänger Pete Seeger und Woody Guthrie noch musikalisch aktiv wären, würden sie nicht vielleicht ähnlich klingen wie Lewis’ Interpretation von Crass?

In einem Interview sagte Jeffrey Lewis, er habe große Achtung vor Crass und ihren radikalen Ansichten, auch wenn er nicht immer mit ihnen übereinstimme. Und frage ihn jemand, weshalb er von Tierrechten sänge und gleichzeitig Lederschuhe trage, könne er antworten: „Ich hab den Text nicht geschrieben!“

„12 Crass Songs“ von Jeffrey Lewis ist erschienen bei Rough Trade.

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Schluss mit Laut

Der Gitarrist Geoff Farina ist in seiner Band Karate fast taub geworden, also löste er sie auf. Sein posthumes Abschiedsgeschenk heißt „595“ und ist ein Livealbum.

Karate Live 595

Im Jahr 1993 gründete der Gitarrist Geoff Farina die Rockband Karate. Mit der Zeit taten seine Ohren weh, sie wurden immer schlechter. Als er außer Fiepsen fast nichts mehr hörte, löste er die Band auf. In zwölf Jahren hatten sie sechs Alben veröffentlicht und beinahe 700 Konzerte gespielt. Heute macht Geoff Farina ruhige Musik, Folk, Country und Blues.

Zuallererst waren Karate immer eine Rockband. Die meisten ihrer Alben nahmen sie zu dritt auf. In den frühen Jahren klangen ihre Lieder karg, jedes Klacken des Schlagzeugs, jedes Zupfen am Bass und jedes Streicheln der Gitarre sind deutlich zu hören. Geoff Farina sang dazu mit seiner hohen, weichen Stimme, er klang immer mehr wie ein Erzähler, als wie ein Sänger.

Bald wurde der Einfluss des Jazz größer, die Strukturen ihrer Lieder komplexer, die Takte origineller. Zwischen The Bed Is The Ocean aus dem Jahr 1998 und dem Doppelalbum Unsolved aus dem Jahr 2000 liegt ein Bruch. Die Gitarren wurden damals sanfter, die Leerstellen zwischen den meist ruhigen Taktschlägen noch größer. Ab und an stopfte ein Solo die Lücke, manchmal durften auch die Gitarren lauter werden. Anschlüsse an die damals explodierende Postrock-Szene Chicagos, an Künstler wie Tortoise, Jim O’Rourke und The Sea & Cake waren nicht zu überhören. Die Aufnahmen klangen immer noch roh, Karate blieb eine Rockband.

Die Gratwanderung zwischen Jazz und Rock waren reizvoll auf den Alben Unsolved und dem anschließenden Some Boots. Auf dem folgenden Album Pockets dann vergniedelten sie sich, solierten häufig, ihre Melodien waren angestrengt und flach.

Karate hatten einen ausgezeichneten Ruf als Liveband. Ihre Lieder spielten sie stets neu und improvisierten gerne. Im Sommer des Jahres 2004 bat sie das niederländische Label Konkurrent zu der Reihe In The Fishtank ins Studio. Dort experimentierten sie zwei Tage lang. Sie nahmen acht Coverversionen auf, darunter berührende Interpretationen von Bob Dylans Tears Of Rage, Billy Holidays Strange Fruit und Mark Hollis’ A New Jerusalem. Geoff Farinas Stimme trägt die Stücke. So stark wie hier war sie nie. Ein Jahr später spielten sie in Rom ihr letztes Konzert.

Die Musiker haben sich nun durch die Aufnahmen zahlreicher ihrer Konzerte gehört. Die ihres 595. Auftritts am 5. Mai 2003 im belgischen Leuven gefiel ihnen am Besten. Sie veröffentlichen ihn nun als posthumes Abschiedsgeschenk und nennen es sinnigerweise 595. Sechs der acht Stücke stammen von ihren beiden starken Alben Anfang des Jahrtausends, die beiden übrigen aus rockigeren Tagen. Wie diese Band lebt! Die Stücke strahlen vor Klarheit, die komplexen Strukturen lassen Platz für Ausreißer.

Jedes der Stücke gewinnt etwas hinzu. The Roots And The Ruins wirkt beschwingt, Airport drängend. Der Bass ist laut, Farina lässt erst seine Stimme tanzen und dann die flinken Finger auf der Gitarre. Sever kommt jazzfrei und auskomponiert daher. Mit dem zehnminütigen Caffeine Or Me endet das Konzert. Es klingt wie eine Zusammenfassung der Bandgeschichte. Das Stück beginnt melodiös und klar, nach einigen Minuten stößt man auf eine stabile Lärmwand. Am Ende in einer langen, ruhigen Improvisation fällt sie Stein für Stein wieder auseinander.

Besonders der Klang des Konzerts habe sie überzeugt, schreiben sie auf der Hülle. Auf der Vinylversion von Some Boots hatten sie ein Stück weggelassen, „due to sound quality considerations“ hieß es damals. Klang war ihnen immer wichtig. Das macht auch die Hülle von 595 deutlich: Fotografien, die Geoff Farina gemacht hat, Lichter und Wolken verschwimmen in Ahnungen, alles scheint ausgewaschen. So ungefähr wird er wohl heute hören.

„595“ von Karate ist als CD und Doppel-LP auf schwerem Vinyl bei Southern Records erschienen.

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Sternzeichen Wollmaus

Scout Niblett ist einfach bezaubernd. Mal trägt sie ihre Lieder sanft vor, dann stampft sie mit den Stiefelchen. Auf ihrem neuen Album „This Fool Can Die Now“ hilft ihr der Folksänger Bonnie „Prince“ Billy.

Scout Niblett This Fool Can Die Now

Scout Niblett sieht aus wie eine Figur von Astrid Lindgren. Wären ihre Füße schmutzig, ihre Nase rotzig und ihre Knie aufgeschlagen, man würde sich nicht wundern. Sie ist bezaubernd.

Gerade hat sie ihr viertes Album This Fool Can Die Now veröffentlicht und ist auf Tournee. In Berlin steht die britische Sängerin, die in den USA lebt, mit roten Wollstrumpfhosen auf der Bühne, sie kräuseln sich an den Knien. Sie kratzt sich unbeholfen am Kopf, die rot-weiße Fender-Gitarre sieht riesig an ihr aus. Die ungekämmten Haare fallen schützend um ihr rundes Gesicht. Wenn sie mit den Stiefelbeinchen auf den Boden stampft, streichen sie über das Mikrofon.

Scout Niblett fühlt sich wohl auf der Bühne. Sie redet mit dem Publikum über Sternzeichen und Lieblingsautos, wirft ihren Mantel neben das Schlagzeug und bewegt sich, als liefe sie durch ihre Studentinnen-Bude. Es ist, als läge man unter dem Bett neben Wollmäusen und lauschte, wie die junge Dame sich zwischen zwei Vorlesungen freisingt. Mal säuselt sie vom Paradies, mal schreit sie und freut sich über ihre Kraft. Sie braucht nicht die Gesten eines Popstars und kein elaboriertes Spiel der Instrumente, nur den Mut zu schiefen Tönen. Sie lässt den Hörer ganz nah ran, an ihre Musik.

Die Lieder sind roh. Man hört die Stimme, die mal sehr schön und weich ist, mal schrill und enervierend. Dazu spielen Schlagzeug oder Gitarre, manchmal beides. Alles ist simpel gemacht, manche Zeilen singt sie einfach immer wieder: „I’m sick and tired of being sick and tired“, heißt es in Dinosaur Egg. Ihr abwechslungsreicher Gesang erinnert hier und da an PJ Harvey, nie jedoch klingt sie ganz so verloren und verhungert wie die Kollegin. Scout Niblett singt wie eine, die die Liebe kennt, auf Pressefotos posiert sie auch mal mit Kaninchen im Arm.

Ihr erstes Album nahm die damalige Kunststudentin im Jahr 2001 auf. Seit ihrer zweiten Platte arbeitet sie mit dem Produzenten Steve Albini zusammen, sein Name steht für raue, direkte Aufnahmen. Für This Fool Can Die Now gewann die Sängerin außerdem den Folksänger Bonnie „Prince“ Billy. Er begleitet sie auf vier Stücken, zwei davon sind Interpretationen von Lieder Marilyn Monroes und Van Morrisons. Der Single Kiss verleiht seine Stimme eine väterliche Ruhe, zusammen mit spärlichen Streichern bringt sie etwas Raum zwischen Musiker und Hörer. Man dankt es ihm, schließlich kann man ja nicht ewig unter Scouts staubigem Bett liegen.

„This Fool Can Die Now“ von Scout Niblett ist als CD und LP erschienen bei Too Pure/Beggars Banquet.

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40 Pfund für anderthalb Kilo

Die Geschichte des neuen Albums der britischen Band Radiohead dürfte bekannt sein. Aber wie klingt „In Rainbows“ eigentlich?

Radiohead In Rainbows

„Das Vertriebsgedöns war interessanter als das Album selbst“, schreibt die Spex in ihrer Jahresliste und schiebt Radioheads In Rainbows auf den letzten Platz. Den Wirbel auch musikferner Medien verantwortet wohl am wenigsten die Band: Sie hatte Anfang Oktober auf ihrer Website das Erscheinen ihres siebten Albums beinahe heimlich angekündigt. Zwei Monate lang konnte man es zu einem selbstbestimmten Preis herunterladen. Die Geschichte kennt mittlerweile jeder.

Das Geschrei über Radioheads vermeintliche Revolutionierung des Popgeschäfts wurde kürzlich abgelöst vom Vorwurf der Heuchelei und der PR-Trickserei. Das eine ist so absurd wie das andere. Seit einigen Wochen haben sie einen neuen Plattenvertrag, zwischen den Jahren erscheint In Rainbows nun auch auf traditionelle Weise. Seit dem 11. Dezember kann man das Album auch nicht mehr legal kostenfrei herunterladen. Das ist gut so. Die Qualität der MP3-Dateien war schlecht, eine Hülle für die daraus gebrannte CD musste man selbst entwerfen.

Dieser Tage wurden die sogenannten Discboxen ausgeliefert, die man seit Oktober parallel zur digitalen Version erstehen konnte. Das kleine Bild über diesem Text kann nicht wiedergeben, welchen Wälzer Radiohead nun denen ins Haus lieferten, die 40 britische Pfund auf den Tresen ihres Internetsupermarkts gelegt hatten. Ein dickwandiger Schuber, darin ein Buch in Schallplattengröße. Vorne und hinten stecken schwere Vinylscheiben. Sie sind auf 45 Umdrehungen abzuspielen, einen besseren Klang gibt es nicht. In der Mitte ist ein Textheft eingeklebt, daneben befinden sich zwei CDs. Auf der ersten ist das reguläre Album, auf der zweiten acht weitere Stücke, es heißt sie blieben exklusiv in dieser Box erhältlich. Ein kunstvolles Fotoheft in Großformat liegt auch bei, all das wiegt knappe anderthalb Kilo.

Thom Yorke hatte in einem Interview gesagt, die Stimmung von In Rainbows knüpfe an ihr zehn Jahre altes Album OK Computer an. Diesen soufflierten Zusammenhang hörten viele Rezensenten in die Musik, doch so eindeutig ist das nicht. Klangliche Bezüge finden sich zu OK Computer ebenso wie zu den elektronischeren Alben Kid A und Amnesiac sowie zu ihrem letzten Album aus dem Jahr 2003, Hail To The Thief. Allein das rockige Gebretzel ihres ersten Albums Pablo Honey sparen sie – beinahe – aus.

15 Step eröffnet das Album und legt einen flirrenden Rhythmus vor. Es ist schwer zu entscheiden, ob hier ein Schlagzeugcomputer hämmert oder ein überaus präziser Phil Selway. Darüber liegt eines dieser typischen zarten Gitarrenmuster, darunter ein drängender Bass. Es folgt das ruhelose Bodysnatchers: „I have no idea what I am talking about / I am trapped in this body and can’t get out“ jault Thom Yorke. Und später „I have no idea what you are talking about / Your mouth moves only with someone’s hand up your ass“. Ohne Textheft versteht man kein Wort, auch, da die Gitarren so röhren. Keine Angst, In Rainbows ist kein Rockalbum. In der Folge wird es ruhiger und komplexer.

Wierd Fishes/Arpeggi, Reckoner und das abschließende Videotape kommen behutsam daher, früher oder später galoppiert ein schräger Rhythmus durch die Muße oder wird eine Schaufel Lärm aufgelegt. Wirkliche Ruhe strahlen nur Nude und Faust Arp aus.

Am erstaunlichsten ist All I Need. Nicht nur der Titel des Stücks erinnert an die französische Band Air. Eine Weltraumorgel spielt die immergleichen sechs Töne, das Schlagzeug klingt schleppend. In der Liedmitte setzt ein Glockenspiel ein und hebt die Melodie in säuselige Höhen, am Ende verliert sich alles im Scheppern des Beckens. Die Lautstärke der Instrumente ist perfekt aufeinander abgestimmt, kein Ton stört, keiner fehlt. Überhaupt, klanglich ist In Rainbows ebenso überwältigend wie musikalisch.

Die Bonus-CD macht dort weiter, wo das Album aufgehört hat. Die kurze Spielerei MK 1 übernimmt die Klaviermelodie von Videotape und auch die anderen Stücke klingen weder anders noch schlechter als die zehn zuvor gehörten. Allenfalls etwas karger. Last Flower und 4 Minute Warning sind grazil und herzzerreißend, alleine Bangers & Mash ist ein bisschen zu simpel rumpelig geraten. Schiebt man die CD in den Computer kann man sich rund 120 Fotos und Zeichnungen der Band anschauen.

Vergessen wir das Gejammer der Musikindustrie und das Rauschen im Blätterwald. Ob mit oder ohne Plattenvertrag, von der schreibenden Zunft geliebt oder nicht: In Rainbows ist eigenständig und ergreifend, einfach fantastisch.

„In Rainbows“ von Radiohead erscheint am 28.12 als LP und CD bei XL Recordings/Beggars Banquet. Der freie Download ist nicht mehr möglich, Restexamplare der sogenannten Discbox sind solange der Vorrat reicht auf der Website der Band erhältlich.

Wer „In Rainbows“ über die Website erstanden hat und die Bestätigungsmail an amplive@onesevensevensix.com weiterleitet, bekommt Mitte Januar die Download-CD „Rainydayz“ geschenkt. Darauf befinden sich Remixe von einigen Stücken des Albums. Ob sich das lohnt, kann man hier entscheiden.

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Hökern am Tapeziertisch

Neunzehn Jahre lang rappte Percee P im Park und verkaufte seine Mixkassetten vor einem Plattenladen. Nun hat er sein erstes Album fertig, „Perseverance“.

Percee P Perseverance

Fast zwei Jahrzehnte lang war der amerikanische Rapper Percee P ein Musiker ohne Album. Dabei hatte seine Karriere so gut begonnen: Im Jahr 1988 erschien seine erste Maxi Let The Homicides Begin. Seine rasanten, perkussiven Reime waren damals einmalig. Statt ein Album aufzunehmen, liefert er sich fortan Rap-Battles im Park und auf der Straße. Noch heute staunt man über seine sportiven und wortreichen Auseinandersetzungen mit Lord Finesse in den Patterson’s Projects im Süden der Bronx.

Bald hatte er einen Namen. Hier und da hörte man ihn als Gast auf den Aufnahmen befreundeter Reimer. Einen Plattenvertrag bekam er nicht. So hökerte er jahrelang vom Tapeziertisch. Wochentags stand er vor dem New Yorker Plattenladen Fat Beats und verkaufte Mixkassetten. Percee P machte aus der Not eine Tugend und blieb den Rappern und Liebhabern präsent.

In seiner Geschichte steckt die Geschichte des HipHop. Als Kind stand Percee P Ende der Siebziger im Park und lauscht den ersten Rappern. Die Entstehung des Rap – auf Tonträgern ist sie kaum dokumentiert – hat er mit eigenen Ohren erlebt.

17 Jahre nach seiner ersten Maxi erschien im Jahr 2005 die Vorabsingle Put It On The Line zu seinem Debütalbum. Weitere zwei Jahre drauf gibt es nun tatsächlich eine ganze Platte von Percee P zu hören: Perseverance – Beharrlichkeit.

Er stand gerne hinter seinem Tapeziertisch, heißt es. Ein Album zu haben ist noch schöner. Nun ist er ständig auf Tour, hat ein größeres Publikum und steht in der Zeitung. Das Warten hat sich für ihn gelohnt – und auch für die Hörer.

Der kalifornische Produzent Madlib ist für die klangliche Architektur von Perseverance verantwortlich. Er verbindet traditionelle Elemente mit Modernem, als würde er ein Haus um eine Ruine herumbauen. Geschichtsbewusstsein und Experimentiergeist bilden eine Einheit. Immer wieder ragen Klangcollagen heraus. Sie verleihen dem Album die Aura des Filmischen. Es knackt, knistert, Bässe wummern, Klänge laufen gegeneinander – dreckige Klänge von einem unaufgeräumten Ort. Die Gesamtheit macht Spaß – ein einzelnes Stück hervorzuheben fällt schwer.

Vorm Plattenladen in New York trifft man ihn nicht mehr an. Percee P ist nach Los Angeles gezogen. Ob er ein zweites Album machen wird, ist ungewiss.

„Perseverance“ von Percee P ist erschienen bei Stones Throw.

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So will ich auch sein!

Über die Jahre (28): Im Jahr 1983 erschien das erste Album von Nena. Unsere Autorin war damals neun Jahre alt und entdeckte durch die Sängerin ihre Liebe zur Musik.

Nena 1983

Im Jahr 1982 war Nena 22 Jahre alt, ich war neun. Plötzlich wirbelte sie durch den Fernseher, ich wollte sein wie sie. Im Textilunterricht lernten wir gerade das Handarbeiten. Ich häkelte zwei Schweißbänder aus rotem und aus gelbem Baumwollgarn und bestickte sie mit vier Buchstaben: NENA. Das Rote trug ich am rechten Arm, Tag und Nacht, auch in der Badewanne. Ich hatte es so zusammengenäht, dass es sich nicht mehr abnehmen ließ. Das Gelbe, ich trug es am linken Handgelenk, hatte einen Druckknopf.

Als Fünftklässlerin wurde ich wegen der Bänder beinahe von einer jungen Frau verkloppt. Sie fragte, ob ich Nena-Fan sei. Ich gab frech zurück: „Nee, wie kommst du denn darauf?“ Sie trat auf meinen neuen weißen Turnschuhen herum und spuckte mir ins Gesicht. Es war nicht Nenas Schuld, ich hatte einfach Pech. Nenas Debütalbum wurde im Jahr 1983 meine erste Langspielplatte, zuvor besaß ich nur eine Maxi-Single von Trio.

Nena hatte ihren bürgerlichen Namen – Gabriele Susanne Kerner – gegen einen Spitznamen getauscht, sie sah toll aus und war selbstbewusst. So wollte ich auch sein! Ich tanzte in meinem Zimmer, hüpfte und sang laut ihre Lieder. Zu Indianer führte ich einen Indianertanz auf, 99 Luftballons war ein schönes Lied gegen den Krieg, fand ich. Nena sang lässig und auf Deutsch, sie wirkte frisch und zuversichtlich. Heute würde ich sagen: Sie war authentisch.

Meine Eltern riefen mich, wenn Nena in einer Talkshow auftrat. Wenn sie sprach, leierte und kicherte sie, das war mir peinlich. Ich sammelte eifrig Zeitungsartikel und Bilder, meine Schulfreundinnen brachten mir Poster aus der Bravo mit – die meine Eltern mir niemals kauften – und ich klebte alles in große Malblöcke. „Nena und andere Musikgruppen“ hatte ich darauf geschrieben, sie lagern jetzt auf dem Dachboden.

Mit Nena endete meine Kindheit, sie weckte den Teenager in mir. Ihr Erfolg löste meine Liebe zur Musik aus – auch wenn mich ihre Lieder heute lediglich aus Nostalgie lächeln lassen. Vielleicht habe ich deshalb immer mal wieder verfolgt, wie es mit ihr weiterging. Als sie nach dem Tod ihres ersten Kindes gesunde Zwillinge bekam, freute ich mich für sie. Und als sie neulich im Laden vom Titel der Zeitschrift emotion strahlte, nahm ich das Heft mit zur Kasse.

„Nena“ von Nena ist im Jahr 1983 bei CBS erschienen und heute bei Sony BMG erhältlich.

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Pause nach Nummer 7

The Innits aus Berlin gehen geradeaus. Ihr Debüt „Everything Is True“ braucht keine Spielereien und Schlenker. Es scheppert, klingt mitreißend und manchmal ganz wohlig.

The Innits Everything Is True

Welch ein Albumtitel! Everything Is True, alles ist wahr. Keine Spur von postmoderner Beliebigkeit. The Innits aus Berlin hauen fröhlich naiv auf ihre Pauken und Gitarren. Dreizehn Stücke sind auf ihrem Debütalbum, zumeist flott und kurz. Es scheppert und kratzt, als wär die Platte dreißig Jahre alt. Ist sie aber nicht.

Der Schlagzeuger singt. Mek Obaam heißt er, in den vergangenen Jahren stand sein Schemel auf der Bühne, wenn Barbara Morgenstern und Schneider TM auftraten. Ein Soloalbum hat er auch aufgenommen vor ein paar Jahren, darauf trommelte er viel. Nun musiziert er mit Band. Auf Konzerten steht sein Schlagzeug ein bisschen weiter vorne als bei anderen Gruppen.

Anfang des Jahres erschien ihre erste Single bei dem irischen Label Earsugar. Everything Is True erblickt nun via Sunday Service in Hamburg das Licht der Welt. In anderen Kritiken fliegen die Referenzen. Die Punker Hüsker Dü klängen an und der Sixties-Beat, The Smiths spielten auf den Instrumenten von Velvet Underground, heißt es. Und der Harmoniegesang? Beatles, früh. Aber so einfach ist das nicht.

Ja, vieles klingt wirklich alt. Einige der Referenzen sind tatsächlich auszumachen. Die musikalischen Anspielungen und Zitate sind so eng mit den Ideen der Band verwoben, dass es sinnlos ist, jeden Ton auf seinen vermeintlichen Ursprung zurückzuführen. Die Innits imitieren nicht, die Sechziger klingen aus ihren Instrumenten auch nach dem Punk der Siebziger, nach dem Pop der Achtziger und Neunziger, nach allem möglichen eben. Tortured Turkeys On The TV blickt in die Vergangenheit durch die Punk-Brille, als hätte die Beatles The Clash gekannt. Country und Calypso im Titelstück ließen sich nur halb so einfach einbauen, wenn nicht der Alternative Country der Neunziger solche Töne vollkommen unironisch rehabilitiert hätte.

Nach dem siebten Stück sollte man eine kleine Pause einzulegen. Am besten holt man sich einen schwarzen Kaffee und eine Zigarette dazu. Die Lieder danach sind ruhiger und düsterer. In die repetitiven Akkorde von Light And Sound kann man tatsächlich The Velvet Underground hineinhören, wenn man will. Und The Smiths? Da ist eine fabelhafte Melodie, da ist ein kluger Text, aber das sind die einzigen Gemeinsamkeiten mit der Band aus Manchester.

So gut sie sich in der Musikgeschichte auskennen: The Innits schaffen etwas eigenes. Everything Is True geht geradeaus. Da sind keine überflüssigen Spielereien, keine spektakulären Schlenker, stattdessen charmante Melodien, wohlige Klänge, mitreißendes Geschepper. Wem das allein zu öde ist, der mag seine Distinktion aus der Aufzählung der unzähligen ausgemachten Referenzen gewinnen. Wäre schade.

„Everything Is True“ von The Innits ist als LP und CD erschienen bei Sunday Service.

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Im Hals die Kindertröte

Die italienische Band Eveline feiert ihre Helden: Sie zitiert Robert Wyatt oder Radiohead und erzählt aus altem Material neue Geschichten. Gerade ist ihr erstes Album erschienen.

Eveline Happy Birthday

Eveline kommen aus Bologna. Die vier Musiker verraten nur ihre Initialen: L.B. spielt den Bass, L.X. die Gitarren, am Schlagzeug sitzt T.O., und D.M. singt und haut in die Tasten. Die Hülle ihres Debütalbums Happy Birthday, Eveline!!! zieren Familienfotos, in die sie ihre bärtigen Gesichter hineinmontiert haben. Die künstlerische Strategie, sich in existierende Werke einzuschreiben, verfolgen sie auch in ihren Liedern. Sie spielen mit verschiedenen Identitäten, immer wieder schlägt ihr schräger Humor durch.

Die Platte beginnt mit der hüpfenden Melodie eines Klaviers. D.M. und die Gastsängerin Iris tragen dazu jeweils eine Strophe vor. Sie erzählen die Geschichte von P.L.D., „Poor little Dano“. Er versuche, seinen Schöpfer zu lieben, sei dazu aber nicht in der Lage, erläutert D.M. P.L.D. steht in der Tradition der Romanfiguren von Pirandello, Miguel de Unamuno und Flann O’Brien: Charaktere, die sich gegen ihre Schöpfer stellen. Die Figur aus dem zweiten Stück Jefferson Peace Yeppy Ya Ye!!! hat bereits ein Eigenleben entwickelt, erzählt D.M., und wird auf dem zweiten Album der Band im kommenden Jahr wiederkehren. Das Stück ist ruhig, aus blubbernder Elektronik, sphärischen Klängen und zurückgenommenem Gesang entsteht eine Spannung, die nicht aufgelöst wird.

Gilda lebt von einem starken Saxofon. Es erinnert an Post-Punk-Bands wie die Laughing Clowns oder Essential Logic. Turbulente Trommelwirbel verleihen dem kurzen Stück Nervosität. Es folgt ein melancholischer Rocksong, der auch von Jeff Buckley stammen könnte, er trägt den seltsamen Titel Bin Laden And The Romantic Voice Of The Ocean. Wir hören zwei Minuten lang ruhige Gitarren, begleitet von schweren Schlägen und dräuenden Bassläufen. Dann folgt eine rätselhafte Strophe, zum Abschluss nicht minder erratische Elektronik-Klänge. Das ist eine gelungene Übersetzung der Ohnmacht und der Verständnislosigkeit im Angesicht des Ungeheuerlichen. Der Sleepy Song fügt sich nahtlos an, die Elektronikklänge laufen durch, die Gitarren singen Hymnen. The Bends von Radiohead habe Pate gestanden für dieses Stück, erzählt D.M.

Mr. Wyatt In Love trägt seine Referenz bereits im Titel. Es ist Evelines Antwort auf Robert Wyatts Old Europe. Wyatt zelebrierte darin die Zeit, in der amerikanische Musiker Paris bevölkerten. D.M. lädt ihn nun nach Paris ein, zu Rotwein und Jazz. Die naive Hommage vereint jazzige Harmonien mit einer simplen Melodie, Wyatt beherrscht das perfekt. Am Ende versucht sich D.M. an der Sorte Vokalise, die Wyatts Spezialität sind: die Stimme als Trompete. Dass seine Trompete eine Kindertröte ist, macht das Stück rührend.

Auch 11 Years With Jennifer Hartman enthält eine Widmung. Bei Jennifer Hartman Records erschien 1989 Tweez von Slint. Das Stück hat mit Slint wenig zu tun, der Kontrast von Ruhe und Krach im folgenden Livewire umso mehr. Es zitiert deren Klang, eine fragile Klavierfigur steht neben Geschrammel. Die schaumigen Gitarren in Gin.O.Lemon erinnern an die Instrumental-Band Pell Mell, die Ende der Achtziger frühen Post-Rock auf SST veröffentlichte. Im abschließenden Stück Lxwaldocwithme&t. erzählen Eveline von einem imaginären San Pedro, einem Ort, „an dem man guten Wein trinken, Parfüm riechen und entspannen kann“. D.M. erzählt, er habe dieses San Pedro nach dem Ort im Nordwesten Italiens modelliert, aus dem er stamme.

So funktionieren Eveline. Ihre Zitate sind nie bloße Referenzen. Sie begeben sich in die Klänge, Bilder und Geschichten anderer und entwickeln daraus eigene Geschichten. Von ihnen erdachte Charaktere bevölkern die geliehenen Welten und entwickeln ein Eigenleben.

„Happy Birthday, Eveline!!!“ von Eveline ist CD erschienen bei Sopot Records.

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Robert Plant & Alison Krauss: „Raising Sand“ (Rounder Records/Universal 2007)

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Schön, dass wir Strom haben

Ein Phänomen aus Hannover ist die Experimental-Band Closedunruh. Seit 30 Jahren macht sie Nischenmusik, die in jeden Sarg passt.

Closedunruh

Als Thomas Tier zu schwitzen beginnt, werden ihm die verspiegelte Pilotenbrille und die Lederjacke lästig. Dann zeigt der Sänger seine Tätowierungen und sein verwaschenes T-Shirt. Während er als Gekreuzigter posiert und sich am Boden krümmt, wahren seine Begleiter an den Tasten die Contenance, in weißen Hemden mit blinkenden Pfeilen und Krawatten. Im Konzert bei Silke Arp bricht in Hannover fühlt sich Closedunruh ganz zu Hause. Manchmal holpert die lässige Darbietung, dann lächeln die Musiker. Mit Thomas Tier spielen der Klangtüftler Yangwelle, Milford T. und Frank Simon. Ihr Auftritt ist ein tanzbares Vergnügen, es stampft, fiept und rappelt. Die achtziger Jahre lassen sie nicht los, erst zum Schluss gibt es einen grässlichen Blues, den niemand so recht hören mag. Das passt zu dem Motto über der Bühne: „Wer sich am kommerziellen Musikgeschmack orientiert, dient der Reaktion.“

Seit dem Jahr 1980 experimentiert Thomas Tier mit Elektronik, montiert Töne und Texte zu düsteren Klanggebilden. Das erinnert mal an DAF, mal an die Einstürzenden Neubauten, auch an Depeche Mode. Allerlei Musiker begleiteten ihn über die Jahre, so veränderte sich der Klang der Band ständig. Nichts schmeckt – doch alles schmeckt gut heißt das neue Album, erschienen ist es bei E-Klageto, dem Plattenfirmchen seiner Partnerin Anke Wolff.

Zurzeit verdient Thomas Tier seinen Lebensunterhalt als Fernfahrer. Seine Aufnahmen macht er mit Radiorekorder, Walkman, und Vierspurtonband. So entstanden zwischen 1980 und 2000 mehr als 50 Musikkassetten und diverses Vinyl. Nebenbei trommelte er bei den Punkbands Blut + Eisen und Cretins. Einen Einblick in die musikalische Vergangenheit von Closedunruh gewährt die dem neuen Album beigefügte Bonus-CD mit Aufnahmen aus den Jahren 1981 bis 1995. Da gibt es enervierende Krachmontagen wie Nirgends hat man seine Ruhe (mit Staubsaugern, Bohrmaschinen und Opernarien) und tanzbare Lieder über die wundersame Elektrizität: Wie schön, dass wir Strom haben!

Thomas Tier liebt die Uneindeutigkeit. Ein Album von Closedunruh hieß Nimm den Zug vom Friedhof, auf dem neuen singt er vom Konfirmationsunterricht und vom Verlust der Zähne. Ganz nebenbei zeigt er seine Rechenkünste: „Fünf und sechs ist elf, ich weiß Bescheid.“ Das Lied Kopfschmerzen im Knie verneigt sich vor DAF, dann würgt und röchelt der Sänger; es passt in jede Gruftie-Disko.

„Nichts schmeckt – doch alles schmeckt gut“ von Closedunruh ist erschienen bei E-Klageto.

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