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16 kleine Schwarze auf Silber

Morr Music lädt ein zur Reise durch die Geschichte des elektronischen Independent. „A Number Of Small Things“ ist Zweitverwertung deluxe.

Ernte25 Bar25

Es ist ein Stich in das Herz eines Sammlers. Das Berliner Label Morr Music veröffentlichte in den vergangenen Jahren eine Serie von Singles, A Number Of Small Things genannt. Dreizehn kleine Vinylscheiben, jeweils auf 1.000 Stück limitiert, bespielt mit je zwei, drei Stücken verdienter Künstler des Labels. Viele sind nicht mehr erhältlich. Nun das: Auf einer Doppel-CD gesammelt erscheinen die bisher 30 Stücke nocheinmal, zusammen mit sechs neuen.

Immerhin, die Zweitverwertung hat auch ihr Gutes: Man hört die beiden CDs anders als die Singles. Das Vinyl legt man ein paar Mal auf, dann wandert es in den Plattenschrank. Die CDs hört man durch. Stück für Stück führen sie einen in die musikalische Vergangenheit des Labels, komprimieren sie auf zwei Stunden. Und machen deutlich, wie wenig homogen die Klänge sind, die bei Morr Music in den letzten sieben Jahren erschienen.

Die Reise beginnt in der Gegenwart. Drei Künstler steuern je zwei neue Stücke bei, Butcher The Bar, Seavault und Seabear. Butcher the Bar ist der 22-jährige Brite Joel Nicholson, er singt zwei sanfte Lieder und begleitet sich selbst mit Akustikgitarre, Banjo und Melodika. Elektronik braucht er kaum. Ganz anders Seavault, das Projekt Antony Ryans – eine Hälfte der britischen Bastler Isan – und Simon Scott – in den frühen Neunzigern Schlagzeuger bei Slowdive. Die beiden mischen Gitarre und Elektronisches zu gleichen Teilen. Sie interpretieren zwei recht unbekannte Stücke von Ultra Vivid Scene und Altered Images neu, melodisch und poppig.

Überhaupt: Immer wieder entstehen für die Singles bemerkenswerte Coverversionen. Seabear machen aus dem Punk-Klassiker Teenage Kicks eine spröde Ballade, Masha Qrella nimmt Roxy Musics Don’t Stop The Dance alles Glitzern, alles Blendwerk. Unter dem Pseudonym John Yoko interpretieren Lali Puna Papa Was A Rodeo von The Magnetic Fields und Morning Paper von Smog. Auch Populous wagen sich an ein Stück von Smog, Blood Red Bird. Jede Version hat ihren Charme, Unaufgeregtheit verbindet die Neuinterpretationen. Oder ist das Traurigkeit?

Die ersten fünf Singles waren 2001 und 2002 erschienen, danach legte die Serie eine zweijährige Pause ein. Die Musik aus dieser ersten Phase findet sich am Ende der zweiten CD, zehn Stücke von Lali Puna, B. Fleischmann, Teamforest, Styrofoam und Other People’s Children erinnern daran, wie stark das Label in seinen Anfangsjahren auf Elektronik ausgerichtet war. Die älteren Stücke sprechen die gleiche Sprache wie neuere Aufnahmen, allein das Vokabular scheint noch nicht so ausgeprägt. Es pliept und klackt wie auf den damals bei Morr Music erschienenen Langspielplatten.

Erst Isan brachen das im sechsten Teil der Serie auf. Sie machten ihre Single zu einem Experiment. Sorgsam erforschten sie die einhundert Jahre alten Gymnopédies des französischen Komponisten Erik Satie und verliehen ihnen ein zeitgemäßes Antlitz. Keine sieben Minuten dauern die drei Stücke zusammen, genau genommen sind es nur leicht variierte Tonfolgen auf dem Xylofon. Dennoch, sie haben etwas ungeheuer Tröstliches. Die Lust zum Experimentellen griffen nachfolgende Künstler auf – Lali Puna, auch Masha Qrella und die bereits erwähnten Populous.

Die sechs neuen Lieder werden als Teile vierzehn, fünfzehn und sechzehn auf Vinyl-Single erscheinen, Plattensammler müssen diese Kompilation also gar nicht erwerben. Allen anderen sei A Number Of Small Things ans Herz gelegt, als eine ausgiebige Reise durch die Geschichte der sogenannten Indietronics.

Die Kompilation „A Number Of Small Things“ ist erschienen bei Morr Music. Die CD ist ebenso wie manche Singles erhältlich im Webshop des Labels.

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In der Ruhe klingt die Kraft

Gleich drei Alben auf einmal veröffentlicht der Franzose Louis Philippe. Ob auf der Bühne, mit Stuart Moxham oder alleine im Studio, er singt einfache Stücke, denen er durch raffinierte Arrangements Ausdruck verleiht.

Louis Philippe Live

Louis Philippe ist Franzose, er lebt in England. Seit Mitte der Achtziger veröffentlicht er Platten mit fein arrangierten Popsongs. Drei neue Alben erscheinen nun zeitgleich beim Bremer Label Dandyland, eine Live- und zwei Studio-CDs.

Die bei Auftritten in London und Bremen aufgenommene CD heißt schlicht Live. Neben eigenen Stücken spielt er vier exquisit ausgewählte Coverversionen: I Just Wasn’t Made for These Times von den Beach Boys, Nightingales von Prefab Sprout, C’est jolie printemps von Francis Poulenc und den englischen Folk-Song The Captain’s Apprentice, Ralph Vaughan Williams hatte ihn einst für seine Norfolk Rhapsody verwendet. Es sind einfache Stücke, denen Philippe durch raffinierte Arrangements Kraft verleiht.

Als Philippes erste Platten entstanden, setzten auch Bands wie Aztec Camera und Pale Fountains auf die zarte Energie des Popsongs und grenzten sich ab vom testosterongesteuerten Rock. Akustische Gitarren, leichte Stimmen und Streicher bestimmten ihre Musik. Die Kings of Convenience postulierten später Quiet Is the New Loud. Louis Philippe hat nie aufgehört, das zu glauben. Auf seiner Website findet man ein Interview, in dem er sich über Mark E. Smith (The Fall) und die Manic Street Preachers lustig macht. Smith widere ihn an, er hielte ihn für einen ekelhaften Schwindler, sagt er. Die Manic Street Preachers und ihre Rebellenpose fände er lächerlich. Lieder zu schreiben sei Katharsis genug, sie müssten nicht böse sein. Wenn daraus keine neue Form von Schönheit entstehe, könnten sie ihm gestohlen bleiben, sagt er. Er schätze innovative Harmonien und ausgeprägte Strukturen, Schönheit im klassischen Sinne.

Louis Philippe An Unknown Spring

Das hört man auch auf den Studioplatten: An Unknown Spring öffnet ein Füllhorn harmonischer Popsongs. Begleitet wird Philippe – wie schon auf früheren Platten – vom Covent Garden String Quartett. Neu sind die Sängerinnen im Hintergrund, Mitglieder der Band Clientele, Philippe hatte die Streicher auf ihrem letzten Album arrangiert. Die Lieder auf An Unknown Spring erinnern an die High Llamas, Pet Sounds der Beach Boys ist das Vorbild dieser Klänge. Sein langjähriger Begleiter Danny Manners spielt federnde Bässe ein und sorgt für die Erdung der Klangwolken. Im Unterschied zu Philippes frühen Platten klingt An Unknown Spring raffiniert und ist mit luxuriösen Details ausgestattet. Die stetige Verfeinerung seiner Klangideale bringt eine unerwartete Schönheit hervor.

Louis Philippe Stuart Moxham Huddle House

The Huddle House ist eigentlich eine Platte von Stuart Moxham. Seit seiner Zeit bei den Young Marble Giants und The Gist nahm er kaum noch Lieder auf. Louis Philippe ist es gelungen, ihn ins Studio zu locken. Auch Moxham glaubt an die Kraft des einfachen Songs. Moxham und Philippe spielen Gitarre und Bass, bei einigen Stücken sind dezentes Schlagwerk und Keyboard-Tupfer zu hören, das ist alles. Moxhams Lieder sind nicht mehr so karg wie zu Zeiten der Young Marble Giants, er ist ein ausdrucksstarker Sänger. Gelegentlich werden seine Gesangslinien von Louis Philippe gedoppelt, das verleiht dem Klang Fülle. Bekannt sind Moxhams minimalistische Gitarrenfiguren, neu die Verzierungen. Mal schlagen The Byrds durch, mal der Flamenco. The Huddle House ist keine einmalige Platte, wie Colossal Youth der Young Marble Giants es war. Es ist einfach nur eine sehr schöne Platte.

Sowohl „Live“ und „An Unknown Spring“ von Louis Philippe als auch „The Huddle House“ von Louis Philippe und Stuart Moxham sind als CD erschienen bei Dandyland.

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Jamaika aus Lyon

Nach etlichen Singles mit Reggae-Versionen bekannter Stücke haben The Dynamics nun ein ganzes Album aufgenommen: „Version Excursions“.

Dynamics Version Excursions

Seit Monaten drehen sie auf den Plattentellern vieler Bars und Clubs: Schlichte kleine Vinylscheiben mit gelbem Aufdruck und dem Schriftzug Big Single. Sie bringen die Menschen zum Lächeln, Zuhörer lassen die Hüften kreisen im Rhythmus, natürlich gaaanz langsam. Nachts im Radio – wenn nur noch arbeitslose Musikliebhaber und Brummifahrer lauschen – schillern sie wie Goldfische in der Klangsuppe.

The Dynamics aus Lyon spielen Coverversionen. Nach etlichen Singles haben sie nun ein ganzes Album gemacht, Version Excursions. Was ihnen in die Finger gerät, wird zu Reggae: Move On Up von Curtis Mayfield, Girls And Boys von Prince, Whole Lotta Love von Led Zeppelin. Und Seven Nation Army, gab es das wirklich vorher schon? Kaum zu glauben, dass es in der Rockversion der White Stripes zum Hit werden konnte. Welch simple und geniale Basslinie.

Der Name der Band bezieht sich auf ihre energetischen Konzerte. Auf Platte lehnen sie sich zurück, warmes Falsett statt Rockröhre. Coverversionen haben im Reggae Tradition, oft erscheinen sie als Single. Dass eine Band ein ganzes Album mit Neuinterpretationen aufnimmt, ist selten. Und es ist nicht einfach, auch auf Version Excursions gelingt nicht alles. Auf halber Strecke geht der Spaß verloren. Dann klingen die Lieder verkrampft, bemüht, stellenweise einfallslos. Land Of 1000 Dances, mit seinem ausgelutschten Nanananana-Nananana-Nananananana muss wirklich nicht neu interpretiert werden, Fever klingt nach alberner Urlaubsmusik. Vielleicht gibt die Idee einfach kein ganzes Album her. Vielleicht wurde nach dem überraschenden Erfolg der Singles zu hastig weiterproduziert.

Doch es gibt auch ausgefeilte Arrangements. Manchmal freut man sich richtig, wie die fünf Musiker die Schwierigkeit der Neuinterpretation meistern, wie verspielt sie sich die Stücke zu eigen machen. Bei genauem Hinhören fallen immer wieder feine Details auf.

Ob nun originell oder nicht, eingängig sind alle Stücke. So werden The Dynamics bald sicher überall zu hören sein, in Cafés, Kaufhäusern und Cabrios. Die DJs in den kleinen Clubs und Bars haben dann längst etwas Neues gefunden.

„Version Excursions“ der Dynamics ist als CD und Doppel-LP (mit dem Bonus-Stück „Green Onions“) erschienen bei Groove Attack.

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Wo die Kätzchen tanzen

In Berlin an der Spree liegt die Bar25. Die Nächte sind hier immer zu kurz und die Musik ganz fabelhaft. Jetzt gibt es das elektronische Lagerfeuergefühl auf CD.

Ernte25 Bar25

Die Bar25 in Berlin ist ein Freizeitpark für Menschen ohne Zeitgefühl. In der Holzhütte an der Spree treffen sich an den Sommerwochenenden Tanzfreudige aus aller Welt und bleiben bis zum frühen Morgen. Es gibt viel zu erleben auf der Ranch: schaukeln in der großen Pappel, zu fünft im engen Fotoautomaten posieren, eine Schlacht mit 250 kg Konfetti in der Manege. Leicht vergisst man, dass der Montagmorgen naht. Wer es nicht nach Hause schafft, mietet sich einen kleinen Holzbungalow im Garten.

Die Musik zum vier Tage währenden Wochenende gibt es nun auf der Kompilation Ernte25 zu hören. Musiker aus dem Umfeld sangen der Betreibern der Bar 17 Stücke ins Poesiealbum. Martin Gretschmann alias Console alias DJ Acid Pauli ist einer von ihnen, er kam schon des Öfteren in den Genuss des Exklusiv-Urlaubs an der Spree. Ein anderer ist der Däne Raz Ohara, er nähme gerne mal einen Whiskey an der Bar, heißt es. Gravenhursts Nick Talbot ist mit seiner Zweitband Bronnt Industries Kapital vertreten. Daneben stehen viele unbekannte Künstler, Pilocka Krach, K-Chico und La Deutsche Vita aus Berlin, They Came From The Stars I Saw Them und John Callaghan aus Großbritannien.

Die Auswahl auf Ernte25 ist so vielseitig wie das Programm der Bar und ihr Publikum. Hier speisen Schlipsträger das beste Rinderfilet der Stadt, tänzeln Hippies barfuß über die Holzbohlen, schnurren Selbstdarstellerinnen in Kätzchenkostüm. In den frühen Morgenstunden wärmen sich alle am Lagerfeuer. Die Musik auf der CD reicht von experimentellem Elektrofunk über plingeligen Techno und eingängigen Computerpop bis hin zu groovendem Elektropunk. All das geht erstaunlich gut zusammen. Das verbindende Feuer schürt das Berliner DJ-Team Des Wahnsinns Fette Beute. Es ist für seine verspulte Auflegerei zwischen Indie und trippiger Tanzmusik auch außerhalb der Stadt bekannt und hat die Lieder hier ausgewählt und gemixt, ohne sie zu zerstückeln.

Erschienen ist die auf 1000 Stück limitierte Kompilation beim hauseigenen Bar25-Label, hier wurden bisher nur Technoplatten verlegt. In dem aufwändigen Pappkistchen stecken eine CD und eine Single. Die CD klingt wie ein Geschenk der Bar25 an sich selbst, es geht weniger um die Musiker als um das Lebensgefühl dort, an langen Wochenenden zwischen Ostbahnhof und Jannowitzbrücke an der Spree. Auf der Vorderseite des Vinylscheibchens singt Die Piratenbraut die Hymne zur Bar, 12345und20, ein Gitarrenstück, das beschreibt, weshalb man sich hier so gerne verliert.

Die Kompilation „Ernte25“ ist erschienen bei Bar25, sie ist erhältlich über die Website des Labels

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Eins, zwei, Triangel

Ein Liebespaar musiziert: Das Berliner Duo Pupkulies & Rebecca verbindet auf „Beyond The Cage“ warmes analoges Gerät mit stumpfen elektronischen Rhythmen.

Beyond The Cage Rebacca & Pupkulies

Janosch Blaul und Rebecca Gropp leben in Berlin, gemeinsam sind sie Pupkulies & Rebecca. Er musiziert, sie singt. Im vergangenen Jahr erschien ihr Debütalbum The Way We– sie mischten darauf tanzbare Rhythmen mit Pop und HipHop. Am besten passte die Platte in die Schublade „Minimal House“.

Nun ist ihr zweites Album Beyond The Cage draußen, die Schublade ist zu eng geworden. Jedes der elf Stücke gehört in eine eigene Kategorie, denn abgesehen von Rebecca Gropps Stimme gibt es wenige Gemeinsamkeiten. Das erste Lied Windmills ist karger Pop, Save Me eine repetitive House-Nummer. Pepper ist ausgewachsener Soul, Some Gin Elektropop der Marke Peaches. Auch ein Chanson ist dabei, Madeleine. Die Stimme hält das alles zusammen und zerstreut jeden Anflug von Beliebigkeit. Am Ende überwiegt das Tanzbare.

Pupkulies & Rebecca haben ihre Wurzeln im House, oft sind nur kleine Andeutungen geblieben. Les Cages ist House im klassischen Sinn, doch der treibende Rhythmus verschwindet so weit, dass man ihn beinahe überhört. Vorne säuselt ein Keyboard hinter dem gut und gerne Stevie Wonder sitzen könnte. Auch bei Gustav ist der Rhythmus so weit gebändigt, dass man sich auf einer Kraftwerk-Platte wähnte. Wäre da nicht die Stimme.

Jedes Klack, jedes Klong erfüllt nur den Zweck, Rebecca Gropps Worten sanftes Polster zu sein, die Musik umschwärmt ihre Stimme. Sie singt und spricht auf englisch, französisch und deutsch, trägt den Hörer durch das warme Puckern der Instrumente. Beiläufig singt sie mit düsterer Stimme ihre minimalistischen Melodien. Nur wenn sie schweigt, dürfen Xylofone wirbeln und Orgeln sticheln. Die Musik tritt in den Hintergrund. Das ist eigentlich ungerecht, denn einen so flauschigen Teppich muss man erstmal weben. Ohne die kontrapunktierenden Klongs wären auch Gropps Melodien nur halb so viel wert.

Selten wird auf tanzbaren Platten so viel gesungen, selten so detailverliebt musiziert. Die Samples sind wohl gewählt, die elektronischen Spielereien so sparsam, dass sie einem auffallen können. In Windmills ist ein Bandoneon-Sample versteckt, das ruhige Pepper lebt von dem Zusammenspiel des Kontrabasses mit einem Xylofon-Sample aus den Achtzigern. Immer auf die Zwei plingt eine freundliche Triangel. Dazu der gefühlvolle Gesang und ein sanfter Rhythmus – mehr ist das nicht, mehr braucht es nicht. Und welch warme Worte: „Get a little closer to me, your words are just like cinnamon to my soul, warming me up from inside when I am feeling cold.“

Scheinbar unabhängige Teile verbinden sich auf Beyond The Cage symbiotisch: Stimme mit Instrumenten, warmes analoges Gerät mit stumpfen elektronischen Rhythmen. „Elektronisch pulsierende Chansons zum Träumen und Tanzen“, wollten die beiden aufnehmen. Das ist ihnen gelungen.

„Beyond The Cage“ von Pupkulies & Rebecca ist als CD erschienen bei Normoton

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Detroit ertasten

Der Luxemburger Francesco Tristano hat an seinem Konzertflügel ein Technoalbum aufgenommen. „Not For Piano“ zeigt, wie Klaviermusik auch klingen kann.

Francesco Tristano Not For Piano

Francesco Tristano-Schlimé ist ein klassischer Pianist. Kompositionen von Bach, Ravel und Berio hat er aufgenommen, aber auch Alben mit eigenen Stücken. Irgendwann durchbrach der 26-Jährige die Konzertroutine und begann zu improvisieren. Vor zwei Jahren fügte er seinem Repertoire ein überraschendes Stück hinzu: Derrick Mays Strings Of Life, ursprünglich im Jahr 1987 unter dem Projektnamen Rhythim Is Rhythim veröffentlicht. Es ist eines der frühen Stücke des Detroit-Techno.

Jetzt nahm Tristano ein ganzes Techno-Album auf, Not For Piano heißt es, zu hören ist fast nur das Klavier. Die Idee vom Techno ohne Techno-Beat hatte Derrick May bereits mit einem Remix seines eigenen Stücks verfolgt. Auf dem im Jahr 1991 erschienenen Sampler RetroTechno/DetroitDefinitive ist Strings Of Life in einer auf das Thema reduzierten Version zu hören. Es ist ein hypnotisches Stück Klaviermusik, zu dem man tanzen kann. „Es kann sein, dass ich zuerst diese Version des Stücks gehört habe“, erzählt Francesco Tristano, „und dass das der Auslöser für mein Album war. Ich bin ja nicht mit Detroit-Techno groß geworden, sondern habe die Sachen erst nachträglich kennengelernt.“

Das Faszinierende an Not For Piano ist nicht die Idee, Techno auf dem Klavier zu spielen. Die hatten auch andere schon, Maxence Cyrin zum Beispiel. Doch wo Cyrin die melodischen Anteile des Techno als Ausgangspunkt seiner Modern Rhapsodies nimmt, arbeitet sich Tristano an dem zentralen Moment des Techno ab: dem Rhythmus.

„Das Album heißt Not For Piano, weil ich darauf Musik spiele, die nicht für das Piano gedacht ist. Es ist sozusagen ein Piano-Album mit einem Augenzwinkern“, sagt er. „Der Hauptunterschied zwischen elektronischer Musik und Klavier-Musik ist ja, dass man bei programmierter Musik jeden Klang genau festlegen kann. Das Klavier hingegen ist unkontrollierbar.“ Aus diesem Kontrast beziehen seine Interpretationen ihre Faszination. Er fordert die vermeintliche Unvereinbarkeit des Techno mit dem klassischen Flügel heraus.

„Das Album wurde wie ein Klassik-Album aufgenommen. Alessandra Galleron, die Toningenieurin, arbeitet sonst für das Klassiklabel Naxos. Ich habe dann zusammen mit dem mexikanischen Techno-Produzenten Murcof beim Mastering – für das wir uns sehr viel Zeit genommen haben – den Klang präzisiert und kleine Effekte hinzugefügt“, erklärt Tristano. Die Effekte ähneln elektroakustischen Kompositionen, in denen die ursprüngliche Klangquelle elektronisch verfremdet wird.

Auf Not For Piano finden sich auch drei Coverversionen. Neben Strings Of Life sind dies Overand von Autechre und The Bells von Jeff Mills. Andover heißt das Stück von Autechre in Tristanos Bearbeitung, er transferiert ihren vertrackten Ambient in eine dunkel schwelende Etüde. Aus den delikaten Beats des Originals werden tropfende, repetitive Klaviermuster, dezent unterlegt mit flächigen elektronischen Klängen. Andover klingt wie eine sanfte Version des klassischen Minimalismus. „Techno ist Minimalismus“, sagt Tristano. „Ein Ritual. Maschinenmusik, aber das Gefühl ist organisch.“

Seine Version von The Bells unterstreicht dies. Die wuchtigen Klavierlinien und die Härte des Anschlags lassen an Charlemagne Palestine denken. Auch Cecil Taylors Definition des Klaviers als Perkussionsinstrument („88 tuned drums“) kommt einem in den Sinn. Aber The Bells klingt nicht nach freiem Jazz, Tristano entwickelt das Material wie ein klassischer Komponist. „Die ganze Idee ist, das Ausgangsmaterial zu nehmen und es dann graduell zu verändern, sodass man es am Ende nicht wiedererkennt. In der ZEIT gab es kürzlich einen Artikel über Giacinto Scelsi. Es ging darum, wie er in jungen Jahren mit lediglich einer Note gespielt hat und welche Möglichkeiten in dieser Begrenzung liegen.“

Tristanos Eigenkompositionen sind üppiger. Two Minds One Sound könnte eine Latin-House-Nummer zugrunde liegen. Ausnahmsweise nimmt er Schlagwerk, Violine und die Stimm-Improvisationen von Raimundo Penaforte hinzu. Barcelona Trist erinnert an eines der ruhigeren Solo-Stücke Brad Mehldaus. Harmonischer Jazz und klassische Etüde reichen sich die Hand. Alles dreht sich um den Rhythmus. Wie früher auf Strings Of Life, aber jetzt kommen Melodie und Beat aus dem Klavier.

„Not For Piano“ von Francesco Tristano ist als CD erschienen bei Infiné/Discograph.

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Die Schafwollunterhosen aus

In Schlafzimmern und Pubs nahm der Brite Bill Leader ein Vierteljahrhundert lang kärgste Lieder auf. Die Kompilation „Never the Same“ entreißt sie dem Vergessen und beflügelt die Fantasie des Hörers.

Honest Jon's Never The Same

Schließt man die Augen, kommen die Bilder. Knisternd läuft die Platte an. Schmalzstullen auf dem kargen Holztisch, eine Ziege im matschigen Hof. Der Mann kommt in die Küche: „Schatz, was gibt’s zu essen?“ Die Frau: „Kartoffeln mit Kartoffeln, wie gestern.“ „Und vorgestern“, sagt er. Eine Gruppe Schuljungen stapft durch den Schnee. Auf dem Weg zum Dorfpauker ziehen sie sich noch schnell die Schafwollunterhosen aus. Kratzen so. Da frieren sie lieber.

Die Kompilation Never the Same enthält britische Folkmusik aus den Siebzigern. Und das ist eine sehr trockene Angelegenheit, Musik wie Zwieback. Traurige Lieder, genügsam arrangiert, ein karger Ohrenschmaus. Manchmal klagt sich eine Stimme allein durch zähe vier Minuten. Lebensfreude klingt anders. Lässt man sich aber auf diese Unwirtlichkeit ein, so lernt man sie schnell schätzen. Dann fühlt man die Wärme in den Stimmen – Dick Gaughan, Dave Burland und Tony Rose heißen drei der Sänger. Selbst wenn man ihren Dialekt nicht versteht, ahnt man, wovon sie erzählen. Die Aufnahmen sind unmittelbar und intim, man wähnt sich mit den Musikern in einem Raum. Sie richten sich nicht an ein großes Publikum, hier wird für einen kleinen Kreis von Zuhörern musiziert. Gesänge der Familie, Gesänge im Pub. Bis auf Lal Watersons Beiträge sind es traditionelle Lieder.

Alle Stücke des Albums stammen aus den Archiven des Produzenten Bill Leader. Von den späten Fünfzigern bis in die frühen Achtziger fing er in Großbritannien den Folk ein. Seine Aufnahmetechnik ist für ihre Schlichtheit bekannt, gerne nahm er im Schlafzimmer auf: Der Sänger saß mit seinem Instrument auf dem Bett, sein Gegenüber drückte die Aufnahmetaste. In den Siebzigern betrieb Bill Leader zwei eigene Labels. Leader hieß das eine, es widmete sich „dem Traditionellen, dem Wesentlichen“. Das zweite Label Trailer sollte unterhalten. Es ist kaum zu glauben, die Stücke auf Never The Same stammen alle aus dem Katalog von Trailer. Wie trocken die Veröffentlichungen von Leader Records gewesen sein mussten, kann man nur ahnen. Harte Stulle ohne Schmalz? Musikalische Milchsuppe?

Die kleine Plattenfirma Honest Jon’s aus London hat an der ästhetischen Aufbereitung des alten Materials nicht gespart: Lackdruck, aufwendige Fotorecherche und profunde Texte geben zusammen mit der Musik ein rundes Bild einer Ära ab. Wer Never the Same runterlädt, hat nur den halben kargen Spaß.

Die Kompilation „Never the Same – Leave-Taking From The British Folk Revival 1970-1977“ ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Honest Jon’s Records

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Einfach zu merken: TMTSATHG

Sie kommen aus Nürnberg, und dies ist ihr erstes Album: The Mother The Son And The Holy Ghost. Sie machen Musik nach Art einer Rockband, roh und stellenweise stromlos.

The Mother The Son And The Holy Ghost

In diesem Namen schwingt Bedeutung: The Mother The Son And The Holy Ghost. Wie klingt das wohl, wenn die mütterliche Dreifaltigkeit musiziert? TMTSATHG – einfach zu merken – sind fünf junge Menschen aus Nürnberg, vier Männer und eine Frau. Die dreizehn Lieder ihres Debütalbums sind roh und direkt, nach Art einer Rockband: Gitarre, Schlagzeug, Bass, dazu wird gesungen.

Aber ist das nicht ein akustischer Bass, der da im Hintergrund schrummelt? Dieser offene, freundliche Nachhall, das muss ohne Strom sein. Vor bald drei Jahrzehnten vertrauten die Violent Femmes diesem ungeduldig schnarrenden Instrument, es trieb ihre Lieder voran.

Eine weitere Parallele zu den Violent Femmes: The Mother The Son And The Holy Ghost schreiben einfache Lieder, die sie energisch, manchmal inbrünstig vortragen. Thrill zum Beispiel: Ein paar rauhe Akkorde auf der unverzerrten Gitarre, ein rumpeliges Schlagzeug, mehr braucht es nicht. Und Robin van Velzen singt eine Melodie, die den Red Hot Chili Peppers Millionen einbrächte.

Die Platte wirkt roh. Eine teure Produktion hätte den Hall des Schlagzeugs gedämpft, hätte die Gitarre wärmer gestimmt und manchen Gesangsteil noch einmal aufnehmen lassen. Zum Glück ist das hier nicht geschehen. Dieses Album lebt, es klingt, als sei es von der Bühne herunter eingespielt worden. Und roh, ja, aber weder ungenau noch schludrig.

Auch andere Instrumente sind zu hören, Mundharmonika, Orgel, in manchen Liedern die Stimme von Betty Mugler.

So reduziert die Musik ist, so viele Anspielungen enthält sie. Das 52 Sekunden lange Distortion God scheint ein Tribut an Tom Waits zu sein; das Piano torkelt, das Schlagzeug scheppert, und van Velzen stellt seine Stimme ganz tief. Der The Hammer Song lehnt sich an Bruce Springsteens starke Schulter, die Melodie, die Stimme und sogar der Zungenschlag des Sängers erinnern an die guten Jahre des amerikanischen Rockstars. Das akustische Stück Sun Detective stünde selbst Bob Dylan gut. Und auch Have You Seen Love und das dröhnende Could You Be erinnern an irgendwen, man kommt nur nicht ganz so schnell drauf.

Tulip Sky am Schluss klingt weich und warm. Die Saiten der Gitarre sind gedämpft, irgendwann übernimmt das Klavier die repetitive Melodie. Es klingt, als stünde es in der marmornen Halle einer Villa. Immer weiter entfernt sich das Mikrofon, verlässt den Raum, das Haus.

Das Debütalbum von The Mother The Son And The Holy Ghost ist erschienen bei Schinderwies Productions/Broken Silence.

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Jenseits von Led Zeppelin

Der Blues-Archäologe Robert Plant trifft die Folksängerin Alison Krauss. Einfühlsam erkunden sie die Frühgeschichte der amerikanischen Populärmusik

Robert Plant

Bis ins hohe Alter die alten Hits spielen und bei jedem neuen Song mit dem früheren Ich verglichen werden – das Dasein als Rocklegende kann eine Last sein. Robert Plant hat sich davon befreit, indem er das Legendenmanagement zum Nebenberuf degradierte: Zwar verwaltet er seinen Ruf als Sänger von Led Zeppelin und wird bei deren Wiedervereinigung bald in London auf der Bühne stehen, doch zugleich sucht er Abenteuer, die sich stilistisch weit vom Höhepunkt seiner Karriere Mitte der 1970er Jahre entfernen. Die Rolle des ekstatischen Rock-’n’-Roll-Gottes überlässt er längst den jungen Musikern seiner Begleitband Strange Sensation. Er selbst bleibt, wie nun auf dem mit der Folksängerin Alison Krauss eingespielten Album Raising Sand, bei den leisen Tönen.

Plant und Krauss nehmen sich ältere Stücke vor, zumeist aus den frühen 1960ern, und zerdehnen sie in zarten Duetten. Es handelt sich um melancholische Popmusik in ihrer entspanntesten Form. Spärlich instrumentiert, mit wimmernden Untertönen von Streichinstrumenten und Pedal Steel Guitar, skizziert die Band um den Avantgarde-Gitarristen Marc Ribot einen Nachhall vergangener Träume. Townes Van Zandts Nothin’ erweist sich als perfekte Wahl für Plants Elegie: »Sorrow and solitude / These are the precious things / And the only words that are worth rememberin’«. Im Wabern, das das Eröffnungsstück Rich Woman grundiert, mag man eine Reminiszenz an Led Zeppelins Kashmir erkennen. Doch Plant bleibt sich auf klügere Weise treu: Der Blues, den Led Zeppelin bis an die Genregrenze überdreht hatten, so extrovertiert wie heute die White Stripes, ist auf Raising Sand das Medium einer intensiven Innenschau. Mit großem Einfühlungsvermögen und der gleichen Neugier, die Plant seit vielen Jahren für afrikanische Musik hegt, erweckt er zusammen mit Krauss die Kompositionen aus der Frühgeschichte amerikanischer Populärmusik zum Leben.

„Raising Sand“ von Robert Plant und Alison Krauss ist erschienen bei Rounder Records/Universal.

Dieser Artikel ist der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 8. November 2007 entnommen.

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Ein schwarzer Amerikaner in Paris

Im selbstgewählten Exil schreit David Murray den Blues heraus, sein Saxofon ist die Tonspur des Unrechts. Und Cassandra Wilson singt dazu.

David Murray Sacred Ground

In diesem Jahr wurde beim Sundance Film Festival der afro-amerikanische Regisseur Marco Williams für seinen Dokumentarfilm Banished ausgezeichnet. Er war tief in den Süden der USA gereist, nach Missouri und Arkansas, und hatte dort weiße Gegenden besucht, Pierce City, Harrison oder Forsyth County. Sie entstanden in der Zeit von 1890 bis 1930, zwischen Bürgerkrieg und Großer Depression. Tausende schwarzer Familien mussten ihre Häuser verlassen und fliehen. „Geh oder stirb“ war das Motto dieser Vertreibung.

Der Saxofonist David Murray hatte die Musik zu diesem Film komponiert. Er blieb am Thema und bat den afro-amerikanischen Dichter Ishmael Reed um zwei Liedtexte für Cassandra Wilson, die aus dem Süden stammt und schon in der preisgekrönten Komposition Blood On The Fields von Wynton Marsalis die Hauptpartie gesungen hat. Auf einem Youtube-Videoclip ist zu sehen, wie sie ins Studio kommt und den Song am Klavier probiert. Ein anderes Video zeigt sie bei der Aufnahme. Es gibt auch eine Clip mit Ishmael Reed, der den Text spricht, begleitet von David Murray am Klavier.

David Murray war zwanzig, als er 1975 nach New York kam. Er spielte in der New Yorker Loftszene mit Cecil Taylor und Anthony Braxton und ging zwei Jahre später in Europa auf Tournee. 1978 machte er seine ersten Aufnahmen für das italienische Black Saint Label und gründete das Black Saint Quartet. In dieser Besetzung hat er jetzt das Album Sacred Ground aufgenommen, mit dem jungen Pianisten Lafayette Gilchrist an der Stelle des verstorbenen John Hicks.

Das Cover zeigt Murray mit seiner Bassklarinette. Aus seinem Rücken wachsen Wurzeln, die sich in der dunklen Erde verankern. Auf der Suche nach dem schwarzen Erbe, das ihn zuletzt bis zu den westindischen Inseln und in den Senegal geführt hatte, ist er jetzt zu seinen afro-amerikanischen Wurzeln zurückgekehrt: zum Blues als der Tonspur von Leid und Vertreibung.

David Murray lebt in Paris. Zu seinen seltenen Auftritten in New York kommt ein schwarzes Publikum, sehr unüblich für Jazzkonzerte in den Uptown Clubs von Manhattan. Man schätzt es, wie soziales Engagement und das Erbe des Jazz in seiner Musik mitschwingen.

Bei allem Geschichtsbewusstsein möchte Murray doch die Zeit nicht zurückdrehen. Der Jazz von gestern kann nicht der von heute oder morgen sein, das sieht er anders als mancher Weggefährte. Die Behauptung des Saxofonisten Wynton Marsalis, Murray könne gar nicht spielen, hat ihn trotz seiner mehr als zweihundert Aufnahmen getroffen.

Auf Sacred Ground spielt er wirbelnde Töne. Blueshaltig und klangmächtig, mit multiphonen Schreien und Überblasungen, an Coleman Hawkins, Ben Webster und Pharoah Sanders erinnernd. Wie besessen klingt Murrays Klage über das Leiden, das Unrecht, die Ohnmacht. Eine Linie, die sich fortsetzt bis zu ihm, bis heute.

„Sacred Ground“ von David Murray und Cassandra Wilson ist bei Sunny Moon erschienen.

David Murray auf Tour in Deutschland:
09. 11. 2007 Jazzforum, Bayreuth
11. 11. 2007 Festival Jazz-Transfer, Saarbrücken
14. 11. 2007 Stadthalle, Dinslaken
15. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
16. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
17. 11. 2007 Radialsystem, Berlin
18. 11. 2007 Sendesaal Radio Bremen

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