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Ja, ich bin eine Hexe

Sie singt mit der Zunge in der Backe. Sie schreit, sie jault, auf Englisch, auf Japanisch. Sie ist Yoko Ono. Und dies ist ihre neue Platte.

Sie kann machen, was sie will. Bis an ihr Lebensende und darüber hinaus wird sie die Frau sein, die den Beatles John Lennon nahm. Von der es heißt: Ach, ja, Musik hat sie auch gemacht. Aber Yoko wäre nicht Ono, würde sie nicht immer wieder versuchen, diesem Schicksal zu entfliehen. Diesmal versucht sie es mit einem Bekenntnis: Yes, I’m A Witch – Ja, ich bin eine Hexe.

Sechzehn ihrer alten Lieder hat sie neu aufgenommen, mit Musikern der Independent-Szene. Es ist kein zweifelhafter Künstler dabei, außer vielleicht ihr. Aber ein Erfolg sei Yoko Ono gegönnt, denn so schlecht wie ihr Ruf war ihre Musik nie. Früher standen ihre schrillen Kompositionen in einem interessanten Gegensatz zu John Lennons verträumten Friedensliedern. Viele der nun eingespielten Stücke stammen aus den Jahren zwischen 1969 und 1980, sind also zu einer Zeit entstanden, da sie mit ihm Bett und Studio teilte. Von einer Ausnahme abgesehen hat sie alle geschrieben.

Die meisten der beteiligten Musiker dürften sie gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Ihnen wurden die Bänder mit ihrer Stimme zur Verfügung gestellt, sie spielten dann die Musik dazu, wie, blieb ihnen überlassen. In den meisten Fällen fügt sich Onos Stimme hervorragend ein.

In den Siebzigern hieß es oft, sie sei ihrer Zeit voraus; so musste man sich mit ihrer Kunst nicht groß auseinandersetzen. Und nun? Rock ist dabei und Drum’n’Bass, Tanzbares und Schmalziges – eine krude Mischung. Die englische Band Spiritualized nimmt sich das Stück Walking On Thin Ice vor und macht eine laute Hymne daraus. Die Gitarren heulen, die Orgel dröhnt, das Schlagzeug poltert, Bedeutung kracht durch die Luft. Angeblich hielt John Lennon eine Kassette mit der Originalaufnahme in den Händen, als er im Dezember 1980 in New York vor seinem Haus erschossen wurde.

Auch Toyboat klingt wichtig, Yoko schrieb es kurz nach Johns Tod: “I’m waiting for a boat to help me out of here.“ Antony – der von den Johnsons, hier aber ohne sie – lässt es die schmalzige Ballade sein, die es im Original schon war, legt allerdings einen sehr, sehr billigen Keyboardrhythmus und esoterische Gesänge drunter. Ihm gelingt das Kunststück, ein mittelmäßiges Lied richtig schlecht zu machen.

Bei aller Zerrissenheit des Albums sind viele der Stücke für sich genommen gar nicht übel. Peaches’ flirrende Tanznummer Kiss Kiss Kiss und Le Tigres schleppendes Sister O Sister sind sogar ziemlich großartig. Da passt alles zusammen, proletarische Rhythmen, dicker Bass, exaltierte Stimme, hier und da sogar Schreie.

Durchgängige Begeisterung kommt jedoch nicht auf. Das Konzept krankt daran, dass die Auswahl der Künstler lieblos wirkt. Die Tanzbässe von Peaches und Le Tigre passen nicht zum Elektrorock von The Brother Brothers und Blow Up, die sanften Klaviertöne der Cat Power nicht zu den triefigen Balladen des Craig Armstrong. Spiritualized und The Flaming Lips ertränken Yoko Onos Stimme in klirrendem Gitarrenlärm, Hank Shocklee von Public Enemy lässt sie zu hektischem Drum’n’Bass verkünden: „Ich bin eine Hexe, ich bin eine Hure, ist mir doch egal, wie ihr das findet!“

Eine Doppel-LP mit nach Genres sortierten Seiten hätte sich für ein solch zerfahrenes Projekt angeboten. Doch weder gibt es Yes, I’m A Witch vollständig auf Vinyl, noch wäre Ordnung im Sinne der Künstlerin gewesen. So muss der Hörer seinen CD-Player selbst programmieren. Lust zu tanzen? Dann bietet sich die Reihenfolge 1, 2, 4, 5, 16 an. Drückt das Herz? Die Stücke 6, 8, 10 und 13 trösten. Harmlose Popliedchen? 3, 7, 11, 15. Die Welt im Gitarrenlärm vergessen? 12 und 14, auf Dauerwiederholung stellen.

Die Stücke 9 und 17 hört man am besten gar nicht.

„Yes, I’m A Witch“ von Yoko Ono ist als CD erschienen bei Astralwerks/Virgin. Einzelne Stücke gibt es auf limitierten Vinylmaxis.

Hören Sie hier Ausschnitte aus
„Kiss Kiss Kiss“ von Yoko Ono und Peaches,
„Cambridge 1969/2007“ von Yoko Ono und The Flaming Lips,
„Revelations“ von Yoko Ono und Cat Power,
„Yes, I’m A Witch“ von Yoko Ono und The Brother Brothers

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Süßer Zauber

Tokio Hotel wirbeln Hormone und Geschlechterstereotypen durcheinander. Mädchenherzen schlagen höher, und die Jungs sind eifersüchtig, weil der Sänger Bill Kaulitz so gut bei den Altersgenossinnen ankommt.

Neulich in der U-Bahn: drei Mädchen in Hüftjeans, elf oder zwölf Jahre alt. Die eine hört Musik über ihren MP3-Player und sagt: „Ich kann schon jedes Lied auswendig, die neue Tokio Hotel ist soo geil, ich hör sie immer voll laut!“ Die anderen nicken zustimmend und wollen über den zweiten Ohrstöpsel mithören.

Können Horden weiblicher Fans irren? Ein Blick in die Fachpresse zeigt: Tokio Hotel aus Magdeburg sind schwer angesagt. Es gibt Poster, Aufkleber, Postkarten und noch mehr Poster in der Bravo, der Popcorn und anderen bunten Blättchen. Stets im Mittelpunkt steht der androgyne Sänger Bill Kaulitz, mittlerweile schon siebzehn Jahre alt. Seine Augen sind dunkel geschminkt, seine Fingernägel schwarz lackiert, sein Stil ist punkig und angegruftet.

„Dann lieber aussterben – Vier gute Gründe gegen Kinder“, titelte das Satire-Magazin Titanic mit einem Bild von Tokio Hotel, nachdem der Band mit dem Kitschlied Durch den Monsun im Sommer 2005 der Durchbruch gelungen war. Auf den Ohrwurm folgten ein millionenfach verkauftes Album und viele, viele ausverkaufte Konzerte. Bill Kaulitz und sein Zwillingsbruder Tom – der mit den langen Dreadlocks – waren damals 15 Jahre alt, der Schlagzeuger Gustav Schäfer 16 und de Bassist Georg Listing 17. Posieren konnten sie schon wie die Großen, auch wenn sie in Interviews altersentsprechend kicherten und herumalberten.

Im Beiheft zum neuen Album Zimmer 483 werden Tokio-Hotel-Trägerhemdchen mit Spitze beworben, die passenden Klingeltöne kann man gleich mitbestellen. Jungsklamotten gibt es nicht, denn männliche Teenies finden Tokio Hotel „krass schwul“. Sie sind wohl eifersüchtig und irritiert, weil der Sänger Bill Kaulitz mit seinen zarten Gesichtszügen so gut bei den Mädels ankommt. Sein Äußeres ist ein Gegenentwurf zu den Gangsta- und Macho-Posen von Bushido und Konsorten, es wird als Provokation wahrgenommen. Dass Männer (auch jenseits der Adoleszenz) zumeist angewidert auf androgynes Zurechtmachen reagieren, ist ein Phänomen, mit dem die Gothic-Szene schon lange zu kämpfen hat.

Tokio Hotel machen allerdings keine Gothic- oder Punk-Musik, sondern Teenie-Poprock mit vielen schmusigen Jammerrefrains. Das lässt die Mädchenherzen trommeln. Auf Konzerten kreischen sie und fallen reihenweise in Ohnmacht. Warum bloß? Zur Zeit von Elvis rüttelte der Rock’n’Roll noch an den Kellertüren, hinter denen man die weibliche Sexualität versteckt und weggesperrt hatte. Aber heute? Vermutlich ist die Sexualität junger Mädchen im Hier und Jetzt auf eine andere Weise eingezwängt, oder das Kreischen ist einfach zu einer Tradition geworden. „Schrei! – bis du du selbst bist, schrei so laut du kannst!“, sangen Tokio Hotel auf ihrem Debütalbum und fassten den jugendlichen Drang auszubrechen in eingängige Zeilen. Höhepunkt des aktuellen Albums ist nun das Stück Ich brech aus.

Die Band lebt vom süßen Zauber der Jugend, und natürlich ziehen im Hintergrund Erwachsene die Fäden. Das macht die Musik professionell und zahm. Nur an wenigen Stellen blitzen wütende Gitarren mit hämmerndem Schlagzeug hervor. Sie lassen hoffen, dass Gustavs Exploited-T-Shirt und Bills Nieten keine leeren Versprechen sind.

„Zimmer 483“ von Tokio Hotel ist erschienen bei Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Ich brech aus“

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Der Geruch von Petunien

Roger Quigley erzählt Geschichten. Unter dem Namen At Swim Two Birds rechnet er auf „Returning To The Scene Of The Crime“ mit seiner großen Liebe ab

Das Jahr 1995 war ein gutes für Roger Quigley. An einem Sonntagmorgen wirft sie – sie! – ihm ein Lächeln zu. Gilt es wirklich ihm? Bestimmt. Später ruft eine Frau namens Laura an und lädt ihn ein. Bevor er das Haus verlässt, sagt sie ihm wieder ab. In dem Stück A Kind Of Loving schildert Roger Quigley die Alltäglichkeiten eines Sonntags in einem Vorort von Manchester. Sein Freund Phil schießt ein Tor beim Fußball, schürft sich dabei das Knie auf, später erschlägt er eine Fliege mit dem Billardqueue. Vater plumpst mit bierseligem Grinsen an den Tisch, isst ein Stück Fleisch und schläft ein. Nachmittags läuft die Musik der Stranglers und Mutter zieht sich mit einer Tasse Tee in den Hof zurück, Vater ist längst im Pub auf ein Pint oder drei. Die Melodie ist flott, vorsichtig optimistisch. Quigley singt mit sanfter Stimme und spielt dazu Gitarre, dann setzen ein behutsames Schlagzeug und eine fast fröhliche Slidegitarre ein.

Der Anfang ist das Ende, A Kind Of Loving beschließt das Album Returning To The Scene Of The Crime. Davor erzählt er, was hinterher alles passierte. Vielleicht ist die Namenlose, die ihn in der Kirche anlächelte, ja die Frau, auf die sich die anderen neun – düsteren – Stücke des Albums beziehen. Roger Quigley nennt sich hier At Swim Two Birds. Es ist sein drittes Album unter diesem Namen. Und in der Tat kehrt er zum Tatort zurück, die Stücke stammen alle aus den Jahren 1995 und 2000. Acht der zehn Stücke hat er in anderen Versionen auf Singles und Alben veröffentlicht, die meisten unter seinem eigenen Namen.

Er scheint ihr dann näher gekommen zu sein, die beiden Lieder aus dem Jahr 1996 dokumentieren das. Er nimmt sich vor, sich täglich zu rasieren und zu lachen, wenn sie etwas lustig findet. Dem Bogart-Fanclub beizutreten und ihre Hand zu halten, wann immer das nötig ist. Über gemeinsame Giggling Fits, also Kicheranfälle, singt er. Wie sarkastisch er das meint, wird später deutlich. In The Smell Of Suntan Oil On Your Skin hängt die Romantik wie eine kitschige Fototapete im Hintergrund. Sie liegen am Strand, die Luft schmeckt nach ihr. Er drückt seine Zigarette an ihrer Stirn aus, und sie weicht nicht einmal zurück. Sie unterdrückt die Tränen, er geht.

Es geht weiter abwärts. Die fünf Stücke aus dem Jahr 1998 überbieten sich gegenseitig in ihrem Zynismus. Er wünscht ihr alle Übel der Welt, singt Lieder, zu denen sie sich im Grab umdrehen soll. Sehr bald soll das sein. Sie solle dann ruhig gegen die Wände ihres Sarges hämmern und ihn verfluchen. My Luck Is Turning, kündigt er an, auch wenn er zugibt, der Alkohol habe zu dieser Erkenntnis nicht unwesentlich beigetragen. Überhaupt der Alkohol. Es heißt, er zerstöre die Erinnerung. Alles Quatsch, findet Roger Quigley. Und dass Zigaretten schlecht für das Herz sind, ist ihm auch gleich. Um sein Herz habe sie sich ja bereits gekümmert.

Das Ende der Geschichte ist der Anfang der CD, In Bed With Your Best Friend. Eine Flasche Wodka, Drogen, Partyspiele mit einem Schweizer Armeemesser, Erwachen im Bett ihrer besten Freundin. An den Wänden Poster von Bands, die er hasst, in der Luft der Geruch von Petunien und entkoffeiniertem Kaffee. Rache? Zufall? Oder ist das schon wieder eine ganz andere Geschichte?

Roger Quigley singt seine ruhigen Lieder meist alleine zu seiner Gitarre, selten kommt ein weiteres Instrument hinzu. Sie klingen spartanisch, präzis. Fröhlich sind sie nicht, aber ergreifend. Und er ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Returning To The Scene Of The Crime klingt wie die Abrechnung mit einer ganz großen Liebe, wie ein Konzeptalbum über eine fehlgeschlagene Beziehung. Wer weiß, vielleicht hat er sich das alles ja nur ausgedacht.

„Returning To The Scene Of The Crime“ von At Swim Two Birds ist erschienen bei Green Ufos und erhältlich über den Vertrieb Hausmusik

Hören Sie hier „In Bed With Your Best Friend“

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Würstchen und Kartoffelbrei

Der Engländer Mark E. Smith hat es schwer. Jeder Musiker, den er in seine Band The Fall aufnimmt, erweist sich bald als Verräter, Lügner oder Dummkopf. So gut sein neues Album „Reformation! Post-TLC“ auch klingt, lange wird er es wohl auch mit seiner neuen Band nicht aushalten

Mark E. Smith hat in den vergangenen dreißig Jahren an die neunzig Alben unter dem Namen The Fall veröffentlicht. Großen kommerziellen Erfolg hatte die Band nie. Sie wird von unzähligen Kollegen in Amerika und England geschätzt, vor allem wegen ihrer Kompromisslosigkeit. Der englische Radiomoderator John Peel gehörte zu den größten Verehrern ihres musikalischen Minimalismus.

Eine der liebsten Geschichten über Mark E. Smith ist mir die des englischen Musikers Roger Quigley. Beide wuchsen im selben Stadtteil Manchesters auf, in Salford. Als Quigley anfing, Musik zu machen, war Smith bereits eine Ikone. Quigley erhoffte sich von seinem populären Nachbarn ein wenig Unterstützung für seine damalige Band. Über Wochen habe er regelmäßig an Smiths Tür geläutet, berichtete er. Immer sei Brix, die damalige Frau des Sängers, an die Sprechanlage gegangen, um zu vermelden, ihr Mann esse gerade seine geliebten bangers & mash, Würstchen und Kartoffelbrei, und dürfe unter keinen Umständen gestört werden. Quigley ließ nicht locker: „Ich rief an, klingelte an der Tür, gab ihm Demotapes, terrorisierte ihn. Irgendwann hat es dann geklappt. Leider haben wir uns kurz danach wieder getrennt.“ Mittlerweile schreibt Quigley melancholische Lieder unter seinem eigenen Namen oder werkelt zusammen mit Marc Tranmer als Montgolfier Brothers an minimalmusikalischen Klanglandschaften. Damals spielte er zweimal im Vorprogramm von The Fall und veröffentlichte ein Stück auf einer von Smith herausgegebenen Kompilation.

Mark E. Smith wird sich an all das kaum erinnern können, mit zu vielen Musikern hat er in den vergangenen dreißig Jahren zusammengearbeitet, über kaum einen äußert er sich lobend. Vor einem knappen Jahr entließ er während einer Amerika-Tour seine letzte Band. Der Titel des aktuellen Albums Reformation! Post-TLC ist zum Teil den einstigen Kollegen gewidmet: TLC stünde, das hat er unlängst der Spex verraten, für „traitors, liars and cowards“, gemeint sei damit seine letzte Band.

The Fall sind Mark E. Smith. Smith hingegen ist nicht nur The Fall. Und Smith ist dieser Tage so produktiv wie nie. Im Juni erscheint seine Autobiografie Renegade: The Gospel According to Mark E. Smith. Davor noch wird man ihn an der Seite von Andi Toma und Jan St. Werner von Mouse on Mars unter dem Projektnamen Von Südenfed hören.

Das kompakte Reformation! Post-TLC fügt dem Klangkosmos des schnoddrigen Poeten wenig Neues hinzu. Smiths bellende Fabulierwut zerhackt die Rock’n’Roll-Geschichte, auch mit neuen Musikern klingen The Fall nur nach The Fall. Im Insult Song beschimpft er seine ehemalige Band, die immer diese verdammte „Los Angeles Musik“ gehört habe – „over and over again“. Couch And Horses ist eine Annäherung an den Pop, die sich The Fall zwischendurch leisten können. Das Boat ist ein zehnminütiges Experiment. Smith und The Fall sind in der Gegenwart angekommen. Waren sie jemals weg?

„Reformation! Post-TLC“ von The Fall ist erschienen bei Slogan/Sanctuary

Hören Sie hier den „Insult Song“

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Gospel für Weißbrote

Die kanadische Band Arcade Fire unterlegt frohe Hymnen mit dunkler Lyrik. „Neon Bible“ entstand in einer Kirche. Der Welt gefällt’s.

Kaiser Chiefs

Es ist eine beinahe alltägliche Erfolgsgeschichte in Zeiten des Web 2.0: Im Jahr 2004 erscheint in Kanada das erste Album von Arcade Fire, Funeral, aufgenommen für lächerliche tausend Dollar. Unterstützt von Blogs und Tauschbörsen verbreitet es sich rasch um die ganze Welt. Als es Anfang 2005 in Europa veröffentlicht wird, hat es dort eigentlich schon fast jeder. Heute lassen auch Bruce Springsteen und U2 mitteilen, Fans der Band zu sein. Sasha Frere-Jones wagt im amerikanischen Magazin New Yorker die These, dass sie die Band vielleicht deshalb so schätzten, weil die ihre musikalischen Visionen ohne die Einmischung von Plattenfirmen umsetzen konnte.

Wake Up von Funeral dröhnt vor jedem Spiel der New York Rangers durch den Madison Square Garden. Das hymnische Stück soll die Eishockeyspieler zum Sieg treiben. Offenbar hören sie nicht so genau hin, denn der Text handelt nicht vom Siegen, sondern vom Erwachsenwerden, von der Leere und dem Tod. “Something filled up my heart with nothing, someone told me not to cry. But now that I’m older, my heart’s colder, and I can see that it’s a lie.“ So funktionieren Arcade Fire: In schwelgerischen Hymnen verhandeln sie die ganz großen Gefühle.

Das gilt auch für ihr zweites Album, Neon Bible. Die Sprache klingt alttestamentarisch, unzählige Instrumente sind zu hören. Ein hämmernder Bass gibt Struktur, die Gitarren scheppern optimistisch. Xylophon, Banjo und Akkordeon verleihen der Musik etwas Exzentrisches. Streicher, Bläser und Harfen erzeugen das Gefühl, einer Art Gottesdienst beizuwohnen. Der Sänger Win Butler erscheint mit seiner durchdringenden Stimme wie ein Priester, immer wieder überschlägt sich seine Stimme. Das ist Gospel für Weißbrote. Ganz gleich, welche Tiefen die Lyrik auslotet, die Musik klingt immer froh. Neon Bible wurde in einer Kirche aufgenommen, auf dem Stück Intervention hat die Orgel einen gewaltigen Einsatz. Ein Chor darf da nicht fehlen.

Auf der Platte sind Arcade Fire zu siebt, auf der Bühne zu neunt. Sie lieben das Spektakel. Ihre Auftritte zelebrieren sie als Theater mit Verkleidungen und häufigen Instrumentenwechseln. Sie wollen ihr Publikum unterhalten.
In der von männlichem Selbstmitleid und Größenwahn beherrschten Rockszene sind sie eine Ausnahme. Sie verbinden das Grüblerische mit dem Ekstatischen, schmücken tiefsinnige Gedanken mit prallen Arrangements.

Who among us still believes in choice?“, fragt Butler in Ocean of Noise.

Nada“, antwortet der Chor auf Spanisch: Niemand.

Und das stürmische Stück Antichrist Television Blues brechen sie auf dem Höhepunkt einfach ab.

„Neon Bible“ von den Arcade Fire ist als CD und Doppel-LP erschienen bei City Slang

Hören Sie hier „Intervention“

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Weich gebettet

Der klassische Bassbariton Thomas Quasthoff betritt Neuland: Er hat mit dem Trompeter Till Brönner ein sehr vorsichtiges Jazz-Album aufgenommen

Quasthoff - Watch What Happens

Ruhig hebt sich die tiefe Stimme, schlägt einen weiten Bogen und schwebt für einen Moment dort, wo die Welt in ihrer Ganzheit sichtbar wird. Der Horizont ist aufgehoben, Grenzen überwunden. Ein flüchtiger Moment der Utopie. Dann sind die Begrenzungen wieder da, der enge Raum der Verletzlichkeit.

Der Bassbariton Thomas Quasthoff ist Contergan-geschädigt und mit dieser Behinderung durch sehr enge Räume gegangen, durch Räume der Zurückweisung, des Spottes und der Scham. Für sein erstes Jazz-Album hat er eine sehr persönliche Stückauswahl getroffen.

Neben They All Laughed von George und Ira Gershwin, Smile von Charlie Chaplin und In My Solitude von Duke Ellington singt er Ac-Cent-Tschu-Ate The Positive oder Stevie Wonders You And I. Seine Themen sind Einsamkeit, Freundschaft, Liebe und das Prinzip Hoffnung. Quasthoff hat Ernst Blochs Bücher gelesen und gelebt. Auch davon handelt die CD.

Gefühlswelten werden durchschritten, und doch lässt sich niemand wirklich fallen. Es ist für beide Seiten – den Sänger und auch seine Musiker – ein langsames Ertasten fremden Terrains. Der große gegenseitige Respekt, aber auch die Vorbehalte sind da. Wie wird einer wie Thomas Quasthoff dem Jazz begegnen? Zu häufig sind derartige Projekte gescheitert, an der Überheblichkeit, aber auch an der mangelnden Kompetenz vieler Klassiker gegenüber dem Jazz. Die freie, nicht notierte Musik hat kein Sicherheitsnetz.

Schon oft hat Thomas Quasthoff Jazz gesungen, zu Schulzeiten mit seinem Bruder und eigenen Bands, später auch auf großen Konzertbühnen. An eine Jazz-Studioaufnahme hat er sich bisher noch nicht gewagt. Das ist Neuland für ihn und seine Plattenfirma, die Deutsche Grammophon.

Der Jazz-Trompeter und Produzent Till Brönner ermutigte ihn. Brönner engagierte den Pianisten Alan Broadbent für die Aufnahme und die Arrangements. Broadbent, Teil von Charlie Hadens Quartet West und musikalischer Leiter Diana Kralls, ist bereits mit zwei Grammys für seine Arrangements ausgezeichnet worden. Früher spielte er mit Chet Baker. Er liebt den sanften West-Coast-Stil. Mit seinen sparsamen und flächigen Bearbeitungen der Standards aus dem Great American Songbook hat er Quasthoffs Album geprägt. Es ist die Ästhetik der Melancholie, der scharrenden Lack-Scheiben eines Grammophons, ein Stück eingefrorene Zeit.

Auch Brönner spielt professionell und weiß seine Klangfarben einzusetzen. Schön und eingängig sind seine rauchigen Akzente bei Smile. Doch sein Solo erstickt beinahe unter dem Streicherteppich des Deutschen Symphonie-Orchesters. Insgesamt folgt die Musik dem Gesang Quasthoffs, umspielt und akzentuiert ihn, ohne ihm eine Reibungsfläche zu bieten. Das ist schade, denn das hätte seine reiche und wandlungsfähige Stimme weiter herausfordern können.

Der Sänger wird weich gebettet von Till Brönner und Alan Broadbent. Auf der CD bleibt kein Raum zum Improvisieren, alles ist vorgegeben. Das hätte nicht sein müssen. Quasthoff ist, über Genregräben hinweg, vor allem ein Virtuose. Es wäre spannend zu hören gewesen, wie er mit den sich öffnenden Räumen umgeht, wie er die Grenzen überschreitet. So bleiben es nur Momente, die erahnen lassen, was noch kommen könnte.

„Watch What Happens“ von Thomas Quasthoff ist als CD erschienen bei Deutsche Grammophon

Hören Sie hier „Watch What Happens“

Lesen Sie hier, was Thomas Quasthoff im Interview zu seiner neuen Platte sagt.

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Liedgewordene Diddlmäuse

Als Sechzehnjähriger war Kim Frank der Sänger der Jungsgruppe Echt, danach knickte seine Karriere ab. Mit den zwölf triefenden Liedern seines Soloalbums „Hellblau“ will er sich nun wieder ganz nach oben singen

Kim Frank Hellblau

Rund zehn Jahre ist es her, dass die Schülerband Echt in der Flensburger Fußgängerzone entdeckt wurde. Kurz darauf füllten die fünf Knaben Mehrzweckhallen, sie waren die erste erfolgreiche Jungsgruppe aus Deutschland. Ihre Stücke klangen wie liedgewordene Diddlmaus-Karten. Wir habens getan, Junimond oder Du trägst keine Liebe in dir – Echt schrieben die Musik zur Pubertät. Scharen liebeskranker Schülerinnen warfen bei Konzerten Teddys und riefen Kinderwünsche auf die Bühne – wie bei Take That. Meist handelten die Mädchenträume von dem Sänger Kim Frank, damals süße 16 Jahre alt. Er war so brav wie Heintje und gab sich verwegen wie Robbie Williams, für eine kurze Zeit war er ein Star.

Bereitwillig gab er in Interviews Auskunft über die Mädchen, mit denen er schlief. Hunderte sollen es gewesen sein. Alle habe er geliebt. Kurz nach dem 11. September blamierte er sich bei Harald Schmidt mit dem Bekenntnis, er interessiere sich nicht für Politik und wisse noch nicht einmal, wo Taliban liege. Er lief nackt über die Reeperbahn und wunderte sich, tags darauf auf dem Titel der Bild zu stehen. Einige verglichen ihn mit Rio Reiser.
Nach Echts finalem Album Recorder begann Franks Absturz: Die Platte wollte keiner haben, die Hallen blieben leer, und die Band war weg. Irgendwann auch das Geld, verzockt, verlebt, vertrunken. Sein feudales Landhaus musste er verkaufen, gar seine ehemals treue Begleiterin Bravo wandte sich ab. Auf dem Starschnitt waren inzwischen andere. Schließlich ging auch die Freundin des Sängers. Vorbei-bei-bei war die Popkarriere. Er begab sich in Behandlung, geplagt von Magenproblemen. Hernach erzählte er, er plane ein Soloalbum mit Liedern über all das, was in seinem Notizbuch „Kims Kladde“ stehe. Nichts passierte. Zwischenzeitlich spielte er in Leander Haußmanns Film NVA einen jungen Soldaten, fiel aber nicht weiter auf. Immerhin war es ein Lebenszeichen, ein schüchternes Winken aus der „Was macht eigentlich …?“-Ecke.

Jetzt ist Kim Frank 24, seine Platte fertig. Sie „soll verdammt noch mal durch die Decke gehen“, sagt er. Hellblau heißt sie, die zwölf Stücke darauf findet er selbst „unglaublich kraftvoll“. Seine Musik sei die beste in Deutschland, sagt er der Süddeutschen Zeitung. Es lebe der Größenwahn.

Zum „Prinzen der Melancholie“ kürte ihn unlängst die MAX, das „Magazin für Popkultur und Style“. Kim Frank bemüht sich, standesgemäß zu dichten: „Immer erst am Morgen verfliegen meine Sorgen, die Sonne geht auf und ich fühle mich hellblau“, singt er im Titelstück. Das klingt eher nach Ausnüchterung, denn nach neuer Lebensfreude. Ungelenk muten seine Zeilen an. In seinen Texten verwechselt er häufig Banales und Tragisches miteinander. Im Stück Berlin hört man, die Verflossene lebe nun in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und versuche sich als „Darstellerin“. Bei Zeilen wie „Sie richtet ihr Leben ganz arrogant nach sich“ dürfte Franks ehemaliger Deutschlehrer wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Da fällt es schwer, auf die Musik zu achten. Die klingt wohl komponiert, aber beliebig. Von Streichern getragene Balladen, hie und da ein bisschen Brusthaar-Rock, fernes Orchestergetöse. Von „großer deutscher Popmusik“ – wie Frank sein Werk lobt – keine Spur.

Bald steht er wieder auf der Bühne. Wie viele Mädchen dann noch kreischen, wird man sehen. Kim Frank freut sich darauf: „Live spielen ist wie Sex. Das hat mir sehr gefehlt.“ Äh, was genau?

„Hellblau“ von Kim Frank ist erschienen bei Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus dem Stück „Berlin“

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Stimmungskekse

Die Kaiser Chiefs aus Leeds spalten die Gemüter. Aber auch ihr zweites Album „Yours Truly, Angry Mob“ steckt voller Hits

Kaiser Chiefs

Die fünf Kaiser Chiefs kennen sich seit ihrer Schulzeit. Zehn Jahre lang waren sie als Musiker glücklos, schlugen sich mit anderer Arbeit durch. Aber sie glaubten an sich. Der Durchbruch kam im Jahr 2005. Seitdem haftet ihnen der unbedingte Erfolgswille als Makel an.

Im Kollegenkreis sind sie unbeliebt. Die Arctic Monkeys verbitten sich unter Androhung des sofortigen Ausstiegs aus dem Musikbusiness jeden Vergleich mit den Kaiser Chiefs: „Sie gehen einem auf den Keks“, befindet ihr Sänger Alex Turner. Für Liam Gallagher von Oasis sind sie „schlechte Blur“ mit einem Faible für Make-up. Sie nehmen es gelassen. Sänger Ricky Wilson erzählte kürzlich in einem Interview, er sei Gallagher zufällig begegnet und habe sich „am Ende fast entschuldigt: Tut mir leid, dass wir scheiße sind!“

In einem Geschäft, in dem die meisten Kollegen den Mund gar nicht weit genug aufreißen können, treten die Kaiser Chiefs kleinkotzig auf. Daheim im Pub erkennen selbst Fans sie nur, wenn sie als Gruppe in ihrer Band-Kleidung unterwegs sind. Und das, obwohl sich ihr erstes Album Employment bislang fast drei Millionen Mal verkaufte.

Ihr zweites Album Yours Truly, Angry Mob wird die Häme nicht verstummen lassen. Die Fünf machen einfach gestrickte, kraftvolle Lieder, verquer gesungene Texte zu treffend beobachteten, englischen Alltäglichkeiten, eingespielt mit mächtigen Gitarrenklängen, tönendem Falsetto-Hintergrund-Gesang und einer unbekümmerten Energie. Die Stimmung steckt an, ob man will oder nicht.

Etliche Hits sind dabei – ob das frischverliebte Ruby, mit dem die BBC vor einigen Tagen ihre Fußballsendung Match of the Day untermalte, die rotzig-selbstironische Hymne Highroyds oder die traurige Upbeat-Nummer Heat Dies Down. Die Kaiser Chiefs sind keine Neuerer und keine Revolutionäre, sie machen Party.

„Yours Truly, Angry Mob“ von den Kaiser Chiefs ist als CD und Doppel-LP erschienen bei B Unique Records/Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Highroyds“

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Björk und Dracula

Der Pianist Michael Wollny liebt Schauergeschichten. Seine erste Solo-CD „Hexentanz“ klingt düstern, spannend, entrückt, ganz wie die Romane von Sir Arthur Conan Doyle

Michael Wollny - Hexentanz

Wenn man ihn in seiner Dachwohnung im Kreuzberger Chamisso-Kiez besucht, kommt man dem Titel seiner neuen CD Hexentanz schnell auf die Schliche. Auf dem Flügel liegt ein Adorno-Buch, an der Wand hängt ein Plakat für den Film A Clockwork Orange. Die Bücherwand verrät, wie sehr Michael Wollny für Sir Arthur Conan Doyle und Dracula schwärmt. Horrormärchen, Schauerfilme… Diese Leidenschaft begleitet den 28-jährigen Pianisten schon seit der Jugendzeit.

Sein Hexentanz bleibt musikalisch nah am Thema, er spielt mit den gängigen Genre-Klischees, fällt aber nicht auf sie hinein. Verminderte Akkorde schaffen eine düstere Grundstimmung, Pausen markieren Spannungsbögen, elektronische Effekte suggerieren gediegene Entrücktheit, rhythmische Attacken unterlaufen von tief unten das Geplänkel an der Oberfläche.

Die Klavierimprovisationen sind von dem Pianisten Joachim Kühn beeinflusst. Seine Methode des Diminished Augmented System wandte Wollny beim Titelstück an. Kühn geht in seinem Spiel von Klängen aus, nicht von Akkorden.

Im Jahr 2005 hatte Wollny das außergewöhnliche Trio-Album call it [em] mit Eva Kruse und Eric Schaefer herausgebracht. Certain Beauty, seine Duo-CD mit dem Saxofonisten Heinz Sauer, wurde in Frankreich als eine der besten CDs des vergangenen Jahres gefeiert. Nach den beiden intensivsten Jahren seiner Karriere zog er sich für ein paar Wochen in den hohen Norden zurück, um die Musik für Hexentanz zu komponieren.

Auf dem Album hat er auch drei Stücke von Björk neu interpretiert. Er bekennt, ein Anhänger der isländischen Sängerin zu sein, besonders ihre letzte CD Medúlla habe ihn sehr inspiriert. Ihn reizen Stücke wie ihr Anchor Song und Jóga, die Klassiker des Jazz spielt er kaum. Die Musik soll etwas mit seinem Leben zu tun haben und nicht schon von den Kollegen abgegrast worden sein. Wenn Wollny sich mit seinem Trio trifft, bringt er Musik mit, die er gerade hört. In jüngster Zeit waren das vor allem alte Sachen von Pulp und neue von Jarvis Cocker.

„Piano Works VII: Hexentanz“ von Michael Wollny ist als CD erschienen bei ACT

Hören Sie hier „Initiation“

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Spontan gerostet

Do Make Say Think improvisieren große Klanggemälde. Gefühlte sieben Gitarristen, ein stoischer Schlagzeuger und eine Handvoll Bläser tun wie zufällig und machen dabei lebendige Lieder. Gesagt wird wenig, gedacht zu allerletzt.

No Women No Cry Vol. 2

Warum eigentlich gilt instrumentelle Gitarrenmusik als kompliziert? Die Art und Weise, wie Tortoise, Godspeed You! Black Emperor, Mogwai oder Do Make Say Think ihre Musik basteln, rege den Intellekt an, unterhalte aber nicht, wird oft angenommen. Alles Quatsch! Denn nichts ist gefühlvoller als die Improvisation. Solche Stücke entstehen im Bauch, nicht im Kopf. Nachhören kann man das nun auf You, You’re A History In Rust, dem fünften Album von Do Make Say Think aus dem kanadischen Toronto.

Wie der Name schon sagt: Sie tun und machen, ganz selten sagen sie ein bisschen was. Gedacht wird bei ihnen – wenn überhaupt – zuletzt. Ihre Musik ist hier getragen und flächig, dort brüchig und durchscheinend. Sind das Klangwände? Eher Klanggemälde. Die Töne werden mit breiter Borste aufgetragen, in weiten Schwüngen von links unten nach rechts oben, hin und her. Dann die nächste Schicht, das Darunterliegende verschwindet immer mehr, aber nie ganz.

Der Anfang der CD klingt, als hätte der Zufall eine große Rolle gespielt bei den Aufnahmen. Es rauscht, der Schlagzeuger spielt ein paar sanfte Takte auf dem Rand der Snare vor, dann haben die anderen Musiker ihre Instrumente eingestöpselt und gestimmt und fallen ein. Erst ein paar zurückhaltende Akkorde, dann immer forscher. Sie scheinen gemeinsam zu spielen. Aber improvisieren sie wirklich? Es gibt Melodien und Klänge, Gitarrenmuster und Rhythmen, die überdauern ganze Stücke; manche wiederholen sich gar so regelmäßig, dass man sie Refrain nennen möchte. Ist die Musik vielleicht doch durchkomponiert? Schwer zu sagen, und eigentlich auch gleichgültig. Denn You, You’re A History In Rust klingt lebendig, gefühlvoll und spontan.

Die Bilder auf und in der Hülle passen sehr schön dazu, man sieht ein rostiges Klavier und ein beinahe kompostiertes Fahrrad. Die Instrumente surren alt und warm. Am deutlichsten klingen immer und überall die Gitarren und Bässe unterschiedlicher Größe, akustisch und elektrisch, gestreichelt und gedroschen, verzerrt und klar. Die Band besteht – gefühlt – aus mindestens sieben Gitarristen. Außerdem ist da ein stoischer Schlagzeuger, er hält den Takt wohl auch noch, wenn die anderen Musiker längst das Studio verlassen haben. Im Halbdunkel stehen ein paar Bläser, immer mal wieder treten sie ins Scheinwerferlicht und pusten vielstimmig dazwischen, dann ist es besonders laut und mitreißend.

Dieses Album klingt nie schwerfällig, sondern immer so agil wie eine Jahrmarktorgel. Die Musiker überfordern ihre Hörer nicht mit Filigranem und Präzisem. Nie verlieren sie sich im Solieren. Auch aus dem größten Krach – man höre nur die letzten drei von achteinhalb Minuten des Executioner’s Blues – finden sie in eine gemeinsame Melodie zurück. Beim zweiten Stück A With Living erschallt plötzlich mehrstimmiger Gesang. Gab es das schon bei Do Make Say Think? Chorhaftes schon, aber verständliche Stimmen?

Ihre Alben tragen oft lustige Namen, ihr zweites hieß Goodbye Enemy Airship The Landlord Is Dead, ihr drittes & Yet & Yet. Der Titel You, You’re A History In Rust ist scheinbar wahllos zusammengesetzt aus zwei Liedtiteln. Als wollten die Musiker sagen: Denkt gar nicht erst darüber nach, es macht ohnehin keinen Sinn. Hört einfach zu!

„You, You’re A History In Rust“ von Do Make Say Think ist als CD und LP erschienen bei Constellation Records

Hören Sie hier „Executioner’s Blues“

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