Lesezeichen
 

Wenn die Zahnfee kommt

Im Land der Teebäume singen holde Feen Weihnachtslieder, und die Bläser der Heilsarmee scheppern klagend. Der Schwede Peter von Poehl singt, als hätte sich Brian Wilson in die Tundra verirrt

Wenn der schwedische Musiker Peter von Poehl deutsch spricht, hat er einen auffälligen österreichischen Akzent. Ob es daran liegt, dass er lange mit dem österreichischen Musiker Florian Horwath zusammengearbeitet hat? Gemeinsam werkelten sie in der Graefestraße in Berlin an Aufnahmen, Graefe Recordings nannten sie sie. Deutsch habe er aber von seinem Vater gelernt, erzählt der 33-jährige von Poehl. Seine Mutter ist Schwedin. In Schweden ist er aufgewachsen, von dort hat es ihn 1998 nach Frankreich verschlagen, dann vor zwei, drei Jahren nach Berlin, genauer Kreuzberg. Er arbeitete mit Bertrand Burgalat zusammen, begleitete den Autor Michel Houellebecq auf Tournee und produzierte das letzte Album des Königs der Nouvelle Chansons, Vincent Delerm.

Was hat ihn nun dazu gebracht, an eigenen Stücken zu arbeiten? „Um ehrlich zu sein: Ich musste diese Platte machen, ich hatte keine Wahl.“ Das Album Going To Where The Tea Trees Are ist zur Hälfte in Schweden und zur anderen Hälfte in Deutschland entstanden, Aufmerksamkeit wurde ihm zuerst in Frankreich zuteil. Beim Pariser Sender Radio Nova wurde seine erste Single Going To Where The Tea Trees Are zum Hit.

Wenn man in Schweden aufwächst, berichtet er, habe man nur zwei Möglichkeiten: „Entweder du spielst in einer Rockband oder Fußball. Ich war immer eher derjenige, der in der Rock- oder Garagenband gespielt hat. In meiner Heimatstadt Malmö bekamen wir den Proberaum von der Stadt gestellt. Wir haben monatlich sogar 50 Euro erhalten, um uns Instrumente zu kaufen. Natürlich haben wir davon eher Bier gekauft.“ Gibt es diese Förderung junger Bands noch immer? „Ich glaube nicht. Aber zu meiner Zeit waren auch die staatlichen Musikschulen für alle Kinder frei. Es ist ein Grund dafür, dass es so viele schwedische Bands gibt.“

Going To Where The Tea Trees Are erzähle vor allem von seiner komischen Beziehung zu seinem Heimatland. Man könnte auch sagen: von der Suche nach einer Heimat. „Schweden ist für mich einerseits bekannt, andererseits vollkommen fremd. Eine wirkliche Heimat habe ich noch immer nicht gefunden.“ In Berlin glaubte er anfangs, einen solchen Ort gefunden zu haben: „Berlin ist weit genug entfernt von Schweden, aber auch nicht zu sehr. Ich glaube, in Schweden gibt es pro Quadratkilometer zehn Menschen, in Paris eine Million. Und in Kreuzberg? In der Graefestraße, hatte ich das Gefühl, gibt es einen Graefe pro Quadratmeter. Das hat mir sehr gut gefallen.“

Mit subtilen Arrangements nimmt er die Hörer gefangen. Kindergitarre und Bläserensemble gehören für Peter von Poehl zusammen. Mit hauchzarter Stimme singt er zur akustischen Gitarre von der Sehnsucht nach einem Platz im Leben, vom Reisen und der Tooth Fairy, der Zahnfee. Saxofon und Tuba, Cello, Flöte, Klarinette und analoge Keyboards umspielen sich. Mit schwedischem Garagenrock hat das wenig zu tun.

Spricht durch die opulenten Hintergrundchöre ein Brian Wilson aus der schwedischen Tundra zu uns? Der Vergleich sei sehr schmeichelhaft und mache ihn stolz, sagt von Poehl, aber eigentlich seien seine Stücke weit mehr von schwedischen Weihnachtsliedern beeinflusst, als von den Beach Boys. „Als Kind habe ich im Schulchor gesungen. Die Arrangements kommen daher. Mich hat damals auch die Kapelle der Heilsarmee sehr beeindruckt. Deshalb verwende ich Bläser. Bei uns gab es in jedem Klassenzimmer ein Harmonium. Jeder Morgen begann mit Musik. Die Lehrerin setzte sich ans Harmonium und begann zu singen, wir stimmten ein.“

“Home is where my heart is”, singt er in A Broken Skeleton Key. Englische Texte, deutschsprachige Interviews, französisches Lebensgefühl und schwedische Erziehung: Irgendwo dazwischen liegt die Heimat des Peter von Poehl. Sein Album träumt ausgehend von den musikalischen Eindrücken seiner Kindheit vom Pop der Gegenwart. Seit Kurzem führe er das auch hin und wieder opulent live auf – „mit zehn Musikern, Bläsern und allem drum und dran“. In Paris trat er mit großer Besetzung unlängst sogar in der altehrwürdigen Cigale auf.

Hören Sie hier „A Broken Skeleton Key“

„Going To Where The Tea Trees Are“ von Peter von Poehl ist erschienen bei Herzog Records/Edel Contraire

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
The Go Find: „Stars On The Wall“ (Morr Music 2007)
Brett Anderson: „Brett Anderson“ (V2 2007)
Air: „Pocket Symphony“ (Astralwerks/Virgin 2007)
Yoko Ono: „Yes, I’m A Witch“ (Astralwerks/Virgin 2007)
Tokio Hotel: „Zimmer 483“ (Universal 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Bürogeräte-Blues

Original oder Kopie? Für Alva Noto keine Frage, bei ihm kommt die elektronische Musik wie aus dem Fotokopierer

Alva Noto Xerrox

Es rauscht und piepst ohne Ende. Geräusche, Geräusche, sie bauschen sich wie mit Elektrosmog verunreinigte Zuckerwatte. Hindurch wabern verschwommene Melodien von neutraler Schönheit, vielleicht ein monumentales Orchesterwerk. Vielleicht auch nur die Musikberieselung vom Hotelklo oder aus der Abfertigungshalle: Haliod Xerrox Copy 2 (Air France) heißt eines der vierzehn Stücke.

Man könnte es einfach Ambient nennen, doch Alva Noto alias Carsten Nicolai, bildender Künstler und Elektronikmusiker, verfolgt andere Ziele. Während die Musikindustrie sich nach wie vor an das Verwertungsmonopol künstlerischer Originale zu klammern versucht, sucht er in der Reproduktion und Vervielfältigung von Klängen neue ästhetische Motive.

Auf seiner Platte Xerrox thematisiert er die Frage nach Original und Kopie mittels einer selbst entwickelten Software, die das technische Prinzip des vor gut fünfzig Jahren erfundenen Xerox-Fotokopierers auf Musik anwendet. Allerdings nicht auf irgendwelche Musik, sondern auf jene Muzak des modernen Lebens, die uns ständig im Berufsalltag, auf Reisen und zwischen den Orten umgibt. Als Samples wandern Ausschnitte aus den Telefonwarteschleifen und Musikunterhaltungsprogrammen internationaler Fluggesellschaften und Hotels in den virtuellen Vervielfältiger. Dauertöne, die an das nervige Summen eines nimmermüden Kopierergebläses erinnern, vermischen sich mit dem Echo eines Lautsprecheransagengongs zu surreal anmutenden Klanglandschaften.

Der besondere Zauber entsteht durch die Fehlerquellen, die sich bei wiederholten Kopiervorgängen ergeben. In Wirklichkeit ist keine Kopie wie die andere, aus diesen Ungenauigkeiten schöpft Carsten Nicolai das Musikalische seiner Geräuschkunst. Die Melodien, die sich Gehör und Bewusstsein besser merken können, als rhythmische Unterschiede, ähneln in ihrer Schlichtheit den einfachen plakativen Farben alter Xerox-Kopien. Spinnwebenfein jedoch dämmern sie nun herauf aus der unbewussten Wahrnehmung und wirken in ihrem neuen Ambiente voller verfremdetem Rauschen und Pulsieren viel intensiver und berührender, als das Original aus der Flughafenhalle oder dem Hotelaufzug.

In seinen früheren Klangwelten ging es Carsten Nicolai um experimentelle Abstraktion. Als Noto schuf er Werke von naturwissenschaftlicher Strenge und kristalliner Eleganz, seine Kooperationen mit dem japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto fanden weltweite Beachtung. Mit Xerrox eröffnet er nun auf dem Chemnitzer Label Raster-Noton eine neue Reihe musikalischer Transaktionen, der ersten CD sollen weitere folgen. Und er meint es ernst mit der Kopieridee: Nicht nur auf dem Silberling für den CD-Schlitz und auf Liebhaber-Vinyl sind die Stücke zu haben, man kann sie auch als SD-Card, als Datenspeicherchip, erwerben! Genau wie bei dem kleinen Ding in der Digitalkamera können die Daten dann beliebig kopiert, weiterverbreitet oder sogar gelöscht und neu überspielt werden.

Doch so flüchtig und austauschbar Daten ihrer technischen Natur nach sein mögen, die musikalisch hintergründige Tristesse auf Xerrox gräbt sich umso tiefer ein. Der kühle, verlorene, aber irgendwie auch selbstvergewissernde Blick von außen, dieses akustische Schweben im Off des ansonsten hektischen Treibens, halten einen noch lange gefangen. Es ist das Lied vom summenden Faxgerät, das der Letzte im Büro vergessen hat auszuschalten. Es ist die Hymne vom weißen Rauschen im Fernseher, als es noch Programme gab, auf denen zwischen nachts und morgens nichts mehr lief. Es ist die Ballade des Geschäftsreisenden, der sich auf der Taxifahrt durch graue Vororte zum Flughafen nicht mehr an die Gesichter oder Namen der Leute erinnert, mit denen er den letzten Drink an der Hotelbar genommen hat. Es ist der Blues des Digitalkünstlers, der dem Schöpfungsfluss von Abbild zu Abbild mit der nächsten Kopie die stille Euphorie kleiner Differenzen entgegenschleudert.

„Xerrox Vol. 1“ von Alva Noto ist als CD, als Doppel-LP und als limitierte SD-Card erschienen bei Raster Noton; das Album ist erhältlich u.a. im Labelshop von Raster Noton

Hören Sie hier „Haliod Xerrox Copy 2 (Airfrance)“ und „Haliod Xerrox Copy 6“

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
2Raumwohnung: „36 Grad“ (it sounds/EMI 2007)
Diverse: „Girl Monster“ (Chicks On Speed Records 2006)
Diverse: „4 Women No Cry“ (Monika 2006)
DAF: „Alles ist gut“ (EMI 1981)
Four Tet: „DJ Kicks“ (!K7 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter

 

Laptop und Flokati

The Go Find malen Musik mit warmen Farben. Wäre die Welt gerecht, würde ihr Album „Stars On The Wall“ die Hitparaden anführen. Sie ist es nicht, ganz oben stehen andere Sterne.

Auf dem ersten Platz der Deutschen Single-Hitparade der vergangenen Woche standen die zwei Schwerenöter Gerhard Friedle und Nikolaus Presnik vulgo DJ Ötzi und Nik P. Ihr Stück Ein Stern (der deinen Namen trägt) verharrt dort seit einigen Wochen. Weder die „sensationelle neue Single“ (Pressemitteilung der Plattenfirma) Nelly Furtados noch die „sensationelle neue Single“ (ebd.) der Mädchengruppe No Angels konnten den tumben Karnevalsknaller bisher überflügeln. „Ein Stern, der deinen Namen trägt, hoch am Himmelszelt, den schenk ich dir heut’ Nacht.“ Utz, utz, utz. Das schmerzt, nicht nur in den Ohren.

In einer gerechteren Welt würden die Lieder von Musikern wie Dieter Sermeus die Hitparaden anführen. Er ist Anfang Dreißig, kommt aus Belgien und hat unter dem Namen The Go Find vor drei Jahren sein erstes Album Miami veröffentlicht. Darauf sang er viele schöne Melodien, begleitet von sich selbst am Laptop und an der Gitarre. Auf Tour bot er seine Lieder mit drei weiteren Musikern dar. Weil das viel besser klang und netter war, nahm er sie hernach mit ins Studio, um das zweite Album Stars On The Wall aufzunehmen. Tim Coenen, Nico Jacobs und Joris Calluwaerts scheinen auf den gemeinsamen Reisen viel gelernt zu haben über den Pop-Entwurf ihres Arbeitgebers.

Solche Sterne lässt man sich gern gefallen. Bunte Sterne, in warmen Farben an die Schlafzimmerwand gemalt. Weich und gedämpft klingen die Instrumente – wie viel schöner doch ein echtes Schlagzeug zu dieser Musik passt! Und die betagt knackenden Synthesizer-Transistoren machen sich viel besser als scheppernde Laptop-Klänge. Über allem liegt eine feine Süße, die weder klebrig ist, noch ironisch gemeint. Dieter Sermeus’ etwas weinerliche Stimme wird hier und da von sanften Doo-doo-doo-doo-Chören begleitet, doch selbst wenn er dick aufträgt, klingt es noch zurückhaltend. Herr Ötzi und Herr P. kämen mit dem bisschen Schmiere nicht bis zum ersten Refrain.

Sermeus‘ neue Stücke lassen deutlich mehr akustische Freiräume, als die des ersten Albums. Erstaunlich, waren hier doch viermal so viele Musiker am Werk. Die Töne sitzen präziser, die Spielerei mit Geräuschen im Hintergrund ist weitestgehend verbannt. Jeder eingesetzte Klang scheint allein das Ziel zu verfolgen, die Melodie herauszustellen. Damit man sie auch ja nicht überhöre, diese feinsinnigen Linien. Aber wie könnte man? Schon das zweiminütige Beautiful Night lockt den Hörer an. Ein Keyboard fiepst süßlich, der alte Synthesizer wabert einen Flokati darunter. “Biii-juuu-tiii-fuuuul Naaa-haaaait“ flüstert ein Frauenchor. Aus der Melodie, die Dieter Sermeus singt, hätte er mehr machen können als so eine winzige Einleitung. Musste er aber offensichtlich nicht, die folgenden zehn Lieder sind ebenso ergreifend. Mal sind sie freudig, mal melancholisch, wie es sich auf einer guten Pop-Platte gehört.

In einer gerechten Welt bräuchte man beim Erzählen von solchen Liedern nicht ins Schwärmen kommen. Aber das wäre ja irgendwie auch schade.

Hören Sie hier „Dictionary“

„Stars On The Wall“ von The Go Find ist als CD und LP erschienen bei Morr Music

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Brett Anderson: „Brett Anderson“ (V2 2007)
Air: „Pocket Symphony“ (Astralwerks/Virgin 2007)
Yoko Ono: „Yes, I’m A Witch“ (Astralwerks/Virgin 2007)
Tokio Hotel: „Zimmer 483“ (Universal 2007)
Two Birds At Swim: „Returning To The Scene Of The Crime“ (Green Ufos 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Öl in die Melone

Maximo Park retten den Britpop. Ihre neue Platte treibt uns den Schmerz der Liebe ins Ohr, gießt warmen Klang hinterher und lässt die Beine nicht ruhen.

Paul Smith trägt neuerdings einen Bowler, wenn er sich für die Presse fotografieren lässt, und das darf man wohl als klare Aussage verstehen: „Seht her, ich bin britisch. Unsere Musik ist es auch!“ Ob dieser Hinweis nötig ist? Der Sänger und seine Band Maximo Park haben gerade ihre zweite Platte, Our Earthly Pleasures, veröffentlicht, und die wirkt auf den ersten Blick schon etwas befremdlich. Was ist das für ein Cover? Fast würde man hinter dem trüben Paar eine jammerige Placebo-Scheibe erwarten.

Um es vorwegzunehmen: Die zehn Lieder auf dem neuen Album jammern nicht. Sie sind aufregend und besänftigend, harmonisch und schräg, rhythmisch und fließend. Sie laufen einem ins Ohr wie warmes Öl. Erst dröhnend, dann mit akzentuierten, zackigen Gitarren beginnt das Lied Girls Who Play Guitar. Hier und in vielen anderen Stücken schimmert noch der erste, aufwühlende Tonträger-Ritt der Jungs aus Newcastle durch, am Anfang von Our Velocity etwa oder im punkigen New Wave von The Unshockable.

Trotzdem wird schnell klar, dass Our Earthly Pleasures keinesfalls die logische Fortsetzung von A Certain Trigger ist – oder gar dessen zweiter Aufguss. Die Band hat vielmehr das vorangetrieben, was sich ganz leise schon auf vielen Stücken der B-Seiten-Sammlung Missing Songs ankündigte: Duncan Lloyd bettet Smiths Stimme mit akustischer und elektrischer Gitarre jetzt in einen satten, flüssigen Klang. Lukas Wooler am Keyboard schöpft nicht mehr ausschließlich aus der vollsynthetischen Tonbox, sondern zeichnet seine Linien häufiger mit dem Klavier, Streichern oder Glöckchen. Die neue Platte ist, selbst wenn sie richtig laut wird – das wird sie oft –, erstaunlich klar und geschliffen arrangiert. Und so ungern wir dieses Wort benutzen: Sie ist auch deutlich eingängiger als ihre Vorgängerin. Our Earthly Pleasures ist eine richtig feine Pop-Platte.

Bestechend ist aber nicht allein die Intelligenz, mit der die Töne zusammengefügt wurden. Es sei mal dahingestellt, ob Paul Smith seit dem ersten Album wirklich so viele Frauen gehabt und so voll gelebt hat, wie nun überall herauf-, herunter- und abgeschrieben wird. Völlig uninteressant auch all die Referenzen an die Weltliteratur, die Smith teils sogar als anmaßend vorgeworfen werden – als müsse man entweder rechtfertigen oder anzweifeln, dass der Mann ganz feinsinnige Texte schreiben kann.

In allen zehn Liedern singt Smith von der Liebe und von den vielen Tönungen, in denen sie dem Menschen begegnet: Da ist der Schatten des Vorgängers, der Schmerz nach dem Ende, die Getriebenheit des Betrugs, die Leere nach dem Tod – und der Zauber des sinnlichen Details. Ob es die leisen Seufzer des Mädchens an der kleinen Bar sind oder die Äderchen auf dem Rücken Rebeccas. Smiths Verse sind Andeutungen, Fragmente, Wortspielereien voller Zärtlichkeit und Zynismus. Es bleibt offen, was sich tatsächlich zugetragen hat. Das Gefühl aber, die Stimmung wird perfekt inszeniert.

Das ist größtenteils sehr traurig, so, wie die Liebe manchmal eben ist. Das Schöne an der neuen Platte von Maximo Park ist: Selbst ein trauriges By The Monument, ein düsteres Karaoke Plays und das melancholische letzte Lied der Platte, Parisian Skies, klingen wild, leidenschaftlich, und vor allem – lebensbejahend.

Hören Sie hier „Our Velocity“

„Our Earthly Pleasures“ von Maximo Park ist erschienen bei Warp/Rough Trade

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
!!!: „Myth Takes“ (Warp/Rough Trade 2007)
The Fall: „Reformation! Post-TLC“ (Slogan/Sanctuary 2007)
Arcade Fire: „Neon Bible“ (City Slang 2007)
Kaiser Chiefs: „Yours Truly, Angry Mob“ (B-Unique/Universal 2007)
Do Make Say Think: „You, You’re A History In Rust“ (Constellation 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Bittersüß

Ungestört zappeln und zwischendurch eine kleine Träne abdrücken: Die Berlinerin MIA macht Techno, zu dem man am liebsten allein auf einer riesigen Tanzfläche stünde.

Cover Herbert

MIA ist Michaela Grobelny aus Berlin. Sie macht Techno, der sowohl zu Hause funktioniert als auch im Club. Weitere Vertreter dieser Dream Techno genannten Spielart sind Lawrence und Pantha Du Prince. Bittersüss ist ihr zweites Album. Ihr erstes hieß Schwarzweiss, die Titel spiegeln die Ambivalenz ihrer Musik wider. In ihr schwingen die Ekstase der Tanzhalle und die Melancholie des Alleinseins. Ihre Stücke vereinen aufwühlendes Stampfen und drängende Basslinien mit ruhigen Klangflächen.

Harmonisch geht es zu auf Bittersüss, simpel und klar. Die Stücke bestehen meist aus wenigen, sparsam eingesetzten Klangelementen. Mit wenigen Mitteln gelingt es MIA, ihnen einen dramatischem Aufbau zu verleihen. Erstmals setzt sie häufiger ihre Stimme ein – auf früheren Aufnahmen kam sie allenfalls in Schnipseln vor. Sie singt nicht, hier flüstert sie, dort summt sie eine Melodie. Auf Under The Bridge legt sie ihren durch Hall verfremdeten Erzählfluss über seltsam klingende, beschleunigte Gesangs-Fragmente. Diese Form des Nichtgesangs, des entkörperlichten Erzählens taucht noch einmal auf bei So I Felt, dem ambitioniertesten Stück des Albums. Es ist eine wahre Industrial-Suite: Ein forsches Bassdröhnen, stumpf-metallisch klingende Schlaginstrumente, schabende Klangeffekte, und darüber ein harsch gestrichenes Cello.

Einiges auf Bittersüss erinnert an den Synthesizer-Pop der frühen achtziger Jahre, wie der Sprechgesang und die industriellen Klänge. Der Synthesizer und die kalten Maschinenklänge helfen ihr, zwiespältige Emotionen auf den Punkt zu bringen. Das Stück Can’t Find You spricht vom Sehnen als einer treibenden Kraft. Der Rhythmus ist fordernd und der Bass schwingt, die verlangsamten Seufzer und die warm wie Kupfer schimmernden Klänge sprechen von einer unstillbaren Sehnsucht. Cold City besteht aus melancholischen Flächen, hochfrequenten Signalen und einem träge insistierenden Rhythmus. Es könnte ein frühes Trance-Stück sein, stark verlangsamt. Die Faszination und Fremdheit einer Großstadt schwingen mit, die Einsamkeit in der Menge. Das ist sicher kein neues Thema im Techno, aber selten wurde es so exquisit artikuliert wie hier.

„Bittersüss“ von MIA ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Sub Static

Hören Sie hier „Swoon“ von „Bittersüss“ und „Swoon (Drama Society Remix)“ von der parallel erscheinenden Vinyl-Maxi „Bittersüss Remixe“

Weitere Beiträge aus der Kategorie TECHNO
Pantha Du Prince: „The Bliss“ (Dial/Kompakt)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Sexy Wummern

Jeden Morgen vor dem Musizieren machen die Musiker von !!! gemeinsame Kung-Fu-Übungen in Unterhosen. Soviel Beweglichkeit zahlt sich aus, ihr neues Album „Myth Takes“ fegt lockeren Fußes über die Tanzflächen.

Aus einer dunklen Ecke der Tanzhalle wankt einer hinüber zum DJ-Pult. Er fragt, was da gerade läuft. Der DJ sagt spuckend so etwas wie „tschik tschik tschik“. „Hä?“ Der DJ schreit zurück: „Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen“, malt diese mit dem Finger in die Luft. Er wünscht sich ein Schild mit drei Ausrufezeichen, das könnte er dann hochhalten. Wahrscheinlich verstünde das aber auch niemand.

!!!, welch ein Name. Um in Suchmaschinen etwas über die Band zu finden, muss man chk chk chk eingeben, so wird das meistens ausgesprochen. Weiß man das, dann erfährt man, dass die Gruppe aus Kalifornien kommt und gerade ihr drittes Album Myth Takes veröffentlicht hat. Man darf sie auch pow pow pow oder bam bam bam nennen, Hauptsache dreimal dasselbe einsilbige Wort. Viel weiter unten liest man, dass das aus dem Film Die Götter müssen verrückt sein kommt, dort wurden rhythmische Laute von Ureinwohnern in der Kalahari-Wüste mit „!!!“ übersetzt.

Früher verfingen sie sich oft in langen Stücken. Auf Myth Takes dominieren klare Strukturen mit Strophe und Refrain, es klingt geordneter, gezügelter. Keine „shit, scheiße, merde“-Gesänge mehr, dafür soulige Frauenstimmen und Rhythmen, die durch den Hintern galoppieren. Rockende Gitarren und Schlagzeuge verschmelzen mit wummernden Clubgeräuschen. Und das so sexy, man muss dazu tanzen. Schon ihr letztes Album Louden Up Now war so clubtauglich, dass der Techno-DJ Sven Väth es zu einer seiner liebsten Platten kürte.

Hier geht es um Rhythmen, erzeugt mit Hilfe elektronischer und gedroschener Schlagzeuge. Drumherum Bläser, selbstversunkene Gitarren, Klanggewirr und Glocken, Punk, Rock und Funk. Das alles nie zu sauber. Die Stücke bauen sich auf, explodieren im Klanggewirr und werden dann plötzlich runtergebrochen. Als wäre der Tänzer gestolpert und würde nun auf der Tanzfläche sitzen. Dann steht er wieder auf und tanzt umso ekstatischer weiter. Gucken ja jetzt sowieso alle.

Geschichten gibt es wenige über die Band. Weder verbreiten die Musiker eine spektakuläre Version ihres Kennenlernens, noch Mythen über Drogenexzesse oder Hotelverwüstungen. Allein die Entstehungsgeschichte von Myth Takes wird wohldosiert der Öffentlichkeit preisgegeben. Für die Aufnahmen hatten die acht Musiker sich gemeinsam ein Haus gemietet, jeden Morgen vor dem Musizieren absolvierten sie gemeinsam Kung Fu-Übungen in Unterhosen. Folglich gibt es auch lustige Werbefotos zur Platte.

Auch auf der Bühne seien !!! großartig. Bei solchen Gelegenheiten werde getanzt, wie sonst nur in der Technodisko, heißt es. Im April kann man das selbst überprüfen, da ist die Band zu vier Konzerten in Deutschland.

„Myth Takes“ von !!! ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Warp/Rough Trade

Hören Sie hier „Heart Of Hearts“

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
The Fall: „Reformation! Post-TLC“ (Slogan/Sanctuary 2007)
Arcade Fire: „Neon Bible“ (City Slang 2007)
Kaiser Chiefs: „Yours Truly, Angry Mob“ (B-Unique/Universal 2007)
Do Make Say Think: „You, You’re A History In Rust“ (Constellation 2007)
Sonic Youth: „Goo“ (Geffen 1990)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Harmoniesüchtig

Pat Metheny trifft das Brad Mehldau Trio: eine Erzählung aus perlenden Tönen in einer Filmmusik ohne Film

Ein Klang wie Sonnenstrahlen, die aus einer Wolke brechen. Wie eine Kaskade hauchzarter Tröpfchen, die sich aus dem feuchten Nebel eines Wasserfalls materialisieren. Eine Harfengitarre lässt die Töne über ihre 42 Saiten perlen; Pat Metheny hat dieses Instrument entworfen und sammelt dessen Klänge in der Komposition The Sound Of Water.
Auf dem aktuellen Album Quartet trifft Metheny auf das Trio Brad Mehldaus. Die Aufnahmen entstanden im Dezember 2005, ein Teil ist bereits im vergangenen Jahr als Duo-Album erschienen. Metheny/Mehldau war 2006 das erfolgreichste Jazzalbum bei iTunes. Jetzt sind auch die zu viert eingespielten Stücke zu hören.

Metheny erklärt, er habe seine Harfengitarre entwickelt, um zu erforschen, was sie als orchestrierendes Element leisten könne.Gerade im Zusammenspiel mit Brad Mehldau habe es sehr viel Raum für Klangexperimente gegeben. Die Harfengitarre habe sich da ganz natürlich eingefügt.

Auffallend sind die durchgängig sanften und weiträumigen Kompositionen. Metheny hat wie Brad Mehldau großes Interesse an Formen. Beiden sei das Musikschreiben ebenso wichtig wie das Spielen. Er versteht sich und seinen Partner vor allem als klangvolle Geschichtenerzähler.

Die Musik auf Quartet erzählt Geschichten, die wie Filmsequenzen vorbeiziehen. Metheny verehrt Ennio Morricone. Und so passen auf diese Platte auch die Stücke Silent Movie und Marta´s Theme, ein Ausschnitt aus Methenys Filmmusik Passagio Per Il Paradiso.

Leider hat die sonst sehr engagierte Plattenfirma Nonesuch den Plattentitel unglücklich gewählt, denn es gibt bereits ein Metheny-Album gleichen Namens aus dem Jahr 1996. Warum nach dem sehr konzentrierten Duo-Album noch die Quartett-Einspielungen veröffentlicht werden mussten, ist auf Anhieb nicht nachzuvollziehen: Der Bassist Larry Grenadier und der Schlagzeuger Jeff Ballard halten sich streng im Hintergrund. Längere Passagen intensiver Auseinandersetzungen finden sich im Quartett-Kontext nicht; auch schaffen die Hinzugekommenen kein Gegengewicht zur manchmal extremen Harmoniesucht der Melodien. Aber vielleicht wollten die Musiker gerade darauf hinaus. In der ruhigen Schönheit liegt die Kraft, im Klang des Wassers.

Hören Sie hier „The Sound Of Water“

„Quartet“ von Pat Metheny & Brad Mehldau ist erschienen bei Nonesuch

Lesen Sie im Interview, was Pat Metheny über Ennio Morricone, Barack Obama und die Avantgarde des Jazz erzählt.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Grunert: „Construction Kit“ (Hongkong Recordings 2007)
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)
Sonny Rollins: „Sonny, Please“ (Doxy 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Der Luxus-Leider

Als Sänger der britischen Band Suede war Brett Anderson immer ein arroganter Mime. Die Stücke seines ersten Soloalbums spülen die Theaterschminke weg – er singt von echten Gefühlen

Was war Brett Anderson für ein Wichtigtuer zu Beginn seiner Karriere als Sänger der britischen Band Suede. Manchen Auftritt absolvierte er mit dem Rücken zum Publikum. In Interviews berichtete er ausführlich von seinem – Achtung, verrucht! – bisexuellen Lebensstil. Glamrock, David Bowie und Gender-Verwirrung waren die Bausteine seiner Karriere. Die Gefühle, von denen er sang, nahm man ihm nicht ab, alles war Pose. Suede wirkten wie ein gut durchdachtes, blutleeres Planspiel auf der Bühne des Pop. Die Gitarrenakkorde trieften, in den Texten reimte sich „bar“ erwartbar auf „car“. An jeder Ecke lauerte Wehleidigkeit. Die Anhängerschaft war riesig.

Ein Wandel im Auftreten setzte erst ein, als Andersons Stern sank. Auf einer der letzten Tourneen von Suede mussten sie auf Festivals die große Bühne für neue Gitarrenbands aus Amerika räumen. Suede spielten so engagiert wie nie. Zum ersten Mal glaubte man einen Blick hinter die Maske des Brett Anderson erhaschen zu können: Ein angstverzerrter Unterhalter stand da, dem die Zeit davonlief. Crack und Heroin brachten den kreativen Stillstand, im Jahr 2003 verkündeten Suede, auf unabsehbare Zeit nicht mehr gemeinsam aufzutreten. Zwei Jahre darauf nahm Brett Anderson ein Album mit der Band The Tears auf. Die Posen der Anfangsjahre legte er ab, die Gefühle, die er einst nur mimte, schienen nun echt.

Auf seinem ersten Soloalbum gibt sich der Engländer persönlich und ungeschützt. Es steigt herab von der Theaterbühne – in den Orchestergraben. Seine Luxus-Leiden haben Spuren hinterlassen, er singt von Drogen, Reichtum, seelenlosen Liebschaften und der großen, verflossenen Liebe. Viele Torch-Songs sind dabei, Liebeslieder eines unfreiwillig Entliebten. Die große Geste liegt ihm immer noch am Herzen. Streichergirlanden umranken die Lieder. Das Piano und dezente Gitarrenlinien schaffen Intimität. Das Album mutet trotz gelegentlicher orchestraler Opulenz spartanisch an.

Das Stück Scorpio Rising ist eine Referenz an den gleichnamigen Film von Kenneth Anger. Die Zeilen „There’s anger in their skin / (…) They move with murder in their veins” klingen wie ein spätes Echo auf die Halbstarken-Bilder, die Anger 1963 mit Musik von Elvis Presley, Ray Charles und Martha Reeves & The Vandellas unterlegte.

Brett Anderson hat über den Umweg einer in den Sand gesetzten Karriere zu sich selbst gefunden. Seine aktuellen Stücke erzählen nur von ihm. Manchmal rührt einen das an.

Hören Sie hier „Scorpio Rising“

„Brett Anderson“ von Brett Anderson ist erschienen bei V2

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Air: „Pocket Symphony“ (Astralwerks/Virgin 2007)
Yoko Ono: „Yes, I’m A Witch“ (Astralwerks/Virgin 2007)
Tokio Hotel: „Zimmer 483“ (Universal 2007)
Two Birds At Swim: „Returning To The Scene Of The Crime“ (Green Ufos 2007)
Kim Frank: „Hellblau“ (Universal 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Luftlos

Das Duo Air lebt von seinem guten Namen. Doch ob auf der neuen Platte oder im Konzert: Was als kühne Mondreise begann, tritt jetzt auf der Stelle.

Der Erfolg hat ihnen nicht gutgetan. Jean Benoît Dunckel und Nicolas Godin neigen zur Selbstüberschätzung, und eine riesige Anhängerschaft erlaubt es ihnen. Mit seinem ersten Album Moon Safari von 1998 hat sich das französische Duo Air ein Denkmal gesetzt. Die Platte traf den Zeitgeist, stieg vom Sofa der Musikspezialisten über die Kneipentresen in die Betten der Mengen. Wohlig vibrierte diese Musik, rührend der Gesang Beth Hirschs.

Noch neun Jahre später zehren die beiden Dandys aus Paris von der Kraft dieser Wellen. Inzwischen haben sie eine unverkennbare, perfekte Klangwelt erschaffen: butterweiche Basslinien, warme Streicher, wabernde Moog-Synthesizer und blitzsaubere Effekte in klümpchenfreier, luftgeschlagener Creme. Air serviert makellose Petits Fours, ideal, um den Augenblick zu zuckern. Den Hunger nach seelenvoller Musik vermögen sie nicht zu stillen.

Das neue Album heißt Pocket Symphony; der Titel lässt an ein Miniatur-Meisterwerk denken. Dunckel und Godin streben nach Großem, scheitern jedoch schon im Kleinen. Eine Sinfonie ist nicht nur ein künstlerisches, in sich schlüssiges Werk. Sie lebt von einer Idee und deren Entwicklung. Musikalische Einfälle finden sich auf dieser Platte nur wenige, ihre Fortschreibung sucht man vergebens.

Air hat der melancholischen Langeweile eine musikalische Entsprechung gegeben. Die Gedanken drehen sich im Kreis, der Schwelgende tritt (oder liegt) auf der Stelle, träumt von bittersüßer Liebe und dämmert in einer See aus Luft dahin. „I’m falling down, down on the ground„, lispelt Jean Benoît Dunckel im Lied Napalm Love. Einmal mitgesunken in diese 48-minütige taschensinfonische Nebelstarre, gibt es nur wenig, was einen aufhorchen lässt.

Die Melodien wirken abwesend, sie umschreiben nur die Akkorde, über denen sie schweben. Wenn Dunckel seine Stimme durch die Effektgeräte schickt und sie in liebliche Frauenchöre transferiert, liegt das Herz des Hörers längst auf eisigem Boden. Lediglich die Gastsänger Jarvis Cocker (Pulp) und Neil Hannon (The Divine Comedy) erwecken das Publikum aus der Betäubung. Ihre gesungenen Geschichten sind eindringlich; zwar kühl, aber menschlich. Sie beherrschen die Stimme als Instrument, anstatt sie mittels Instrumenten zu verfremden.

Cocker und Hannon haben ihre Lieder im Studio abgeliefert, auf Tournee begleiten sie Air nicht. So blieb das Konzert diese Woche im Hamburger Docks statisch. Stilvoll gekleidet erschienen Dunckel und Godin im diffusen Scheinwerferlicht, im Hintergrund drei Mitmusiker. Selbstverliebt und -verloren stellten die beiden Herren ihre Arrangements in den Raum – kein Lächeln, keine Schwäche, keine echte Sympathie für das Publikum. Air spielte die Musik ihrer fünf Platten. Erklangen Stücke von Moon Safari, war der Jubel am größten.

Mit diesem Album haben sich ein Mathematiklehrer und ein Architekt zur Poplegende geformt. Seither ist der Name Air eine Marke kultivierter Wellness-Musik. Das Publikum kauft ungeprüft alles, was unter diesem Zeichen erscheint. Eine zweite Moon Safari wird es aber nicht mehr geben, der Stern verglimmt. Das dämmert den Anhängern, einsehen mögen sie es noch nicht.

Hören Sie hier „Once Upon A Time“

„Pocket Symphony“ von Air ist erschienen bei Astralwerks/Virgin

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Yoko Ono: „Yes, I’m A Witch“ (Astralwerks/Virgin 2007)
Tokio Hotel: „Zimmer 483“ (Universal 2007)
Two Birds At Swim: „Returning To The Scene Of The Crime“ (Green Ufos 2007)
Kim Frank: „Hellblau“ (Universal 2007)
Jamie T: „Panic Prevention“ (EMI/Labels 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Täuschend unecht

Der Musiker als Bastler: Auf „Construction Kit“ verfugt Jakob Grunert Elemente aus Jazz, Funk, Soul und HipHop zu einem verblüffenden Ganzen.

Grunert Construction Kit

Jakob Grunert aus Berlin, später Lüneburg, heute Hamburg, erst Blockflöte, zwischendurch Geige, letztlich schwarz-weiße Tasten, hat dann doch nicht Musik studiert. Sein Fach ist das Kommunikationsdesign, da lernt man auch was und muss hinterher nicht von dem Horn in den Mund leben. Er wird dieses Jahr 27, da wird’s bald ernst.

Vorher noch Construction Kit, seine zweite Platte, zu Deutsch Bausatz. Passend ist die Hülle in jener Optik gehalten, die jeder kennt, der als Kind Flugzeuge, Schiffe oder Panzer zusammengeleimt und bemalt hat.

Um maßstabgetreue Modelle bekannter Musiken geht es Grunert indes nicht. Er verfugt Elemente aus Jazz, Funk, Soul und Hip-Hop zu etwas täuschend Unechtem. Gestopfte Trompete wie von Miles, warmer Bass wie bei Mingus, Fender Rhodes wie zu Zeiten Herbie Hancocks, kraftvolle Rhythmen nach Art seiner jüngeren Vorbilder Medeski, Martin und Wood, Bit-Folklore à la Four Tet, dazu Plattendrehen und Rillenknacken, als wäre die CD aus Vinyl.

Nach dem ersten Hören, der ersten Verblüffung wehrt sich der Kenner. Kennt man doch alles von damals, hat man als digitalen Aufguss schon vitaler gehört vom Kölner Frickler Burnt Friedman oder dem elfköpfigen Tied & Tickled Trio aus Weilheim. Zu harmlos, diese Platte, ein Plättchen!

Aber dann, beim zweiten, dritten, vierten Durchgang, lugen die vielen kleinen Feinheiten, Leimheiten, Gemeinheiten aus den Ritzen des Kunstkörpers hervor. Eben erklang da noch das seelenvolle Baritonsaxsolo mit strömendem Bläsergeschwitz nach Art verehrter Meister, als plötzlich eine Spur eine ednukeS gnal rückwärts läuft. Hier frieeert ein Ton kurz ein, da wiederholt er sisisisich, aber nie so lang, dass man auf seinen Player klopfen wollte.

Natürlich ist das verspielt, mehr 13- als 26-jährig, aber so schön verspielt, dass es schon Spaß macht. Außerdem muss man die Platte beim Wort nehmen. Deconstruction Kit heißt sie eben nicht. Grunert lässt die Musik nie zerfasern, nie zerplatzen; er führt sie nicht vor. Er führt nur vor, was es bedeuten kann, Tonkonserven vieler Jahrzehnte schon mit der Muttermilch eingesogen zu haben. Wer über dem Klanggewirr in unseren Köpfen nicht zum Puristen oder Kostverächter geworden ist, setzt sich zu Jakob ins Zimmer und freut sich am Druck auf die Tube.

„Construction Kit“ von Grunert ist erschienen bei Hongkong Recordings

Hören Sie hier „Intro“ und „The Cosmic Pigeon“

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Thomas Quasthoff: „Watch What Happens“ (Deutsche Grammophon 2007)
Michael Wollny: „Hexentanz“ (ACT 2007)
Gil Evans: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ (Blue Note 2006)
Sonny Rollins: „Sonny, Please“ (Doxy 2007)
Schlippenbach Trio: „Winterreise“ (Psi Records 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik