Dass das pulsierende New York das romantische Paris nach dem Zweiten Weltkrieg als Kunst- und Kulturhauptstadt der Welt ablösen würde, hatte sich das in einem Bereich schon lange abgezeichnet, nämlich im Klang der Moderne: dem Jazz. Ernest Hemingway und Man Ray, Aaron Copland und George Gershwin kamen in den zwanziger und dreißiger Jahren noch, um sich von Paris’ künstlerischer Atmosphäre anstecken zu lassen und von der alten Welt zu lernen. Amerikanische Jazz-Musiker traten da in Frankreich bereits als Botschafter des modernen Klangs auf.
Die Musik aus der neuen Welt wurde in Paris begeistert aufgenommen, die Debatte zwischen Anhängern des traditionellen Hot Jazz und des revolutionären Bebop leidenschaftlich geführt. Paris war der europäische Jazz-Brückenkopf. Die Jazzer galten als Künstler, nicht als Unterhalter. Schwarze Musiker konnten hier etwas angenehmer leben. Mancher – wie der Schlagzeuger Kenny Clarke – siedelte gleich für immer über. Es ist kein Zufall, dass einer der besten Jazz-Spielfilme, Bertrand Taverniers ’Round Midnight aus dem Jahr 1986, an der Seine spielt.
Um das franko-amerikanische Jazz-Erbe machen sich seit einiger Zeit das Label Emarcy und der Zigarettenhersteller Gitanes verdient. In der Reihe Jazz in Paris sind in den letzten Jahren über einhundert CDs erschienen. Sie dokumentieren in hervorragender Klangqualität einerseits Konzerte und Studioeinspielungen amerikanischer Solisten und Gruppen auf der Durchreise. Andererseits erinnern sie an französische Jazzmusiker wie Django Reinhardt (Gitarre), Stéphane Grappelli (Violine), René Urtreger (Piano) oder Pierre Michelot (Kontrabass).
Im Jahr 2005 erschien eine opulent ausgestattete, thematisch und chronologisch sortierte Sammlung aus vier Boxen mit insgesamt zwölf CDs. Jazz In Paris: The 100’s Most Beautiful Melodies ist nun die Sparversion dieses Samplers, erhältlich für unter dreißig Euro. Fünf CDs sind drin, von dem kitschigen Untertitel sollte man sich nicht abschrecken lassen.
Das Begleitbüchlein zur CD ist dünn ausgefallen, die abgedruckten Fotos zeigen Klischees, und die Reihenfolge der Stücke erscheint wahllos. Musikalisch ist die Zusammenstellung jedoch gelungen, sie vermittelt einen Eindruck der Vielseitigkeit und der Atmosphäre der transatlantischen Musik-ménage, die in den fünfziger Jahren ihren Höhepunkt erlebte. Jazz klang damals noch eine Spur rätselhafter und wehmütiger.
Neben bekannteren Aufnahmen von Miles Davis (ein Ausschnitt aus der Filmmusik zu Fahrstuhl zum Schafott von Louis Malle), Louis Armstrong oder Dizzy Gillespie findet man Seltengehörtes. Art Blakeys Jazz Messengers verneigten sich im Jahr 1958 mit dem coolen Des femmes disparaissent vor der französischen Hauptsstadt. Daneben funkeln Juwelen französischer Jazzer, die sich neugierig in die neuen Klang- und Rhythmuswelten stürzten.
Die 5-CD-Box „Jazz In Paris: The 100’s Most Beautiful Melodies“ ist erschienen bei Emarcy/Verve.
Bei über einhundert Stücken aus sechs Jahrzehnten ist es unmöglich, ein typisches Klangbeispiel zu finden. Daher bekommen Sie hier das traurigste zu hören. Der Tenorsaxofonist Lester Young spielt im März 1959 mit einer französisch-amerikanischen Kombo „I Can’t Get Started“ ein. Es war Youngs letzter Parisbesuch. Kurz nach seiner Rückkehr starb er in New York.
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