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Bittersüßes vom Tröster

Ron Sexsmith ist ein Liedermacher mit Hang zum großen Poplied, auch sein neues Album »Exit Strategy Of The Soul« schwelgt in uneitler Eleganz. Solche Platten passen immer: Morgens zum Kaffee, abends zum Rotwein, bei Wolkenbruch wie an Hundstagen.

Exit Strategy Of The Soul Ron Sexsmith

Es gibt sie noch diese Alben, die man tagelang, wochenlang hört. Die im CD-Spieler oder unter der Nadel jammern und um Erlösung flehen: »Bitte nicht noch einmal. Spiel doch mal was anderes!« Doch man kann nicht anders und hört sie wieder. Und wieder. Und wieder. Das war bei jeder der bislang zehn Platten des Kanadiers Ron Sexsmith so. Man konnte sie morgens zum Kaffee hören und abends zum Rotwein, bei Wolkenbruch wie an Hundstagen. Sie funktionierten als Seelentröster und Balsam für die Zipperlein des Alltags.

Ron Sexsmith wurde im Jahr 1964 in Toronto geboren, seit seinem Album Cobblestone Runaway ist er auch in Deutschland bekannt. Vor allem die Freunde der klassischen Liedermacher-Kunst schätzen ihn, die sich gerne im Bittersüßen einigeln und doch Sexsmiths Drang zum großen Pop schätzen. Seine Musik ist etwas für Anhänger von Lambchop, hier perlt die Akustikgitarre, jubeln Streicher, dort klebt süßer Soul-Honig zwischen den Tasten.

Schon auf seinem letzten Album Time Being war das so. Ein bezauberndes Lied zwischen Folk, Country, Soul und Pop folgte dem anderen, alle erhaben und uneitel. Und alle klangen unterschiedlich. „Ich höre sein Album schon ein ganzes Jahr lang, aber es könnten problemlos auch die nächsten zwanzig Jahre sein“, lobte Elvis Costello einmal die Musik Sexsmith’. Und genau das macht ihren Zauber aus. Hat man sie einmal gehört, mag man nicht mehr ohne sie sein.

Auch auf seinem neuen Album Exit Strategy Of The Soul entwickelt Sexsmith seine Stücke vom Klavier aus. Man hört nur einige, sparsam gesetzte Töne, dann ist dieses ganz besondere Gefühl wieder da. Anmutige Schlichtheit und butterweiche Opulenz greifen ineinander, wie man es kennt. Die Stücke sind zeitlos und elegant, manche könnten in den späten Sechzigern entstanden sein und erinnern – auch im Gesang – an Paul McCartney. Fragt man Sexsmith nach den Einflüssen auf seine Musik, dann nennt er gerne zwei andere: Buddy Holly und Ray Davies. Aufführen könnte er auch Elton John, Elvis Costello und Nicolai Dunger. Sexsmith steht ihnen nicht nach.

Nur mit der Opulenz treibt er es an manchen Stellen doch ein wenig zu weit. Er kreuzt seine Kompositionen mit filmmusikalisch anmutendem Orchesterjazz und sämigem Westcoast-Pop, das steht ihnen nicht immer gut zu Gesicht. Und so findet sich auf Exit Strategy Of The Soul bei all seinen hübschen Momenten kein überragendes Stück. Es besitzt nicht die Dichte an potenziellen Lieblingsliedern früherer Alben. Dennoch wird man es tagelang hören. Wochenlang womöglich.

»Exit Strategy Of The Soul« von Ron Sexsmith ist bei Universal Music erschienen.

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Lasst uns jung klingen!

Anfang der Neunziger hatten die Charlatans aus Manchester einige mitreißende Lieder aufgenommen – dann wurden sie müde und lahm. Mit ihrem zehnten Album „You Cross My Path“ knüpfen sie endlich an den früheren Wohlklang an.

Charlatans You Cross My Path

Here Comes A Soul Saver hieß eines der hymnischen Stücke auf dem unbetitelten, vierten Album der Charlatans. Seelen retten, das wollten sie – und schauten von der Hülle, als meinten sie es ernst. Das war Mitte der Neunziger, und die Charlatans waren schon damals keine junge Band mehr.

Erinnern wir uns: Angefangen hatten sie im Jahr 1989, als in Manchester die von DJs und Musikern aufbereitete Fusion aus House, von den Sechzigern inspirierten Gitarrenklängen und dem Kreischen der Hammond-Orgel ihren ersten Höhepunkt erreichte. Damals konnte man Manchester noch eine Arbeiterstadt nennen, eine Stadt der Industrie, das Leben war nicht einfach, doch gab es Hoffnung: Das nächste Wochenende kam bestimmt. Wo England trostlos war, da waren die Nächte lang.

Gerade als der Manchester-Rave am schönsten war, verschwand eine Band nach der anderen in der Versenkung. Nicht so die Charlatans. Ihr Debüt Some Friendly war im Jahr 1990 dank der Single The Only One I Know zum Kassenschlager geworden. Danach gab es fast jedes Jahr eine neue Platte der Band. Die Musiker entfernten weiter sich von ihrem Konzept, Musik für den Tanzboden zu machen und suchten ihr Glück bald in klassischen Popliedern. Aus hedonistischen Disko-Gängern und Pop-Ravern wurde eine Band, die in den späten Neunzigern so klang wie die Rolling Stones ein Vierteljahrhundert zuvor: Rhythm & Blues bosselten sie zu Britpop, der Gitarrist Mark Collins spielte lupenreine Keith Richards-Riffs.

Irgendwann büßten die Charlatans den Groove ein. Die Alben der vergangenen Jahre waren mau, manche richtig schlecht. Man wollte sie nicht mehr hören.

Welche Überraschung: Auf ihrem gerade erschienenen zehnten Album You Cross My Path ist alles wieder da: New Order’sche Melancholie, tanzbare Rhythmen, wummernde Orgeln und Melodien, die sich in Ohr und Herz verhaken. Und auch das spröde Timbre des Sängers Tim Burgess klingt endlich wieder kraftvoll, das zähe Dehnen der Silben kommt so unvergleichlich großmäulig daher, wie man es von früher kennt.

Das erste Stück Oh! Vanity legt einen hinreißenden Ohrwurm über ein stoisch durchgeprügeltes Schlagzeug. Die folgenden Bad Days und Mis-takes ziehen mit ins Manchester der frühen Neunziger. Und das Titelstück: Hart schlägt der Rhythmus, die Gitarre setzt ein, störrisch, beinahe hochnäsig, dann diese unverkennbare Stimme Tim Burgess’. So luftig und mitreißend klangen die Charlatans lange nicht mehr. Es ist eine Lust, die Band heute zu hören: Hier werkeln Männer über 40, die sich versprochen haben, die beste Platte ihres Lebens zu machen. Zwanzig Jahre nach der Gründung der Band wollen sie noch einmal jung klingen.

Bereits Anfang März konnte man das Album gratis von der Website der Band herunterladen, 30.000 Menschen nahmen diese Möglichkeit wahr. Für Charlatans-Sammler und Liebhaber des haptischen Musikgenusses gibt es indes einen besonderen Ohrenkitzel: Neben der CD erscheint ein aufwändiges Kistchen mit großen, schwarzen Schallplatten.

„You Cross My Path“ von den Charlatans ist auf CD und LP erschienen bei Cooking Vinyl/Indigo.

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Vollendete Wiederkehr

In den Neunzigern machten 18th Dye beherzten Geräuschrock, nach zwei Alben lösten sie sich auf. Mit „Amorine Queen“ sind sie jetzt wieder da. Sie klingen, als seien sie nie fort gewesen.

18th Dye Amorine Queen

Eine gezupfte Gitarrenmelodie schwingt sehnsüchtig. So könnte eine amerikanische Indie-Folk-Platte beginnen. Dann setzt die Stimme ein, mehr gehaucht als gesungen. Wer das deutsch-dänische Trio 18th Dye kennt, der weiß, dass es dabei nicht bleiben wird. Und wirklich: Sekunden später zerstören verzerrte E-Gitarren die Idylle.

18th Dye haben eine wechselhafte Geschichte. Nur wenige Gruppen haben in den mittleren Neunzigern so beherzten Noise-Rock gemacht. Damals erschienen ihre Platten auf dem einflussreichen New Yorker Label Matador. Steve Albini nahm ihre Lieder auf, John Peel war begeistert. Die Band tourte mit Yo La Tengo und wurde sogar in den USA bejubelt.

Jetzt erscheint ihr drittes Album Amorine Queen. Das ist eine wirkliche Überraschung, denn die Band von Sebastian Büttrich, Piet Breinholm und Heike Marie Rädeker hatte sich 1995 aufgelöst. Seit drei Jahren geben sie gelegentlich Konzerte. Musikalisch hat sich zum Glück wenig verändert, schroffe Rückkoppelungen treffen auf Ziseliertes. Die Bezugspunkte sind offenkundig: Velvet Underground, Spacemen 3 und Guided By Voices sind in Hörweite, vor allem aber die New Yorker Band Sonic Youth, die Könige der entfesselt drängenden Gitarren. Den Strahlen ihres Leuchtturms folgen 18th Dye bis heute.

Das erste Stück Island vs Island klingt wie ein Prototyp. Der Wechsel von laut zu leise, von der Geräuschwand zum einzelnen, befreiten Ton, das Verschmelzen von Fragilem und Brachialem, unvorhergesehene Wendungen, das Süßliche und das Störrische, der verzerrte und der reine Klang – all das kommt hier zusammen. 18th Dye machen aus Heterogenität hohe Kunst. Das mutet klassisch an und klingt zugleich neu. Denn diese ausufernden, flächigen Rückkoppelungen, dieser zweistimmige Gesang, diese Lust am Klang, diese schwelgerischen Streicher – all das ist in der heutigen Popmusik reichlich ungewöhnlich.

Auf der Hülle des Albums ist eine leuchtende Qualle zu sehen, die durch ein Meer oder das All schwebt. Ein schlüssiges Bild für die Band. Unbeeindruckt von den musikalischen Entwicklungen der vergangenen Jahre bewegt sie sich voran, langsam, fließend, selbstgenügsam, erhaben. Dass diese Qualle wirklich berauschende Lieder schreibt, macht Amorine Queen umso besser. Manche Stücke, Soft The Hard Way etwa, kleben sich binnen Sekunden im Gedächtnis fest, beschwipsen geradezu, fordern stummes Lauschen.

So klingt eine vollendete Wiederkehr.

„Amorine Queen“ von 18th Dye ist auf CD und LP erschienen bei Crunchy Frog/Cargo.

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Die Zauberkraft schwindet

Einst sangen sie heimeligen Märchenpop. Jetzt knüpfen JaKönigJa aus Hamburg eine verflixte Seilschaft mit der weiten Welt und verirren sich in ihr.

JaKönigJa Seilschaft der Verflixten

JaKönigJa, welch passender Name für eine Hamburger Band, deren Stücke schon immer so klangen, als seien sie aus einem Märchenbuch entschlüpft. Fütter’ die Katze, Rotkohl, Sommerkleid und Aus unserem Winterhaus hießen die melancholischen Lieder, die Jakobus Siebels und Ebba Durstewitz in den späten neunziger Jahren bekannt machten: „Was ich am allerliebsten mag an diesem hellen Sonnentag – das ist mit dir ganz weit heraus aus unserm alten Winterhaus“, sangen sie damals.

Zuletzt war 2005 das Album Ebba erschienen, jetzt sind sie wieder da, ganz überraschend. Von der Intimität des Kammermusikalischen, den Chansons und Pop-Skizzen haben sich JaKönigJa auch auf Die Seilschaft der Verflixten nicht losgesagt. Und dennoch merkt man dem von Mense Reents fein produzierten Album an, dass die Band heute anders klingen will: nicht mehr nach innen gekehrt. Nicht mehr nach Winterhaus und Rotkohl, sondern nach Ferne und Weite. Nach dem nächsten Meer und noch mehr: Jazz, Dub, Elektronica, Latin, Easy Listening, Psychedelisches, Noise, Space-Pop, Vaudeville – ihre Musik greift jetzt in alle Richtungen.

Leider franst die Musik durch diese Vielfalt aus, anstatt sich zu verdichten. Sie klingt ratlos und unbestimmt. Ebba Durstewitz’ Stimme – noch immer die einer Märchenerzählerin, so klar und rein, dass es schmerzt – bleibt die einzige Konstante auf einem Album, das nur wenig mehr ist als die Summe seiner vielen Einzelteile.

Man kann die Versponnenheit dieses Albums schätzen, die mal sonnige, dann verdüsterte Atmosphäre, die an Bands wie The Sea And Cake, Stereolab oder auch die High Llamas erinnert. Man mag das Feingeistige goutieren, die vielen Instrumente, die JaKönigJa auf diesem Album versammeln. Man mag etwas an dem Mut finden, wie sie unbefangen über die Grenzen zu kapriziösem Kitsch und Pathos flanieren. Man kann es ganz einfach lieben, wie opulent diese komplex arrangierte Platte schillert.

Doch sonderbar: So verwunschen, so verträumt, wie diese Musik klingt, so schnell entschwindet sie in die hinteren Ecken des Gedächtnisses. Ihre Zauberkraft ist nicht von Dauer: Mit Zeilen wie „Man könnte es auch anders sehen. Doch davon mal ganz abgesehen, kann man nicht alles anders sehen. Es ist bloß schwer einzugestehen” lässt sich keine Seilschaft, kein Bund fürs Leben schmieden.

„Die Seilschaft der Verflixten“ von JaKönigJa ist erschienen bei Buback Tonträger.

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Verrückt wie wir alle

Wie man aus dem Besten der Vergangenheit etwas Neues macht: Mondo Fumatore greifen in die digitale Wunderkiste und zaubern ein aufregendes Elektrorock-Album hervor.

Mondo Fumatore The Hand

Im Jahr 2003 erschien das letzte Album des Berliner Duos Mondo Fumatore. Ihr Elektronikrock klang damals ungewöhnlich für Berliner Verhältnisse. Er entstand zu einer Zeit, als viele Bands begannen, Datapop mit lieblichen Refrains zu spielen. Indietronic nannte sich diese Musik, eine Mischung aus Indiegitarren und Elektronik.

Gwendolin Tägert und Marc Saura sind Mondo Fumatore, sie machen etwas ganz Eigenes. Ihre Lieder sind vom Galeriepop Lali Punas ebenso weit entfernt wie vom Kreuzberger Elektro-Trash Stereo Totals. Jedes ihrer Alben gleicht einer neuen Reise durch die Welt der Popmusik, immer wieder versuchen sie, aus dem Besten der Vergangenheit etwas Neues zu machen. Ihre Musik verbindet Gegensätze, sie glitzert und klingt nach Heimstudio. Sie ist beseelt von Melodien, frönt aber auch der Lust, diese wieder zu zerstören. Mondo Fumatore sind eine Popband: „Wir sind weit davon entfernt, vertrackt klingen zu wollen oder experimentell zu sein“, haben sie einmal gesagt.

Auch auf ihrem neuen Album The Hand pflegen Mondo Fumatore einen gelassenen Umgang mit ihren Vorbildern. Selbstgewiss integrieren sie den amerikanischen Indierock der frühen Neunziger – Pavement, Yo La Tengo oder die Lemonheads – in ihren musikalischen Kosmos. J Mascis von Dinosaur Jr. spielte ihnen ein herrlich selbstgenügsames Gitarrensolo ein – in nächster Nähe zu Kratz-Geräuschen, pumpenden Rhythmen, Händeklatschen, Geklimper und Chören, die „Yeah! Yeah! Yeah!“ singen. Überall ist auf diesem Album klanglich etwas los, man kommt ein bisschen aus der Puste vor lauter Staunen, Lauschen und Sortieren. Das war auf den guten Alben von Beck und den Beastie Boys auch so.

Thunder ist eines der besten Stücke auf The Hand, hier klingen Mondo Fumatore minimalistisch. Über einen Rhythmus und ein einfaches Gitarrenmuster singen sie „Call Me Thunder“, eine Zeile aus Ringo Starrs Drumming Is My Madness. In den meisten anderen Liedern rauscht und scheppert es aus allen Ecken, so mögen die beiden es am liebsten. Hier noch eine jaulende Gitarre, ein versprengtes Echo, dort noch ein Rhythmus aus der digitalen Wunderkiste, ein Chor. Ein Füllhorn voller Ideen ergießt sich aus den Lautsprechern. Ideen, die gleichberechtigt nebeneinander erklingen.

The Hand ist auch der Titel eines Films von Oliver Stone. Ein von Michael Caine gespielter Comic-Zeichner verliert bei einem Autounfall seine rechte Hand, nach einiger Zeit kehrt The Hand in der Fantasie des Zeichners zurück. Auf das Drängen seiner Frau, sich in psychologische Behandlung zu begeben, entgegnet er: „Irgendwie sind wir doch alle etwas verrückt, glaub mir.“ Für Mondo Fumatores The Hand gilt das auf jeden Fall. Es ist etwas verrückt, es ist wirr und verdreht, alles andere als ausbalanciert. Und alles andere als langweilig.

„The Hand“ von Mondo Fumatore ist auf CD bei Rewika erschienen.

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Tschuldigung, sagt die Gitarre

Billy Bragg ist das gute Gewissen der englischen Popmusik. Auf seinem neuen Album „Mr. Love & Justice“ klingt er vielseitig wie immer, seine Texte schwärmen von sozialer Gerechtigkeit und der Familie.

Billy Bragg Love & Justice

„This machine kills fascists“ hatte sich der junge Woody Guthrie auf die Gitarre geschrieben. Der Engländer Billy Bragg machte Ende der siebziger Jahre ein trauriges „This guitar says sorry“ daraus. Seine Karriere als politischer Folksänger hatte gerade begonnen, er betrachtete Guthrie als das linke Gewissen Amerikas. In den achtziger Jahren sympathisierte Bragg mit Neil Kinnocks Labour Party, gründete die linke Aktivistengruppe Red Wedge, und streikte mit den Minenarbeitern. Später gab er sein rotes Parteibuch zurück und rief – frei nach Antonio Gramsci – den „Sozialismus des Herzens“ aus. Derweil schrieb er unzählige Stücke auf der E-Gitarre, aus ihnen klang seine Wertschätzung für Bob Dylan, The Clash und eben Woody Guthrie. Bald war Bragg selbst zum guten Gewissen der englischen Popmusik geworden.

Seit seinem letzten Album England, Half English aus dem Jahr 2002 war es still geworden um Bragg, dafür wurde er von jungen Musikern wiederentdeckt: Hard-Fi und Jamie T etwa spielten Lieder wie Levi Stubbs‘ Tears und A New England nach. Nun – im Alter von 50 Jahren – ist auch Billy Bragg wieder da: Mr. Love & Justice heißt das mit seiner Begleitband The Blokes eingespielte neue Werk.

Nur wenig hat sich verändert. Das erste Stück I Keep Faith, ist typisch Bragg’scher Soul-Pop, I Almost Killed You mit einer Mundharmonika verzierter Folk-Minimalismus, M For Me dann perlender Barjazz. Dazu gesellen sich Country-Rumpeleien, Gospel-Chöre und Orgeln. Manchmal jault die E-Gitarre verzerrt, zumeist obsiegen die Akustische und die Harmonie. Bragg hat die Themen seines neuen Albums so beschrieben: „Es deckt gewissermaßen meine beiden größten Leidenschaften ab: die Liebe zur sozialen Gerechtigkeit und die Liebe zu Frau und Familie.“

Im Titelstück fragt er ebenjenen Herrn der Liebe und Gerechtigkeit, was man in Krisenzeiten wie diesen nur tun könne. Er fragt sich selbst – und verweigert die Auskunft. So eindringlich Bragg seit drei Dekaden Missstände beklagt, einfache Antworten hat er schon länger keine mehr.

Bragg war der Sänger der Minenarbeiter, der Sänger der Gewerkschaften, der Maggie Thatcher ins Fegefeuer wünschte. Er war der Mann, der aus Wut und Leidenschaft betörenden Folk und Pop machte. Die Wut ist beinahe verschwunden, vom Politischen wechselt Bragg heute gerne ins Private – er weiß, dass beides zusammengehört. Geblieben ist er ein leidenschaftlicher Liedermacher mit einem unverwechselbaren Timbre. Mr. Love & Justice ist nicht sein bestes Album, doch es ist sehr gut, weil es so vielseitig ist. Braggs Gitarre sagt bis heute „Es tut mir leid“, doch sie kennt noch ganz andere Tonarten.

„Mr. Love & Justice“ von Billy Bragg ist bei Cooking Vinyl erschienen.

Der Sänger von Sonne, See und SozialismusBilly Bragg im großen ZEIT-Interview »

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Furt mit den Klagen

Über die Jahre (32): Naked Lunch aus Österreich wollten im Jahr 2007 die Schwermut besiegen. Auf „This Atom Heart Of Ours“ ließen sie das Schöne und das Triste harmonisch klingen – ohne dem Kitsch zu verfallen.

Naked Lunch This Atom Heart Of Ours

Anfang vergangenen Jahres erschien This Atom Heart Of Ours, das fünfte Album der Klagenfurter Band Naked Lunch. Produziert wurde es – wie das düstere Songs For The Exhausted zuvor – von Olaf Opal, er arbeitete auch mit The Notwist zusammen. This Atom Heart Of Ours ist kein Abgesang, sondern ein Neuanfang, die Band klingt nun zuversichtlich. Filigran feilen die drei Musiker an der Verbindung von Gitarren und leiser Elektronik, das brüchige Timbre des Sängers Oliver Welter lässt keinen Kitsch zu.

Welter schreibt die Stücke an der Gitarre. Mittlerweile hat er einen eigenen Ton gefunden. „Wir haben eine Geschmackspolizei in der Band, die immer die Sirenen anwirft, wenn einer von uns auch nur von einem einzigen Klang Bauchweh bekommt“, erklärt er.

Über seine Stücke sagt er: „Zentraler Gedanke ist meist die eigene Hölle“. Gemeinsam mit Herwig Zamernik und Stefan Deisenberger malt er diese Hölle auf This Atom Heart Of Ours in leuchtenden Farben aus. Im Titelstück überraschen Naked Lunch mit versöhnlichen Zeilen: „The bells they were ringing with a beautiful sound. A new day rising, a way that we found.“ Die Stimme klingt weltverloren, die Gitarre traurig. Und dennoch: Schwermut will besiegt werden auf diesem Album.

Sie lässt sich mit Schönheit zwingen, oder besser: durchdringen. Das Schöne und das Triste klingen zusammen. Wie der englischen Band The Good, The Bad & The Queen gelingt es Naked Lunch, ein Gefühl zu musikalisieren – das Traurige im Glück und das Glück in der Traurigkeit. Zerbrechlich klingen sie, verloren. In My Country Girl singt Welter „I don’t like where I live, but I love to live with you“, das ist eine Absage an die Heimat Kärnten und im selben Moment eine rührende Liebeserklärung.

This Atom Heart Of Ours ist ein verspieltes und zugleich staubtrockenes Album. Die Band orientiert sich weniger an The Notwist als zuvor, stattdessen jubilieren Chöre und Orgeln, ganz ohne spirituelles Pathos. Dann und wann wehen Störgeräusche hinein, knackt und kracht die Elektronik. Man fühlt sich erinnert an die frühen Jahre der Rockband. Kurz darauf umfangen einen die Harmonien wieder und man träumt weiter. Ganz am Ende dann, in In The End, heißt es: „My arms will hold you in the end, you will forgive me in the end, my love will find you in the end“. In Zukunft wird Liebe sein, wird Freiheit sein, doch bis dahin, so ahnen wir auch beim Blick auf die Hülle, ist es ein steiniger Weg.

„This Atom Heart Of Ours“ von Naked Lunch ist im Jahr 2007 als CD und LP bei Louisville Records erschienen.

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(31) Neil Young: „Dead Man“ (1996)
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(29) Low: „Christmas“ (1999)
(28) Nena: „Nena“ (1983)
(27) Curtis Mayfield: „Back To The World“ (1973)
(26) Codeine: „The White Birch“ (1994)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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