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Duff-Dak mit Wumms

Wer in den Achtzigern Prinzessin Stéphanie verehrt hat, wird Sally Shapiro lieben. Ihr süßer Elektropop ist charmant, eingängig und verbreitet gut gelaunte Melancholie.

Sally Shapiro

Ich düse mit Prinzessin Stéphanie im Cabrio durch Monaco, der Wind verfängt sich in unseren Haaren. Sie trägt ein tolles Kleid in grellem Pink, ein Schlauch aus kleinen elastischen Schlaufen. Ihre Lippen leuchten orangefarben, der Himmel hält azur dagegen. Pfiffe hallen aus den Autos, die wir überholen. Meine Freundin Stéphanie lächelt wissend und winkt ganz elegant und lässig. Ich kann meine Augen nicht von ihr wenden, wie sie will ich auch einmal werden, wenn ich groß bin. Noch bin ich sechs.

Sie blickt mich kokett über den Rand ihrer Sonnenbrille an und dreht das Radio laut: Es spielt Irresistable, ihr Lied! Ich kann noch kein Englisch, also singe ich in meiner Fantasiesprache mit: Shikndaudibell, Shäibiweididell… Wir beide haben einen Riesenspaß und schrauben uns im Cabrio die Serpentinen an der Steilküste empor. Stéphanie zeigt stolz aufs Meer hinaus, da liegt ihre weiße Yacht. Sie plappert vergnügt, plötzlich kommt uns ein Lastwagen entgegen, sie verliert die Kontrolle über das Auto, und wir stürzen den Hang hinunter. Alle Lichter aus.

Vertraute Klänge dringen an mein Ohr, ich schlage die Lider auf. „Stéphanie, bist du’s?!“ „Nein, ich bin Sally Shapiro, deine neue Freundin“, sagt das blonde Mädchen an meinem Bett. Sie spricht Schwedisch und singt Englisch. „Sally? Was ist passiert?“ Sie entgegnet: „Du hast 20 lange Jahre geschlafen, meine Musik hat dich geweckt.“ Dann stimmt sie eine süße Melodie an: I know you’re my love, even though sometimes I believe I will wake up from this dream. Ja, es muss viel Zeit vergangen sein, ich verstehe jedes ihrer Worte und singe gleich mit – ohne Shikndaudibell.

Und doch, diese Musik klingt wie aus den Achtzigern: Metallische Synthesizerflächen bereiten den Grund für beschwingte Ohrwurmlinien, im Hintergrund klötert ein E-Schlagzeug. Duff-Dak, Duff-Dak, Zischschsch. Sally Shapiros Duff-Dak hat mehr Wumms als damals Stéphanie, Sandra oder Limahls Never Ending Story. Er ist in der Gegenwart angekommen und greift neue Elektro-Spielereien auf, mal treibend und sonnig, mal sphärisch und benebelt. Das ist gut gelaunte Melancholie. Stilecht bindet Sally französische Sprechpassagen ein. Sie erzählt von Liebe, Nähe, Sehnsucht und schwelgt im gängigen Repertoire der Poplyrik. Ihre sanfte, kindliche Stimme bewegt sich nach damaliger Mode. Oder ist es die Mode von heute?

Journalisten schreiben von Discotrash, Sally Shapiro besinne sich auf die große Ära der Italo-Disco. Es ist unüberhörbar: Stilelemente der Achtziger erfahren seit einigen Jahren eine Renaissance; Rock, Pop, Elektro mischen mit. Selten aber wurden diese Klänge so konzentriert und charmant wiederbelebt wie auf Sally Shapiros Debütalbum Disco Romance. Die junge Schwedin hat eine Kunstfigur erschaffen, einen Namen gewählt, der nach glitzernden Lurex-Leggins klingt, und die entsprechende Musik drum herum gewoben. Sie ist so schüchtern, ihr ätherisches Stimmchen flattert nur im Studio, und keiner darf dabei sein. Werden wir sie je auf einer hell erleuchteten Disco-Bühne sehen dürfen? Abwarten. Ich jedenfalls nehme schon mal Platz im Cabrio.

„Disco Romance“ von Sally Shapiro ist erschienen bei Klein Records (Diskokaine)

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Apparat: „Walls“ (Shitkatapult 2007)
The Student Body Presents: „Arts & Sciences“ (Rubaiyat 2007)
Gudrun Gut: „I Put A Record On“ (Monika 2007)
A&E: „Oi!“ (Sonig 2007)
Alva Noto: „Xerrox Vol. 1“ (Raster Noton 2007)

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Luftlos

Das Duo Air lebt von seinem guten Namen. Doch ob auf der neuen Platte oder im Konzert: Was als kühne Mondreise begann, tritt jetzt auf der Stelle.

Der Erfolg hat ihnen nicht gutgetan. Jean Benoît Dunckel und Nicolas Godin neigen zur Selbstüberschätzung, und eine riesige Anhängerschaft erlaubt es ihnen. Mit seinem ersten Album Moon Safari von 1998 hat sich das französische Duo Air ein Denkmal gesetzt. Die Platte traf den Zeitgeist, stieg vom Sofa der Musikspezialisten über die Kneipentresen in die Betten der Mengen. Wohlig vibrierte diese Musik, rührend der Gesang Beth Hirschs.

Noch neun Jahre später zehren die beiden Dandys aus Paris von der Kraft dieser Wellen. Inzwischen haben sie eine unverkennbare, perfekte Klangwelt erschaffen: butterweiche Basslinien, warme Streicher, wabernde Moog-Synthesizer und blitzsaubere Effekte in klümpchenfreier, luftgeschlagener Creme. Air serviert makellose Petits Fours, ideal, um den Augenblick zu zuckern. Den Hunger nach seelenvoller Musik vermögen sie nicht zu stillen.

Das neue Album heißt Pocket Symphony; der Titel lässt an ein Miniatur-Meisterwerk denken. Dunckel und Godin streben nach Großem, scheitern jedoch schon im Kleinen. Eine Sinfonie ist nicht nur ein künstlerisches, in sich schlüssiges Werk. Sie lebt von einer Idee und deren Entwicklung. Musikalische Einfälle finden sich auf dieser Platte nur wenige, ihre Fortschreibung sucht man vergebens.

Air hat der melancholischen Langeweile eine musikalische Entsprechung gegeben. Die Gedanken drehen sich im Kreis, der Schwelgende tritt (oder liegt) auf der Stelle, träumt von bittersüßer Liebe und dämmert in einer See aus Luft dahin. „I’m falling down, down on the ground„, lispelt Jean Benoît Dunckel im Lied Napalm Love. Einmal mitgesunken in diese 48-minütige taschensinfonische Nebelstarre, gibt es nur wenig, was einen aufhorchen lässt.

Die Melodien wirken abwesend, sie umschreiben nur die Akkorde, über denen sie schweben. Wenn Dunckel seine Stimme durch die Effektgeräte schickt und sie in liebliche Frauenchöre transferiert, liegt das Herz des Hörers längst auf eisigem Boden. Lediglich die Gastsänger Jarvis Cocker (Pulp) und Neil Hannon (The Divine Comedy) erwecken das Publikum aus der Betäubung. Ihre gesungenen Geschichten sind eindringlich; zwar kühl, aber menschlich. Sie beherrschen die Stimme als Instrument, anstatt sie mittels Instrumenten zu verfremden.

Cocker und Hannon haben ihre Lieder im Studio abgeliefert, auf Tournee begleiten sie Air nicht. So blieb das Konzert diese Woche im Hamburger Docks statisch. Stilvoll gekleidet erschienen Dunckel und Godin im diffusen Scheinwerferlicht, im Hintergrund drei Mitmusiker. Selbstverliebt und -verloren stellten die beiden Herren ihre Arrangements in den Raum – kein Lächeln, keine Schwäche, keine echte Sympathie für das Publikum. Air spielte die Musik ihrer fünf Platten. Erklangen Stücke von Moon Safari, war der Jubel am größten.

Mit diesem Album haben sich ein Mathematiklehrer und ein Architekt zur Poplegende geformt. Seither ist der Name Air eine Marke kultivierter Wellness-Musik. Das Publikum kauft ungeprüft alles, was unter diesem Zeichen erscheint. Eine zweite Moon Safari wird es aber nicht mehr geben, der Stern verglimmt. Das dämmert den Anhängern, einsehen mögen sie es noch nicht.

Hören Sie hier „Once Upon A Time“

„Pocket Symphony“ von Air ist erschienen bei Astralwerks/Virgin

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Yoko Ono: „Yes, I’m A Witch“ (Astralwerks/Virgin 2007)
Tokio Hotel: „Zimmer 483“ (Universal 2007)
Two Birds At Swim: „Returning To The Scene Of The Crime“ (Green Ufos 2007)
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Jamie T: „Panic Prevention“ (EMI/Labels 2007)

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Unters Eis

Pantha du Prince macht den Winter hörbar – mit mikroskopisch feinen und überraschenden Tönungen. „This Bliss“ ist ein Album zum rauschhaften Lauschen

2raumwohnung 36 Grad

Draußen streiten die Winde, die Menschen bibbern vor Kälte. Einige Mutige wagen sich auf den zugefrorenen See. Plötzlich bricht das Eis, eine Spalte tut sich auf, die Geigen tremolieren, das Cembalo jagt davon. Antonio Vivaldi mochte den Winter nicht. In einem Sonett zu seinen berühmten Vier Jahreszeiten fragte er gar, welche Freude er überhaupt bringe.

Vor 280 Jahren waren die Winter wohl härter als heute. Der Fortschritt mag dazu geführt haben, dass uns ein unberührter Schneehang und Eiszapfen am Fenster romantisch stimmen. Hendrik Weber lässt nun den (post)modernen Winter klingen und lädt zum Eisbaden ein. Als Pantha du Prince steigt er ins schwarze Wasser, kurz vorm Gefrierpunkt. Ein regelmäßiger, warm tropfender Beat und das Echo eines Synthesizers sind sein Basso Continuo. Aus der Tiefe schnellen silbrige Bläschen empor. Ganz still liegt der See. Der nackte Körper gewöhnt sich an die Kälte, findet seinen Rhythmus. Mit Armen und Beinen wirbelt er einen minimalen, technoiden Dub ins Nasse. Immer neue Strömungen formen sich, verlassen das Zentrum, sammeln sich in einem Nebel aus Wasserperlen, stieben auseinander, treffen sich wieder.

In sphärische Weiten entführen die Töne Hendrik Webers. Regelmäßigkeiten lösen sich auf, Phrasen enden unvermittelt im Nichts, gefallene Fäden werden aufgenommen und weiter verwoben. Das ist Techno der feinen hanseatischen Art, wie ihn das Label Dial hervorbringt. Nicht zum ekstatischen Tanzen, sondern zum berauschenden Hören erdacht.

Welch’ Wonne, welch’ ungeahnte Feinheiten gibt es zu entdecken auf diesem Album von Pantha du Prince. This Bliss hat er es passend genannt. Seine Arrangements sind instrumental und bleiben in ihrer feinen Stimmführung und molekularen Motiventwicklung die ganze Platte über spannend. Er lässt den Klängen ebenso viel Freiraum wie dem Zuhörer: Nur wenige Stücke sind so programmatisch wie Eisbaden. Jeder darf interpretieren, erkennen, verwerfen. Hendrik Weber will sich und seine Musik nicht erklären und hofft doch, wie jeder Künstler, auf Verständnis.

Das hat er verdient.

„The Bliss“ von Pantha du Prince ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Dial/Kompakt

Hören Sie hier „Eisbaden“

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Be-la-la-la-langlose Kostümschau

Gwen Stefani rüscht sich zur Popfigurine auf. Das neue Album „The Sweet Escape“ klingt nach all ihren musikalischen Gewandmeistern, bloß nicht eigen. Vielleicht sollte sie lieber nur Mode machen

Gwen Stefani

I’m just an Orange County girl, livin’ in an extraordinary world. And the girls sing – La la la la la la la, and the guys sing – La la la la la la la. Man würde ihr so gern glauben. Zum Nachweis ihrer Einfachheit legt Gwen Stefani dem Album The Sweet Escape gefühlsduselige Bilder bei. Lebt hinter der mondänen Fassade wirklich ein ehrliches, liebesbedürftiges Mädchen? Verbergen die getönten Gläser nur die Tränen, die es den Freunden hinterherweint, die sie verließen, verschreckt von der Glitzer-Aura? Herrjemineh, wer nimmt der Schönen denn ab, dass unter all den Gucci-, Westwood- und Galliano-Hüllen immer noch die alte Gwen from the block steckt?

Früher war sie ein freches Ska-Mädchen und sang für die kalifornische Band No Doubt. Als die eine Pause einlegten, rüschte Gwen Stefani sich zu einer Figurine der Popkultur auf: Ihr Solo-Debüt L.A.M.B. aus dem Jahr 2004 verkaufte sich rund acht Millionen Mal, nebenher entwarf sie eine gleichnamige Modekollektion. Die vier Buchstaben stehen für Love, Angel, Music, Baby, so taufte sie auch ihre vier in Dirndlmieder, Springerstiefel und Schottenröcke verpackten asiatischen Tänzerinnen. Und vom nächsten Herbst an können ihre Fans dann nach Liebe, Engel, Musik und Kleinkindern duften.

Viele Popstars vermarkten ihre eigenen Parfüm- und Modelinien, selten aber sind Musik und Klamotte so verschränkt wie bei ihr. In jedem zweiten Lied singt sie von Luxuskleidern, ihre Konzerte sind Modenschauen. Sie verehrt Madonna und die modebewussten Mädchen aus Harajuku, dem Bahnhofsviertel Tokios. Von ihnen lässt sie sich inspirieren. Gwen Stefani fehlt es an Sprachsinn und Poesie, nicht aber am Mut zur Affirmation des Ego-Produkts. Mal um Mal betont sie ihre Glaubwürdigkeit und Coolness. „The girls want to know why boys like us so much (…) They like the way that l.a.m.b. ist going ’cross my shirt. They like the way my pants, it complements my shape“, protzt sie in ihrer Jodel-Single Wind It Up.

Wie man sich zur egozentrischen Champagner-Heldin aufspielt und dabei Bodenhaftung vortäuscht, brachten ihr wohl Pharrell Williams und die Neptunes bei. Das erfolgreiche Produzententeam revolutionierte vor sechs Jahren mit verschrobenem Minimalismus den R’n’B und griff auch Britney Spears, Mariah Carey, Beyoncé und Justin Timberlake unter die Arme. Wind It Up ist ein Paradestück neptunischer Skurrilität und gleichsam der einzige Lichtblick auf Gwen Stefanis zweitem Soloalbum. Es rappelt wie ein Jahrmarkt, nervöses Hufeklappern umschwirrt die wummernde Marschtrommel, und das All-American-Girl jodelt zu Klangschnipseln aus seinem Lieblingsalpenmusical The Sound Of Music. Eine wahrhaft schräge Überraschung. Oder vielleicht doch nur ein neuer durchkalkulierter Modeentwurf? Von L.A. über Tokio nach Salzburg ist es für Musikfreunde schließlich nur ein Katzensprung.

Ansonsten singt sie Be-la-la-la-langloses in das teure Studiomikrofon. Die folgenden elf Stücke auf The Sweet Escape klingen blankpoliert und amerikapoppig. Sie lassen weniger einen eigenen Stil erkennen als den des jeweiligen Produzenten – neben den Neptunes helfen namhafte Popschreiber wie Linda Perry von den 4 Non Blondes oder Martin Gore von Depeche Mode aus. Klöternder R’n’B trifft auf elektrisierten HipHop, New Age auf BritPop. Gwen Stefani schlüpft in die Kompositionen ihrer musikalischen Gewandmeister wie in neue Kostüme. Jedes Lied lässt sie anders aussehen.

Dass dieses Album keine Richtung habe, mache es sehr modern, sagt sie. „Ich habe nie geplant, noch eine Soloplatte zu machen. Es ist irgendwie peinlich, darüber zu reden. Ich hatte noch ein paar fantastische Songs von der ersten übrig. Ich wollte aber ein Baby haben. Jetzt habe ich beides. Ich schwimme einfach mit dem Strom“, zitiert sie der Internetdienst PR inside. Wenn das 37-jährige Mädchen hinter der großen Brille so denkt, sollte es lieber den Mund halten und Mode machen. Damit lässt sich auch viel Geld verdienen.

„The Sweet Escape“ von Gwen Stefani ist erschienen bei Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Wind It Up“

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Sodastream: „Reservations“ (Hausmusik 2006)
Sufjan Stevens: „Songs For Christmas Singalong“ (Asthmatic Kitty/Cargo 2006)
Foetus: „Love“ (Birdman Records/Rough Trade 2006)
Take That: „Beautiful World“ (Universal 2006)
ABC: „Lexicon Of Love“ (Mercury/Universal 1982)

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Schuhkauf hilft immer

Mit Elektropop und Stilbewusstsein zum Stimmungshoch: Soffy O. macht Musik für gebeutelte Großstädterinnen. Auf „The Beauty Of It“ singt sie vom verkorksten Gefühlsleben und bittet zum Tanz

Cover Soffy O

Es ist Samstagmittag. Ein paar Sonnenstrahlen schlängeln sich zwischen Fensterscheibe und Gardinen in Charlottes Bett und kitzeln ihre Wimpern. Augen auf, auch wenn es schwer fällt nach dieser durchtanzten Nacht. Draußen ist der Tag, ist das Leben, sind die Leute! Schnell den Schlaf weggewaschen, dann hinein in die Röhrenjeans, das Streifenshirt und Muttis abgetretene Schluppenstiefel. Rot auf die Lippen, Kajal auf die Lider, den Haarreif in die wilden Pony-Strähnen geschoben, Lederblouson und Täschchen geschnappt und aus der Tür. Ach, den iPod nicht vergessen!

Keinen Schritt mehr tut sie ohne ihr neues Lieblingsalbum: The Beauty Of It von Soffy O. Energisch, mädchenhaft, selbstbewusst – mit diesen Klängen im Ohr wird der rhythmisch wippende Marsch an den Milchkaffeebars entlang über den belebten Szenelaufsteg zum vollen Erfolg. Blicke sind garantiert. Hallo hier, Küsschen-Küsschen da. Manchmal auch Küsschen-Küsschen-Küsschen.

Bestens gelaunt und ein bisschen verwegen reserviert entert sie den angesagten Klamottenladen. Konsum wird helfen, dass die gute Stimmung bleibt. Ein kurzer Plausch mit der Verkäuferin über die neue Schuh- und Hosenlieferung, dann ein Besuch beim diensthabenden Boutiquen-DJ. Er legt gerade Soffy O. auf. Die spiele er hier oft, sie passe so gut zur Mode in den Regalen: Club-Kultur gemischt mit Sounds der 60er und 80er. Er freue er sich besonders, wenn mal jemand nachfragt. Soffy O. heiße eigentlich Sophia Larsson Ocklind und komme aus Schweden. In Deutschland habe sie schon 2001 einen großen Hit mit den Berliner Technojungs von Tok Tok gehabt, weiß er. Das Album habe Mocky mit ihr produziert. Und auf Don’t Go Away singe er auch.

Dazu kann Charlotte prima die Sonderangebote durchstöbern. Zum nächsten Lied Haven’t Had Much findet sie einen breiten Ledergürtel mit großer Metallschnalle, die passenden Cowboystiefel warten schon zu Hause. Everybody’s Darling empfiehlt einen gepunkteten Petticoat und rote Ballerina-Schühchen. Das kühle Let Me Care bleibt ganz in Schwarz, aber auf einer Seite schulterfrei. Während You Push Me läuft, probiert sie ein Oberteil mit Fledermausärmeln, Neon-Gelb mit pinkfarbenen Blitzen drauf. Vor dem Spiegel in der Umkleidekabine übt sie aufregende Tanzposen für den kommenden Disco-Abend ein, Fun Fun Fun.

Soffy O. spricht Großstadtmädchen wie Charlotte aus der zerwühlten Seele. Ihre naive, starke Stimme erinnert mal an eine generalüberholte Janet Jackson und mal an das knatternde Timbre von Louise Rhodes, der Sängerin des englischen Triphop-Duos Lamb. Sophia Ocklinds Pop ist mal fröhlich, mal düster, mal süßlich, mal herb, mal sehr organisch und dann wieder elektronisch. Das mögen auch die Jungs. Und um die und das ganze verkorkste Gefühlsleben geht es in den Texten: Machtspielchen, Rachegelüste, Unsicherheiten, Trennungen, Erniedrigungen, Sehnsucht. Da läuft die Kreditkarte heiß – Schuhkauf hilft immer.

„The Beauty Of It“ von Soffy O. ist als CD erschienen bei Virgin/EMI

Hören Sie hier „You Push Me“

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I’m From Barcelona: „Let Me Introduce My Friends“ (Labels 2006)
The Whitest Boy Alive: „Dreams“ (Bubbles 2006)
Nico: „Chelsea Girl“ (Polydor 1968)
Depeche Mode: „Violator“ (Mute 1990)
Tim Hardin: „1“ (Verve 1966)

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Zottelmonster, du mein Augapfel!

Über die Jahre (8): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Mit seinem Album „Music Of My Mind“ bewies Stevie Wonder 1972, dass er sich nicht auf die Rolle der Kitschbacke am E-Piano festlegen lässt. Sein schmeichelnder Soul grunzt und zirpt

Cover Stevie Wonder

Es ist schon ein bisschen her, da brachte man auf Privatpartys noch seine eigenen Platten mit. Einen erklärten DJ gab es nicht, jeder durfte mal abspielen, was er liebte. Heute findet man überall, wo gefeiert wird, ein Laptop oder zwei Plattenspieler. Und dahinter thront der Mitbewohner, Bruder oder Nachbar des Gastgebers als mehr oder weniger umgänglicher Musikdiktator.

Als die musikalische Abendgestaltung noch demokratisch war, bestand mein Partygepäck nicht aus Zigaretten, Puder und Lippenstift, sondern aus Musik. Bereits am Abend vorher hatte ich die Hüllen meiner CDs – ich gebe zu, als Kind des digitalen Zeitalters besitze ich fast kein Vinyl – mit meinem Namen versehen. In der Hoffnung, sie würden nach der Feier wieder zu mir zurückfinden.

Ich brachte immer etwas von Stevie Wonder mit, und die anderen guckten mich ungläubig an: „Häh, wie bist du denn drauf? Das ist doch diese alte Kitschbacke!“ Dann fingen sie an, den Kopf zu wiegen und zu leiern… „I just called to say I love you …“ oder „You are the sunshine of my life“.

Ja, mit You are the sunshine … fing meine – leider einseitige – Beziehung zu Stevie an. Als Zwölfjährige verbrachte ich fünf Tage in einem musikalischen Sommerferienlager, ich spielte im Orchester und sang im Chor. Hundert Kinder übten zusammen eine große Show für die Eltern ein, man nannte es ein „buntes Potpourri“. Wir sangen Stevie Wonders Lied von Sonnenschein und Augapfel, ich war infiziert.

Ein paar Jahre Inkubationszeit, dann legte ich los mit dem Plattenkauf. Über die Greatest Hits näherte ich mich dem Großmeister des Soul. Ich stieß auf Music Of My Mind und war hingerissen: Wie vielgesichtig ist der schwarze Mann mit der Sonnenbrille, wie schlicht sein Kitsch, wie druckvoll sein Funk und wie modern sein Klang!

Bis heute passt Music Of My Mind zu jeder Hörgelegenheit und wird nie langweilig: Es gibt schnelle und langsame Nummern, Herziges und Tanzbares, spannende Arrangements und einen wunderbaren Sänger. Wie Stevie Wonders Stimme sanft durch die Oktaven gleitet, sich hier und da verschnörkelt, in den Höhen strahlt und in den Tiefen wärmt, beeindruckt ganz beiläufig. Humor hat er auch. Vordergründig wirken seine Lieder klar und poppig. Im Hintergrund aber rumpelt und rödelt es, und Stevie verwandelt sich in ein zotteliges Sesamstraßenmonster. Er keucht und zischt, lässt die Orgeln grunzen, die Mundharmonika zirpen. Bis auf wenige Passagen hat er dieses Album ganz allein eingespielt.

Dass er so gerne über das Glück der Liebe und seine Mädchen singt, mag ich ihm nicht verübeln – das ist eben Soul. Wer in ihm dennoch nur die Kitschbacke am E-Piano sieht, hat möglicherweise in den 80ern zu viel Dudelfunk gehört. Mein Stevie jedenfalls ist ein anderer.

„Music Of My Mind“ von Stevie Wonder ist erhältlich bei Motown/Universal

Hören Sie hier Ausschnitte aus „Love Having You Around“ und „Superwoman“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Wie sandfarbener Samt

Ein wenig Folk, ein wenig Blues, ein wenig Soul – mit seinen Gitarrenklängen und dem sanften Gesang auf „Biscuits For Breakfast“ erobert Fink (UK) auch erwachsene Hörer

Cover Fink

Sie geht vorbei, damit man ihr folgt. Mit geschmeidiger Nonchalance macht sie die Jungs verrückt. Die stolpern von Soforthabenwollen zu Lieberseinlassen, denn sie ist ein heißes, kleines Ding, an dem man sich leicht verbrennen kann. „Don’t suppose it would be cool if we hung out“, singt Fin Greenall wehmütig. Und so seelenvoll und schön, wie er diese Göttin des Bürgersteigs entwirft, sind viele seiner Lieder.

Als Fink (UK) macht der Mann aus Brighton eine Musik, die elegant zwischen den Stilen changiert und sich nicht festlegen lässt. Auf seinem zweiten Album Biscuits For Breakfast mischt er Straßenlyrik mit Poesie und Gitarrenromantik mit urbaner Musikkultur.

Die ersten Töne der Single Pretty Little Thing blubbert eine Elektro-Orgel. Dazu gesellt sich eine rhythmisch gezupfte Akustikgitarre, ein unregelmäßiger Beat ploppt wie ein Flummi. Über all das legt Greenall wie beiläufig seine sanfte Stimme. Das durchsichtige Klanggeflecht verdichtet sich mal zu typischen Blues-Harmonien, dann wieder dominiert luftiger Soul. Und immer ist da auch eine Spur von Liedermacheridylle.

Fin Greenall suchte den ehrlichen, direkten Ausdruck. Als DJ ist er um die Welt geflogen, hat Platten für andere Musiker produziert und ein TripHop-Album veröffentlicht. Mit seinem vielschichtigen Gitarren-Purismus fand er nun einen Stil, der das britische HipHop-Label Ninja Tune überzeugte: Zum ersten Mal nahm man dort einen Singer/Songwriter unter Vertrag.

Wie sandfarbener Samt klingt der Gesang. Greenall knattert und nuschelt uns ins Ohr, als verriete er private Geheimnisse. Ein wenig melancholisch und wolkenverhangen, aber durchaus mit Lichtblicken. Den Klassiker All Cried Out von Alison Moyet bringt er in unerhörter Schlichtheit zum Leuchten.

Biscuits For Breakfast lässt den Blick in die Ferne schweifen. Überall, wo Sehnsucht und Traurigkeit die Gemüter beherrschen, spielt diese Musik den Traumfänger. Auf dem Balkon unterm Sonnensegel, im Schnellzug übers Land oder am knisternden Strandfeuer. Und wen interessiert da, ob das nun Folk, Blues oder Soul ist?

„Biscuits For Breakfast“ von Fink (UK) ist als LP und CD erschienen bei Ninja Tune. Um nicht mit der Hamburger Band Fink verwechselt zu werden, steht in Deutschland das UK für United Kingdom hinter seinem Namen.

Hören Sie hier „Pretty Little Thing“ und „All Cried Out“

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Sechs Freunde sollt ihr sein

Nun wird getanzt, aber ist das ein Jazzclub oder eine Disco? „Navy Brown Blues“ von Mocky pendelt zwischen vielen Stilen. Der kanadische HipHopper hat gute Musiker um sich geschart. Wenn er nun noch die Klappe hielte!

Cover Mocky

Die Welt zu Gast bei Freunden: Hier läuft Kanadas musikalische Nationalmannschaft auf.

Als Kapitän führt der Rapper Dominic Salole das Wort, er nennt sich Mocky. Im Mittelfeld die Folk-Prinzessin Leslie Feist. Links außen röhrt Peaches, rechts außen tanzt Taylor Savvy, im Tor wacht Gonzales. Das kleine Team trainiert teils in Berlin-Kreuzberg, teils in Paris; es hat sich durch Englands beseelten Stimm-Stürmer Jamie Lidell verstärkt. Zusammen spielen sie flüssig, nicht unschlagbar, aber überaus fantasievoll.

Sechs Freunde sollt ihr sein: Auf Navy Brown Blues musizieren der Kanadier Mocky und seine Weggefährten. Seit Jahren helfen sie einander, mal spielt der eine hier, mal produziert der andere da. Meist kommt interessante Musik dabei heraus, stilistisch umherstreifend zwischen HipHop, Folk, Soul, Elektro und Disco-Punk.

Die Arrangements auf Navy Brown Blues sind vielschichtig, frisch, aufregend. HipHop-Klischees wie Händeklatschen und dumpfe Bässe werden gebrochen von freundlich-rohen Akustikgitarren und lustigen Elektroflimmereien. Dazu gesellt sich gelegentlich ein Fender Rhodes-Piano oder ein klapperndes Schlagzeug. Die Jacksons und Prince klingen durch, durchaus tanzbar, stellenweise kitschig. Die ausgezeichneten Gastsänger strahlen in den Refrains, Feist veredelt die erste Single Fighting Away The Tears zu einem klöternden Rührstück.

Wenn Mocky selbst das Mikrofon zur Hand nimmt, wird’s weniger schön. Seine Raps und Strophen sind kaugummiweich, zu eingängig, zu geölt. Er quatscht in jedem Lied – aber es ist ja auch seine Platte.

„Navy Brown Blues“ von Mocky ist als LP und CD erschienen bei Four Music.

Hören Sie hier Animal und In The Meantime

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Sway: „This Is My Demo“ (All City Music 2006)
Clueso: „Weit weg“ (Sony 2006)

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Die Beatles winken vom Erdbeerfeld

Erst im letzten Jahr hat die englische Band The Superimposers ihr Debütalbum vorgelegt. Ein schönes Stück Retro-Pop mit Anklängen an Beatles und Beach Boys. Jetzt kommt schon die Nachfolge-Platte „Missing“ raus – ohne Einverständnis der Musiker

Superimposers Missing

Es gibt Musik, die ist neu und weckt trotzdem ganz viele Erinnerungen. Da springt plötzlich die modrige Truhe im Dachstübchen auf, und drin liegen verstaubte Bilder längst vergangener Zeiten. Gefühle packen uns, die uns vor Jahren auf Trab gehalten haben, einen aufregenden Sommer lang. Die Musik der Superimposers bringt solch einen fast vergessenen Sommer zurück.

Zauberei? Für zwei englische Jungs, die auf der Retro-Welle reiten, kein Problem: Alte Sounds machen gute Stimmung. Es winken die Beatles vom Erdbeerfeld, und die Beach Boys blinzeln unterm Sonnenschirm hervor. Bei den Superimposers orgeln sich die psychedelischen sechziger und siebziger Jahre in die Gegenwart und werden hier von zurückhaltenden Downbeats empfangen. Kein neues Stilmittel, aber ein wirkungsvolles, wie schon die Traum-Popper von Air und Zero7 gezeigt haben.

Die Superimposers lieben Zitate. Sie bedienen sich ungeniert bei ihren musikalischen Vorbildern und verbinden das Gesammelte zu einer wohligen Flokati-Mischung – durchaus mit eigenem Charakter. Ihre ruhigen, eingängigen Songs sind mit digitalen Mitteln auf analog getrimmt: Schallplatten knistern, Vibraphone klöngeln, Streicher wabern, Schellenkränze rasseln. Dazu lässt die leicht blechern abgemischte Stimme von Sänger Dan Warden den näselnden John Lennon akustisch wieder auferstehen.

Superimposers

Das erste Album The Superimposers von 2005 überzeugte die Kritiker: Man lobte den zeitlosen und lebensbejahenden Sound der Band. In ihm spiegelten sich die Größen der Popgeschichte und ließen dennoch genügend Platz für melancholische, klassische Refrains.

Nun ist eine neue Platte der Briten erschienen – der Albumtitel Missing ist musikalisch wie personell symptomatisch: Kleinodien wie Would It Be Impossible oder Seeing Is Believing vom Vorgängeralbum fehlen gänzlich. Es reiht sich ein netter, belangloser Song an den nächsten. Elektronische Klänge finden hier und da Verwendung, machen die Stücke aber auch nicht interessanter. Wo sich im letzten Jahr die große Welle auftürmte und Sogwirkung entwickelte, plätschert jetzt ein flüchtiger Priel.

Dass die musikalische Qualität dieses Albums so wenig überzeugt, liegt wahrscheinlich daran, dass die Musiker selbst nicht hinter dieser Veröffentlichung stehen. Dan Warden und Miles Copeland waren ein Jahr lang untergetaucht. Ihre Plattenfirma Little League grämte sich grün, denn es mussten Verträge erfüllt werden. Kurzerhand wurde Missing ohne das Einverständnis der Superimposers veröffentlicht. Wohl in der (vergeblichen) Hoffnung, an den Erfolg vom vergangenen Jahr anknüpfen zu können.

Während die Superimposers für ihr Debütalbum die schönsten Perlen aus ihrer Song-Schatulle ausgewählt hatten, wurde jetzt anscheinend der matte Rest zusammengekramt. Herausgekommen ist dabei nicht mehr als ein harmloser Sommer-Soundtrack. Der taugt zwar immerhin dazu, verregnete Juni-Himmel aufzuhellen. Aber superimposing ist das nicht gerade.

„Missing“ und das selbst betitelte Debütalbum (2005) der Superimposers sind erschienen bei Little League Productions

Hören Sie hier „The Little Things“ von „Missing“ und im Vergleich dazu „Would It Be Impossible“ von „The Superimposers“

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Pet Shop Boys: „Fundamental“ (EMI/Capitol 2006)
Final Fantasy: „He Poos Clouds“ (Tomlab 2006)
Music A.M.: „Unwound From The Wood“ (Quartermass 2006)
Halma: „Back To Pascal“ (Sunday Service 2006)

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Michael Jackson ist nix dagegen

Für Matthew Herberts neues Album „Scale“ mussten 723 Objekte Töne lassen. Der britische House-Produzent hat aus Waldhorn und Anrufbeantworter, Taucheranzug und Düsenjet ein interessantes Pop-Album zusammengesetzt

Matthew_Herbert_Scale

Matthew Herbert geht es immer auch um die politische Botschaft. Er kritisiert die amerikanische Regierung, den Kapitalismus, die Globalisierung. Aber wer das nicht mag, muss das nicht hören. Denn seine jazz- und house-orientierte Musik tanzt auf doppeltem Boden. Nicht die gesungenen Texte verweisen auf die Übel dieser Welt, sondern die verwendeten Klänge.

Um den Irak-Konflikt zu thematisieren, baut Herbert aus Ölpumpenrattern und donnernden Tornado-Bombern einen Rhythmus zusammen. Will er für den Frieden werben, zückt er seinen Rekorder und nimmt den Unglücklichen auf, der sich vor dem Bankett einer Waffenhändler-Messe erbricht. Das gesammelte Tonmaterial wird anschließend digital bearbeitet und fließt in die Soundcollage des nächsten Stückes mit ein. Für sein neuestes Album Scale sind es 723 verschiedene Objekte, denen Herbert Geräusche entlockt hat. Einige von ihnen sind auf dem Album-Cover abgebildet: zum Beispiel ein Sarg, ein Kugelschreiber, eine Zapfsäule und eine Wäscheklammer.

Mit dieser Collagentechnik bewegt sich Herbert im Gefolge der konkreten Musik. Doch das Ausmaß seiner Kunst erschließt sich nur mit Gebrauchsanleitung. Weder Pumpen, noch Düsenflieger, noch der Magenkranke sind mit bloßem Ohr aus dem musikalischen Gesamteindruck herauszufiltern. Auf der Platte Scale verschwinden sie hinter einer facettenreichen Pop-Kulisse. Und das ist Absicht.

Denn Herbert hat das Songwriting wiederentdeckt, als ein Rezept gegen erdrückende Konzeptlast. Unter dieser war sein letztes Album Plat Du Jour von 2004 erstickt. Anschließend produzierte er das opulente Solo-Debüt von Róisín Murphy, der Sängerin von Moloko. Hat sie ihm die Ohren geöffnet? Plötzlich lässt sich Herbert wieder auf Wohlklingendes ein und befreit sich von seinem Kompositionsdogma.

Auf Scale widmet er sich mehr dem akustischen Vordergrund. Mit dem Ergebnis maximaler Eingängigkeit – für seine Verhältnisse. Dabei hat er aber nicht nur den Mut zum Gefälligen, Tanzbaren wiedergefunden, sondern auch Stile und Materialien vorangegangener Platten. Er verbindet Schöngeist-House (Bodily Functions) mit originellen Bigband- und Streicher-Arrangements (Goodbye Swingtime) sowie den für ihn typischen Blechdosen-Rhythmen. Dani Siciliano, seine Gefährtin, singt lässig dazu.

Unter der zitatreichen Siebziger-Funk-Hommage Moving Like A Train bebt der Tanzboden, und Frau Siciliano zeigt, was sie kann. Mit dieser Nummer hätte sie den jungen, weißgewandeten Michael Jackson im türkisfarbenen Laserlicht glatt alt aussehen lassen! Ähnlich eindrucksvoll auch Something Isn’t Right, ein vorwärts drängendes und in sich ruhendes Orchester-Pop-Opus – spannend besonders durch die zusätzlichen Stimmen von Dave Okumu und Neil Thomas. Auch die langsameren Stücke auf der Platte verquicken weichen Jazz und klappernde Experimental-Elektronik.

Matthew Herbert hat also mit Scale den Weg aus der eigenen Sackgasse gefunden: Fürs Erste gar nicht schlecht.

„Scale“ von Matthew Herbert ist erschienen bei Accidental/!K7

Ausschnitte seines neuen Albums präsentiert er am 3. Juni 2006 auf dem Moers-Festival

Hören Sie hier „Moving Like A Train“