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Pop hoch 10?

Auf ihrem neuen Album wirbeln Franz Ferdinand durch die Nacht. Doch unser Autor ist unschlüssig: Wiegen fünf grandiose Lieder mehr als sieben enervierende?

Das kann doch kein Zufall sein: Im Jahr 1914 wurde der Großherzog Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet – kurz darauf erklärte die österreichisch-ungarische Monarchie, unterstützt vom Deutschen Reich, Serbien den Krieg. Im selben Jahr begann der irische Schriftsteller James Joyce sein monumentales Werk Ulysses. Erste Auszüge erschienen im Jahr 1918 in den USA, da endete der durch Herrn Ferdinands Tod ausgelöste Weltkrieg.

Ulysses heißt nun auch die furiose neue Single der schottischen Band Franz Ferdinand. Und die überlassen seit jeher nichts dem Zufall. Ihre Texte stecken voller Anspielungen, die Ästhetik ihres Auftritts ist stimmig und ihre Plattenhüllen folgen hübschen Konzepten. Vom abstrakten Farbenspiel der ersten beiden Alben sind sie nun bei der Crime Scene Photography gelandet. Vor den düsteren Szenerien wirkt der orange-weiße Schriftzug auf dem Album ganz besonders gut: Tonight: Franz Ferdinand.

James Joyce lässt seinen Leopold Bloom einen Tag lang durch Dublin wandern, Franz Ferdinand besingen die Nacht. Es ist ein Leichtes, sich die zwölf Lieder zu einer emotionalen Odyssee zwischen Mitternacht und Kater zurechtzulegen: Der späte Aufbruch – Komm‘, Lexxo, lass uns etwas erleben –, die Eine meldet sich nicht, die Andere lässt sich küssen. Lexxo klagt: „You girls never know how you make a boy feel!“ Und sie: „No, you dirty boys’ll never care how the girl feels.“ Um halb drei in der Früh steht es Unentschieden.

Er bettelt, sie möge doch ihren Lover nach Hause schicken und schreibt sich ihren Namen auf die Hand. Als er später in einer Ecke des Clubs erwacht steht der spiegelverkehrt auf seiner Wange. Um kurz nach fünf sind sie schließlich doch daheim bei Lexxo gelandet, es wird wild. Dem postkoitalen Hadern folgt ein lichter Traum: Istanbul, Addis, die Scheibenwelt Narnia, „Uh, huh, yeah“. Der Kater schlägt brutal zu, sie ist gegangen und stolziert doch durch seinen Tagtraum. Katherine hieß sie, soviel ist Lexxo schließlich noch zu entlocken.

Ist Tonight: Franz Ferdinand also ein Konzeptalbum? Musikalisch sicher, schon die beiden früheren Alben der Band trugen ja ein jeweils maßgeschneidertes Klangkostüm. Ein bisschen lauter und verspielter als zuvor lassen sie hier nun mittels ihrer Instrumente dieses wohlbekannte Getier aus Funk und Dub, Rock und Disco erwachsen. Und der Sänger Alex Kapranos lässt sein Stimmchen hüpfen und kieksen, flüstert auch mal verschämt und füllt die Lücken mit viel „Lalalala, Uhoohoo, Iiihiiihiii“

Und Franz Ferdinand scheinen in Eile zu sein. Das Eröffnungsstück ihres ersten Albums, Jacqueline, nahm sich ganze 40 besinnliche Sekunden, bevor sich der seitdem nicht mehr verstummte Wuchtbass meldete. Ulysses hingegen fackelt nicht lange. Und auch das ist neu: Jedem der zwölf Stücke verpasst die Band eine andere Verzierung. Turn It On massiert ein bratzelnder Funk, No You Girls zerrt den Hörer in eine New Yorker Disko der Achtziger. Send Him Away ist ein Ausflug in den Hi-Life, Twilight Omens klingt nach dem Ska-Pop der Kaiser Chiefs.

Soweit, so grandios. Von da an nimmt die Nacht einen berechenbaren Fortgang: Um kurz nach fünf, auf Höhe von Bite Hard, schimmert ein Schema allzu deutlich durch: FF + x = Pop hoch 10. So grandios die erste Viertelstunde von Tonight: Franz Ferdinand klingt, so enervierend klingt der Rest. Mal ist die Gitarre drollig verzerrt, dann bluesig, später akustisch. Mal wuselt im Hintergrund der Gameboy, dann Abba und DJ Bobo. Und an Lucid Dreams ist einzig außergewöhnlich, dass es sich über acht uninspirierte Minuten schleppt. Am Ende, beim akustischen Katherine Kiss Me mag man gar nicht mehr richtig hinhören.

Was also tun? Ist Tonight: Franz Ferdinand nun zu empfehlen? Wiegen die fünf tollen Lieder die sieben weniger tollen auf? Der Autor kapituliert: Hören und entscheiden Sie selbst.

„Tonight“ von Franz Ferdinand ist als CD, Doppel-CD und Doppel-LP bei Domino Records/Indigo erschienen.

Mehr von Franz Ferdinand hören: Am 30. Januar dreht sich die Sendung Almost Famous auf ByteFM um das neue Album. Hier geht’s zum Programm »

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Voodoo gegen Pocken

Im Benin ist das Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou seit den Siebzigern bekannt. Nun ist seine Musik endlich auch in Europa zu haben. Unseren Autor hat sie zu einer kleinen Geschichte inspiriert

Cyril ächzt, als er sich am Friedhof Père Lachaise ins Taxi hievt. Nicht, weil der Rücken schmerzt. Die Sonne geht gerade auf – Cyril rekapituliert, wie viele Flaschen Wein er mit seinen Freunden Caroline und Orion in den letzten Stunden geleert hat. Immer wieder ist Orion in den Keller gegangen. Unzählige Etiketten, Namen, Regionen und Jahreszahlen hat er vorgelesen – Cyril hat sie allesamt vergessen. Ohnehin, wenn Orion im Raum ist, achtet er nur auf dessen linkes Auge. Den weißen Fleck in seiner Pupille, dessen Ursache Cyril nicht kennt. Er hat ihn nie gefragt. Weshalb eigentlich?

Es müssen wohl an die vierzehn Flaschen gewesen sein, denkt Cyril. Da wird ihm übel. Er schaut nach vorn. Sein Blick verliert sich im karierten Muster der Nackenstütze. Die Rauten beginnen, sich zu drehen, er schaut immer weiter hinein und versucht zum Mittelpunkt der Drehung zu blicken. Dort herrscht Ruhe, meint er.

James Brown erscheint vor seinem geistigen Auge. Eingehüllt in das Gewand eines Preisboxers tanzt er vor Wellblechhütten. Die Sonne brennt und wird von seinem Umhang reflektiert. Cyril ist, als stechen ihm Blitze in die Augen. Er steht nun neben einer großen Trommel, unentwegt tanzen Menschen um sie herum und schlagen darauf ein. „Unheimlich koordiniert“, stellt Cyril fest, der sich nicht einmal in seinem Wachtraum richtig auf den Beinen halten kann. Ein Gitarrist drischt mal die offenen Saiten seines Instruments, dann wieder spielt er filigrane Läufe. Die Musik pendelt zwischen Eleganz und Ausbruch. Bläser setzen Akzente, die Töne jubilieren, Rhythmen schleudern wie eine übervolle Waschmaschine.

Selbst der Boden scheint jetzt zu tanzen, Cyril verliert den Halt, greift um sich und wird von einem Fremden festgehalten. Die Sonne sticht nicht mehr und langsam erkennt er ein Gesicht. Es ist der Taxifahrer. „Monsieur – wir sind im Marais! Wo soll ich sie nun hinfahren?“, ruft er – „Pardon. Ich bin wohl eingeschlafen“, sagt Cyril – „Haben sie gut geträumt?“ – „Allerdings.“

Aus den Lautsprechern des Autoradios scheppert Musik. „Was hören wir da?“, fragt Cyril. „Musik aus Benin“, antwortet der Taxifahrer, „das ist das Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou, meiner Heimatstadt.“ Er kommt ins Plaudern. „In Benin wurde die Vodoun Religion geboren, Sie kennen das als Voodoo. Dieser Rhythmus hier schützt die Menschen vor Pocken. Andere hört man zum Gedenken der Toten oder um eine unserer 250 Götter zu ehren.“ Cyril staunt. „Passen Sie mal auf: Zwischen 1970 und 1983 hat das Orchestre mehr als 500 Titel veröffentlicht. Hören Sie das? Wie elegant hier Elemente aus der traditionellen Musik meiner Heimat mit amerikanischem Funk und Soul verschmelzen? Hier bei Ihnen, Monsieur, gibt es das jetzt endlich auch zu hören, ein ganzes Album mit den besten Sachen, ganz hübsch aufgemacht. Wo soll ich sie nun hinbringen, Monsieur?“

„Ach, fahren Sie mich doch bitte einmal zum Flughafen Charles de Gaulle und dann wieder zurück“, sagt Cyril, „und lassen sie bitte die Musik laufen!“

„The Vodoun Effect 1972-1975: Funk & Sato from Benin’s Obscure Labels Vol. 1“ vom Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou ist auf CD und Doppel-LP bei Analog Africa/Groove Attack erschienen. In ein paar Monaten soll dort ein zweites Album mit Musik der Band erscheinen.

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Brodeln im Matsch

The Shaky Hands vereinen auf „Lunglight“ das Beste aus drei Welten zu einem aufgeregten Vibrieren: Hier grüßen die Strokes, dort Vampire Weekend – und The Who stehen ja immer Pate, wenn irgendwo Gitarren erklingen

Wie lange ist es her, dass eine Rockband mit ihren Klängen die Welt erschütterte? Sieben Jahre? Im Sommer des Jahres 2001 drang der unerhörte Rock der Strokes aus einer Garage in New York City. Ihr Debüt Is This It beflügelte eine ganze Generation von Jungspunden, Bands zu gründen. Seitdem ist die Rockmusik nicht schlechter geworden, allein der schiere Überfluss des Hörbaren hat eine gewisse Abgeklärtheit gebracht. Selbst die von den Plattenfirmen vor jeder Neuveröffentlichung versprühte Euphorie erfasst heute niemanden mehr, das Vokabular des Sensationellen klingt längst schal. Eine frische Brise jagten vor exakt einem Jahr Vampire Weekend durch den Rock, pfiffig bedienten sie sich afrikanischer Rhythmik und charmanter Melodien – mal sehen, wie lange das im Gedächtnis bleibt. Noch ist es da.

Wohl auch bei vier jungen Männern aus Portland, Oregon: Beseelt von den lakonisch plaudernden Gitarren der Strokes und dem vertrackten Flirren von Vampire Weekend suhlen sich The Shaky Hands in einer von The Who angerührten Matschpfütze. Deren Mary Anne With The Shaky Hand stand nicht zuletzt bei der Namensgebung Pate – wie jede ordentliche Rockband wollen auch The Shaky Hands ein bisschen klingen wie die Urrocker aus England.

Lunglight ist das zweite Album der Band. Sie schütten das beste aus diesen drei Welten zu einem aufgeregten Vibrieren zusammen. Ein Brodeln ergießt sich in 13 Etappen aus den Lautsprechern, manchmal reißt es einen mit, manchmal überrollt es einen. Der Bass pumpt stetig auf der dicken Saite und fordert des Sängers unergründliches Schnarren heraus – das Scheppern des Schlagzeugs und die sägenden Gitarren sind diesem zu Dialog nur ein Hintergrundgeräusch, das ab und an erklingende Klavier ohnehin.

Und die Shaky Hands beherrschen das, wofür Oasis‘ letztes Album über den grünen Klee gelobt wurde: das Beharren auf kleinen, dröhnenden Motiven, gespielt in einer analogen Schleife. Oasis machten daraus ein ganzes Album und ließen sich für die Wiederentdeckung des Krautrocks feiern, auf Lunglight atmen allenfalls eine handvoll Lieder diesen Geist.

Hört man sich durch die vierzig Minuten des Albums, fallen einem noch ganz andere Namen ein … Genug der Referenzen? Einverstanden. Legen wir es der Band als künstlerische Selbständigkeit aus, die in unüberschaubaren Mengen verfügbaren Zeichen und Töne, Klänge und Bilder auf kluge Art angerichtet zu haben. Klingt heute nicht beinahe jede Rockband wie eine Mischung aus sieben anderen?

Erstaunlich eigentlich, dass sich die Karriere der Shaky Hands bislang weitaus holpriger anließ, als die aller genannten Vorbilder. Im Sommer erschien Lunglight in den USA, Anfang des Winters in Kontinentaleuropa, und erst in ein paar Wochen kommt es in England heraus. Einen großen Hit hatten sie noch nicht. We Are Young soll einer werden. Musikalisch ist das nachvollziehbar, lyrisch nicht unbedingt. Schließlich ist dieses Lied das beste Beispiel dafür, dass manche Texte der Shaky Hands kaum weniger blöd sind als die oft sinnfreien Ergüsse der Who.

Bei allem Diebstahl, aller Kopie, wissen die Shaky Hands offenbar doch sehr genau, was ihnen gehört. Eine Zeit lang schlugen sie sich mit einer Band aus Neuseeland herum, die den gleichen Namen trug. Letztere sollten in den USA unter anderem Titel auftreten, denn sie, die Shaky Hands aus Portland, seien schließlich zuerst da gewesen. Die Neuseeländer gaben schließlich auf und nennen sich nun Cut Off Your Hands.

„Lunglight“ von The Shaky Hands ist als CD und LP bei Cooperative/Universal erschienen.

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Frag Mama um Rat

Anthony Hamilton liefert ein Gegenprogramm zu Hip-Hop-Hedonismus und Stretchlimo-Gangstern. An seiner Schulter kann der Zuhörer ausatmen.

Mit dem frisch gewählten US-Präsidenten Barack Obama scheint auch im afroamerikanischen Pop ein neues Männlichkeitsideal Auftrieb zu erhalten. Die alten muskelbepackten Gangster-Poseure wirken plötzlich wie Fossile, während Versöhnungsprediger den Typ der Stunde verkörpern.

Anthony Hamilton kann davon nur profitieren. Wie lautet noch mal das Attribut, das dem Soulsänger aus North Carolina am häufigsten angehängt wird? Erwachsen! Mag der Mann auch von Rapstars regelmäßig für ein paar steinerweichende Refrains ins Studio gebeten werden – in seinen eigenen Songs verkörpert er doch eher die Antithese zum jugendlichen Hip-Hop-Hedonismus.

»Sollte es nicht fürs Kino reichen / können wir auch einfach daheimbleiben…«, gospelt er im erdigen Bariton auf seinem neuen Album The Point Of It All. Das Video zu seiner ersten Single-Auskopplung Cool liefert ein entsprechendes Szenario: Der Sänger fährt eine Schrottschüssel, muss unter einem lecken Hausdach leben, kann seine Rechnungen nicht begleichen und zelebriert trotzdem die Liebe zu seinem Mädchen. Ein Klischee – das aber gerade durch den Kontrast zur Stretchlimousinen-Ikonographie des zeitgenössischen Rhythm ’n’ Blues seinen Witz gewinnt. An anderer Stelle fragt Hamilton seine Mutter um Beziehungsrat, oder er verkündet in Prayin’ For You, dass er für seine Geliebte »beten würde«.

Man kennt solche Zeilen noch am ehesten aus dem Soul der sechziger und siebziger Jahre, von den mitfühlenden Hymnen eines Curtis Mayfield, Bobby Womack oder Bill Withers. Anthony Hamilton modernisiert deren Botschaft: Seine Songs verbinden akustische Gitarren mit programmierten Beats und bleiben dabei dennoch stets der bluesgetränkten Wärme des Southern Soul verpflichtet.

Vor allem aber: Hamilton erzählt glaubwürdige Geschichten. Selbst wenn der Sänger in The News über Funkgitarren den Nachruf auf einen ermordeten Crackschieber falsettiert, bleibt es persönlich: floh doch der kleine Drogendealer Hamilton einst aus Charlotte, North Carolina, nach New York, um einem ähnlichen Schicksal zu entkommen. Dort schlief er in U-Bahn-Waggons, hielt sich als Friseur über Wasser und heuerte als Backgroundsänger für Größen wie Tupac Shakur oder D’Angelo an.

Auf seine Chance als Solist musste Hamilton jahrelang warten. Die Plattenfirmen ließen zwei fertige Alben einfach liegen, befanden den Mann als »zu unkommerziell« für ein Massenpublikum. Bis er 2003 mit dem trotzigen Debüt Comin’ From Where I’m From einen veritablen Hit landete.

Seitdem lieh Hamilton dem Soundtrack von American Gangster seine Stimme, sang als Duettpartner von Al Green und unterstreicht auch mit seinem dritten Album, dass Soul weder Eskapismus noch Macho-Werte zu befördern braucht: Ihn habe am Soul immer die Verletztheit und Verletzlichkeit seiner Protagonisten angezogen. »Hinter den rüden Anmachphrasen verstecken sich doch gewöhnlich allzu unsichere Menschen, die versuchen, ihr Herz zu schützen. Ich dagegen biete meinen Zuhörern meine Schulter an: damit sie mal wieder ausatmen können…«

„The Point Of It All“ von Anthony Hamilton ist erschienen bei Zomba/Sony BMG.

Dieser Text ist entnommen aus DIE ZEIT Nr. 3 vom 8. Januar 2009.

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