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Kakophonie? Nie!

Garda aus Dresden loben das Durchgedrehte, die Wärme, und vor allem die Melodie. Einen besseren Titel als „Die, Technique, Die“ hätten sie ihrem Album nicht geben können

Jeden Sonntag gibt’s im Folkmusikhuset auf der ruhigen Insel Skeppsholmen mitten in Stockholm einen Liederabend. Mal dreißig, mal einhundert Menschen spielen volkstümliche schwedische Melodien auf akustischen Instrumenten. Zu Kaffee und Kuchen, Würstchen und Wein wandelt man durch die Räume. Wo es gut klingt, bleibt man und lässt das eigene Instrument erschallen – wenn es gerade passt. Bevor das Pusten, Streichen, Orgeln und Klöppeln zur Kakophonie verkommt, nehmen sich die Musizierenden zurück und stampfen den Takt oder holen sich ein neues Getränk. Trotz der Vielzahl der Klänge bleiben die Melodien klar. Oft tönt es vier, fünf Stunden beinahe ohne Unterbrechung durch die guten Stuben. Viele Gäste lauschen auch einfach nur den warmen Klängen. Das ist echter Weird Folk.

1000 Kilometer südlich von Stockholm musiziert das Dresdener Kollektiv Garda. Und es klingt, als hätten die neun Musiker die Schule des Volksmusikhauses in Skeppsholmen durchlaufen. Ihr Album Die, Technique, Die schwingt in der Stimmung der sonntäglichen Zusammenkunft. Akustische Instrumente raunen ungezwungen im Chor und versprühen den Charme des Improvisierten. In elf Liedern loben Garda das Durchgedrehte, die Wärme, und vor allem die Melodie. Einen besseren Titel als Die, Technique, Die hätten sie ihrem Album nicht geben können.

Entstanden ist die Band um den Sänger und Gitarristen Kai Lehmann und den Schlagzeuger Ronny Wunderwald, die beiden sind als einzige auf Die, Technique, Die fast immer zu hören. Um sie herum scharen sich sieben Freunde: Akkordeon und Klarinette, Cello und Horn, Klavier und Kontrabass erklingen, aber immer nur dann, wenn es nötig ist. Die Gruppe hatte vor, im Wohnzimmer ein bisschen zu experimentieren – und plötzlich war da eine Magie, die sie zu einem Kollektiv schweißte. Die Magie ist auch auf dem Album gegenwärtig.

Neun Leute könnten dick auftragen, Garda sparen sich das. Verschwenderisch mutet die Kargheit mancher Lieder an, etwa beim Titelstück oder bei Mistakes And Failures: Zwei Gitarren und das Klöppeln auf dem Korpus begleiten die melancholische Stimme von Kai Lehmann, dann quietschen die Saiten, es ertönt das Klavier. Dann die Klarinette. Jedes Instrument spielt trägt nur eine Kleinigkeit bei, schließlich ist der Klang aller Reduktion zum Trotz doch warm und voll.

Und so wie die Menschen manchmal das Folkmusikhuset mit dem Gefühl verlassen, etwas Besonderes geschaffen oder gehört zu haben, so lebt auch Die, Technique, Die viel länger, als seine Lieder zu hören sind.

„Die, Technique, Die!“ von Garda ist auf CD und LP bei Schinderwies/KF Records/Broken Silence erschienen.

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Kannste mir was pumpen?

Knappe Kassen und Lieder darüber gab’s schon immer. Aus aktuellem Anlass ist nun eine Kompilation zum Thema erschienen. Franz-Josef Strauß und Helmut Schmidt singen mit

Weihnachten ist die Zeit der Musikmischungen. Viele stecken sich spätjährlich ihre Lieblingsmusik zu, auf Kassette, CD oder USB-Stick. Und warum nicht mal ein aktuelles Thema aufgreifen? Was hatten wir denn in diesem Jahr? Fußball-EM und Olympia etwa, das klang aber beides nicht so gut. Und die Wahl Barack Obamas? Vollkommen durchgenudelt. Wie aber wäre es mit ein paar Liedern zur Finanzkrise? Das kleine Label Bear Family aus Hambergen in Schleswig-Holstein stöberte in verstaubten Archiven und veröffentlicht nun die CD zum Thema: Hilfe! Mein Geld ist weg! – Songs zur aktuellen Lage der knappen Kassen. Denn beides hat es schon immer gegeben, knappe Kassen und Lieder darüber.

Es scheppert aus dem Schellackarchiv: Die Kabarettisten Wilhelm Bendow und Paul Morgan plädieren auf Ratenzahlung: „Die sollen raten, wann wir bezahlen.“ „Ob wir sparen oder nicht, ist doch egal“, singt Fritz Hönig, „denn wir werden sowieso nicht mehr reich.“ Die CD knüpft am Börsenkrach des Jahres 1929 an, die meisten Stücke stammen aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Und die jüngste Aufnahme ist auch schon zehn Jahre alt.

Die Qualität der Lieder ist den Archivaren beim Kompilieren nicht so wichtig, schließlich geht es nur ums Geld! Gunter Gabriel lässt geschmackliche Grenzen hinter sich und tönt: Boss, ich brauch mehr Geld. Nicht weniger unmusikalisch geht es zu, wenn Dolly S. & The Dollies den Rap Mir geht’s gut radebrechen. Vieles Stücke liegen nahe: Das Bruttosozialprodukt von Geier Sturzflug ist da ebenso unvermeidlich, wie der Ba-Ba-Ba-Banküberfall der Ersten Allgemeinen Verunsicherung. Und Helga Hahnemann trat mit Wo ist mein Jeld sicher schon in Achims Hitparade auf.

Doch kühn zu kompilieren lohnt auch. Vor allem die alten Schlager sind charmant und wortgewandt: „Früher kurrrrrbelte man seinen eignen Wagen an, und jetzt fährt man gratis vorrrne auf der Straßenbahn“, jault Willy Rosen, Nierentischhumor könnte man das nennen. Wen wundert’s, schließlich stammt die Zusammenstellung von Volker Kühn, einem Kenner und Protagonisten der Kleinkunstkultur. So sind neben den Gassenhauern eben auch die Wühlmäuse mit von der Partie und das Berliner Reichskabarett. Deren Stück Mein Geld ist weg! ist einer der unterhaltsamsten Beiträge, es schlägt die Brücke zwischen rasantem Kabarett und ansprechender Musik: „Was ist eine weinende Mutter, was ein sterbendes Reh, gegen den herzzerfetzenden Anblick eines Aktionärs, dessen Papiere neun Punkte gefallen sind.“

Für die Zusammenstellungen Politparade und Don Kohleone montierte Bear Family einst Reden von Politikern auf Easy-Listening-Musik. Franz Josef Strauß und zweimal Helmut Schmidt sind nun auch auf Hilfe! Mein Geld ist weg! zu hören. Helmut Schmidt redet vom Vertrauen in die Währung, vom Lernen und Leisten, dazu dudelt eine Kapelle. Das ist für sich betrachtet nur mäßig witzig, im Zusammenspiel mit den anderen Stücken aber entsteht ein kurioser Dialog. Die Antwort auf Schmidt gibt Heinz Erhardt: „Mensch, kannste mir was pumpen, dann lade ich dich ein.“

„Hilfe! Mein Geld ist weg! — Songs zur aktuellen Lage der knappen Kassen“ ist als CD bei Bear Family Records erschienen.

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New York am Roten Meer

Gang Gang Dance taumeln zwischen Krach und Ruhe und blicken tief in die Satteltaschen der Beduinen: „Saint Dymphna“ ist eine der klügsten Platten dieses Jahres

Die irische Königstochter Dymphna hatte es nicht leicht. Nach dem Tod der Mutter musste sie im 7. Jahrhundert vor den Annäherungsversuchen ihres wahnsinnigen Vaters ins Exil flüchten. Der spürte die Tochter in einem belgischen Kloster auf und enthauptete sie. Heute gilt die Heilige Dymphna als Schutzpatronin der Verrückten und Ausgestoßenen, von Wahnsinn und Chaos. Die New Yorker Band Gang Gang Dance hat ihr viertes Albums nach der Heiligen benannt. Das ergibt Sinn, denn Saint Dymphna ist eine Platte voller chaotischer Abgründe und tiefer Spiritualität. Und damit eine der klügsten Platten dieses Jahres.

Wie das Geräusch der Rotorblätter eines Hubschraubers nähert sich die Musik. Ist das nun Apocalypse Now oder Tabula Rasa? Das Quartett aus Brooklyn lässt keine Zeit für Gedankenspiele. Bereits in ihrem ersten Stück Bebey entlädt sich ein Gewitter aus fernöstlichen Melodien, pulsierendem Freejazz und elektronischen Geräuschfetzen. Das verzerrte Keifen der Sängerin Liz Bougatsos dringt durch den akustischen Taifun: „Prisms have kissed my lids / Sea salt has rubbed on my hips.“ Die Geisterbeschwörung hat begonnen.

Saint Dymphna ist eine reißende Flussfahrt durch ein Land aus einem wilden Traum. Immer wieder tauchen am Ufer seltsame Geschöpfe auf: Beduinen mit Synthesizern auf dem Rücken, verhüllte Reiter auf Pferden aus Lärm, tanzende Derwische und Punk-Schamanen. Gang Gang Dance spielen Musik der tausend Masken und Verkleidungen. Es ist Weltmusik – nachdem alle Systeme endlich zusammengebrochen sind. Auf Saint Dymphna ist das Fremde verschwunden. Plötzlich mündet der Hudson River ins Rote Meer.

Wie in einem Sog fließen die elf Lieder ineinander, bildet das Album einen unerschöpflichen Strom musikalischer Ideen. Gang Gang Dance sind auf ganz großer Fahrt. Die Musiker haben ein Sammelsurium aus tausend Trommeln, Beatmaschinen, kaputten Spielautomaten und verbogenen Gitarren an Bord geschafft. Hin und wieder gehen sie an Land, lassen sich von Klängen und Eindrücken umspielen: TripHop, Jazz, afrikanische und arabische Musik, Techno, Post-Punk – alles fügt sich magisch zusammen. Saint Dymphna ist ein musikalischer Sandsturm. Wohlfeile Liedstrukturen und Melodien werden umschifft oder umgedeutet. Die Faszination der Musik ergibt sich aus der Dekonstruktion. Schönheit und Zerstörungslust stehen sich gegenüber.

Rauschhaft wirkt die Platte durch die behutsame Balance zwischen Schallwellen und ruhigen Passagen. Mal wird es still, dann brechen hitzige Polyrhythmen und abstrakter Krach in die Ruhe. Ferne Schreie, Bläsersätze, orientalische Instrumente, klapprige Schlagzeugkaskaden – das Quartett verarbeitet unzählige Einflüsse und Affekte. Saint Dymphna klingt, als bewege man sich wie in Trance durch New York, Dakar und Teheran. Esoterisch wird es nie.

Am Ende von Saint Dymphna beruhigt sich der Sturm: Das wunderschöne Instrumental-Stück Dust legt sich wie glitzernder Staub auf die Ohren. Dazu weht eine sanfte Brise. Gang Gang Dance verlassen das Schiff und fliegen auf einem magischen Teppich davon.

„Saint Dymphna“ von Gang Gang Dance ist auf CD und LP bei Warp/Rough Trade erschienen.

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Elvis war nicht der Erste

Der Rock’n’Roll ist ein Bastard, der viele Eltern hat. Die Kompilation „Roll Your Moneymaker“ stellt sie vor, die frühen Stars der klanggewordenen Brunft

Ach, die Legende. Die erste Rock’n’Roll-Single, heißt es, sei Rocket 88 von Ike Turner gewesen, im Jahr 1951 erschienen (aus Vertragsgründen unter anderem Namen). Dabei hatten bereits während des Zweiten Weltkriegs kleine Labels ihre Chance gewittert: Der Markt stagnierte, die schon älteren weißen Geschäftsleute an den Rudern der Plattenfirmen steuerten einen sicheren Kurs mitten im seichten Strom. Unabhängige Produzenten gründelten derweil in sumpfigen Untiefen und stürmischen Strudelzonen, mischten elektrische Gitarren und Saxofone in traditionelle Ensembles, verstärkten die Schlagzeuge oder ließen Klänge durch Abflussrohre laufen, um Echoeffekte zu erzeugen. Sun Records, Chess, King, Specialty und Okeh hießen die Labels. Ihr Publikum war, mehrheitlich jedenfalls, schwarz.

Der frühe Rock’n’Roll – die Petticoats und bonbonlackierte Straßenkreuzer der Sechziger lassen es immer wieder vergessen – wurzelte tief in der afroamerikanischen Kultur, in der mündlichen Überlieferung einer just aus der Sklaverei befreiten Volksgruppe – mit anspielungsreichen, zotigen Texten, körperbetonten Tänzen und handfesten Rhythmen. Den Weißen sei diese Musik zu bedrohlich gewesen, zu sexuell, führt Jonathan Fischer im Büchlein zu Roll Your Moneymaker aus. Fischer ist Boxer, DJ, Maler und Musikjournalist, er kuratiert die Black-Music-Reihe beim Label Trikont. Auf Roll Your Moneymaker stellt er nun frühen schwarzen Rock’n’Roll der Jahre 1948 bis 1958 vor.

Franz Dobler schrieb einmal über Fischer, „immer kommen die Journalisten, die seine gut recherchierten langen Booklet-Texte plündern und seinen Namen nur erwähnen, wenn sie extrem gute Laune haben.“ Der Begleittext ist auch diesmal durchaus fundiert. Es sei kein Wunder, schreibt Fischer, dass ausgerechnet die vollschlanken Herren Fats Domino und Big Joe Turner oder die verschmusten Platters als erste schwarze Musiker beim weißen Publikum ankamen – Typen, die so gar keine sexuelle Bedrohung ausstrahlten. Sie ebneten „weißen Plattfüßen“ wie Bill Haley den Weg. Für das bleichgesichtige Publikum hüllten Produzenten die rumpeligen Rhythmen in Zuckerwatte, in süßliche Doo-Wop-Vokalisen und romantesken Streicherguss. Erst Elvis „das Becken“ Presley bewegte die Hüften so, wie es zu einer Musik passt, die ihren Namen von einem umgangssprachlichen Wort für lustvollen Beischlaf bekam.

In den Liedern, die Fischer zusammengestellt hat, spielen brünstiges Röhren und spelunkige Gewaltfantasien noch die Hauptrollen, stehlen R’n’B-Shouter und Country-Hinterwäldler sich gegenseitig die Melodien und mischen Sonntagmorgengospel hinein. Der Rock’n’Roll war ein Bastard, der viele Eltern hatte, schwarze und weiße, Delta Blues und Zydeco, Schlager und Country. Zu hören ist das etwa bei Ike Turner: Seine Rhythm Kings experimentierten schon seit den vierziger Jahren mit zentnerschweren Bassläufen zu düsteren Texten und rohen Rhythmen. Oder bei Howlin‘ Wolf, der sich von Country-Jodlern ebenso inspirieren ließ wie vom Blueskönig mit der Mundharmonika, Sonny Boy Williamson. Oder bei Rufus Thomas, der seit den dreißiger Jahren in Minstrel-Shows auftrat und noch bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2001 mit Tiger-Höschen, Plateaustiefeln und Umhang tourte. Mit Tiger Man (King Of The Jungle) verdreht er den Rassisten das böse Wort von der Dschungelmusik im Maul.

Fischer erzählt dazu im Begleitheft die spannenden Geschichten der Musiker. Etwa die des schwungvoll bluesenden Gitarristen Magic Sam, der so schnell lebte, dass er mit 32 Jahren am Herzinfarkt starb. Kenntnisreich erläutert Fischer, wie Chuck Berry die Grenze zwischen Schwarz und Weiß durchbrach: mit Texten aus der Welt der Halbwüchsigen, der realen wie der lüstern fantasierten. Er stellt Johnny „Guitar“ Watson vor, dessen Space Guitar Jimi Hendrix inspirierte, und Otis Rush, von dem Eric Clapton und Peter Green, Jeff Beck und Carlos Santana sich das Handwerk abschauten. Big Maybelle kommt zu Wort, die nicht nur die Heroinsucht mit Billie Holiday gemein hatte, und Janis Joplins Vorbild Etta James.

Die 24 Aufnahmen – je zwischen 123 und 169 vinylsingletaugliche Sekunden lang – machen die These vom Bastard Rock’n’Roll nachvollziehbar und klingen nicht immer so, wie man es landläufig vom Genre erwartet. Die Zusammenstellung erscheint getrieben vom Impetus des Jägers, Sammlers und Liebhabers – „dann könnte man noch…, und Slim Harpo fehlt… Und Bo Diddley muss auch drauf…“ – der mit seinen schwarzen Lederklamotten und den pelzverzierten Gitarren, der testosterontrunkenen Lautstärke, den Verzerrungsorgien und der knalligen Lichtshow weit hinauswies über den klassischen Rock’n’Roll bis in die Zeiten von Led Zeppelin oder gar den White Stripes. Ja, auch das erwähnt Jonathan Fischer in seinem Text, dessen Quanti- wie Qualität eine ebenso wohllaunige Würdigung verdient wie das auf Roll Your Moneymaker zu Hörende.

Die Kompilation „Roll Your Moneymaker – Early Black Rock’n’Roll 1948-1958“ ist auf CD und Doppel-LP bei Trikont/Indigo erschienen.

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Kitty, Daisy & Lewis: „s/t“ (Sunday Best/Rough Trade 2008)

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Sagt denn keiner Nein?

Kanye West ist der Erfolg zu Kopf gestiegen: Auf seinem neuen Album „808’s & Heartbreak“ beklagt er sein Schicksal und wirft mit verbalem Exkrement um sich

Unbeirrbar hat sich Kanye West in die Riege der großen Popstars gearbeitet. Vom Hintergrund in den Vordergrund. Als HipHop-Produzent machte er sich einen Namen, schneiderte Jay Z, Talib Kweli und vielen anderen Rappern das klangliche Gewand. Schließlich wollte er ans Mikrofon, wegen seiner begrenzten Fähigkeiten wollte ihm aber zuerst niemand einen Plattenvertrag geben. Da wurde er noch unterschätzt. Seine Schwächen verwandelte er in Stärke. Im HipHop ist es üblich, vor allem darüber zu rappen, wie toll man rappen kann. West machte es umgekehrt, reimte über seine Unfähigkeit. Das kam gut an und hatte Charme. Sein Debütalbum College Dropout ging im Jahr 2004 förmlich durch die Decke.

Wer unterschätzt wird, hat ein Problem. Wer berühmt ist, ein viel größeres. Mit dem Ruhm kommen die Schulterklopfer, die Ja-Sager. Es hätte jemand „Nein“ rufen sollen, als Kanye, der Unbeirrbare, sich auf den Irrpfad begab. Seine Entschlossenheit ist nun Hybris, sein Charme Weinerlichkeit. Bei Preisverleihungen zetert er, wenn er leer ausgeht, und ständig redet er von seinem Platz in den Geschichtsbüchern. Als „Stimme seiner Generation“ würde er erinnert werden, sagte er jüngst in einem Interview. Nicht wolle, sondern würde.

Ein schweres Jahr liegt hinter Kanye West. Erst starb seine Mutter, dann verließ ihn seine Freundin. Und man hat schon vieles gehört von verlassenen Männern: Dass sie verbittern, mit Suizid drohen, die Wohnung verwüsten und Lügen über die Ex verbreiten. Das alles ist schlimm, aber muss er gleich sein ganzes Album 808’s & Heartbreak als diffusen Rachefeldzug anlegen? Ist da wirklich niemand, der „Nein“ sagt?

Zweiundfünfzig Minuten und neun Sekunden beweint er sein Schicksal, bewirft die Verflossene mit verbalem Exkrement. Selbstsucht, angereichert – besser angeärmert? – mit banalen Gedanken über das Leben. Dass Geld allein es nicht bringt, dass man ja ein ganz normaler Typ sein will, und schau mal, was ich mir für tolle Klamotten, Sportwagen und Häuser gekauft habe! Der Narziss singt die Pinocchio Story: „I turn on the TV and see me and see nothing.“ Der Psychiater sagt: „Rette sich, wer kann! Der Mann kann sein eigenes Spiegelbild nicht ertragen.“ Dass das künstlerische Genie seine Erfindungen aus den dunklen Tiefen von Melancholie und Wahnsinn schöpft, ist eine gängige wie falsche Annahme. Kanye West ist ihr erlegen. Die jüngste Kreativitätsforschung hat sie zum Glück widerlegt.

Auf diesem Album gerät die Musik zum Nebenschauplatz. Wirklich übel ist sie nicht. Die Single Love Lockdown nimmt eine überraschende Wendung, als afrikanische Trommeln das kalte, digitale Klangbild überlagern. Heartless liegt ein beschwingter Rhythmus zugrunde, die Melodie hüpft gleich mit. Doch da ist auch viel Internetapotheke, Musik nach Hitrezept: Hier Beatles-Streicher im Stück RoboCop, dort kitschige Midi-Glocken, die das Weihnachtsgeschäft einläuten. Da Kanye West nicht mehr so viel rappen will, aber auch nicht singen kann, bedient er sich des Auto-Tuners – auch bekannt als Cher-Effekt. Wenn man geschickt auf diesen Studioeffekt hinkomponiert überschlägt sich die Stimme und klingt android. Wohldosiert ist das ein lustiger Effekt, aber über die Dauer einer Stunde nicht zu ertragen. Oder wie der amerikanische Komiker Stephen Colbert sagt: „Wie kann Kanye West die Stimme einer Generation sein, wenn er nicht einmal die Stimme seines eigenen Albums ist?“

„808’s & Heartbreak“ von Kanye West ist auf CD bei Def Jam/Universal erschienen.

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Norman Palm: „Songs“ (Ratio Records 2008)
David Grubbs: „An Optimist Notes The Dusk“ (Drag City/Rough Trade 2008)
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The Cure: „4:13 Dream“ (Geffen/Universal)
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Geld macht glücklich

Die Skeletons aus New York beatmen den Jazzrock der späten Achtziger. Ihr Album „Money“ ist ein splitternder Klangbrocken und steckt voller Überraschungen

Autohupen, eine Wagenkolonne tönt wie nach einem gewonnenen Fußballspiel. Ein schräger Klavierakkord, wieder und wieder. Darüber nuschelt der Sänger Matt Mehlan vier wehmütige Zeilen. Klangcollagen und zerbrechliche Balladen? Von wegen, hier bricht ein Sturm los: Die Gitarre serviert splitternde Klangbrocken, der Bass schlägt Haken, der Schlagzeuger spielt Jazz und HipHop auf einmal. Dazu erklingen sehr schräge Bläser und ein bisschen schräger Gesang. Das ist funky, man möchte mitgröhlen. Die Skeletons sind wohl mit der Musik der Tar Babies und den jazzig rockenden Tönen des Labels SST Ende der Achtziger aufgewachsen, so jedenfalls klingt ihr Album Money. Sie beleben diese längst verschütteten Klänge – und reichern sie mit eigenen Ideen an.

Da sind nicht nur die Klangcollagen, die immer mal wieder mitlaufen. Man weiß auch nie, was einen an der nächsten Ecke erwartet. Auf atonal drängelnde Passagen folgen zuckersüß-harmonische Gesänge. Leichtfüßige afrikanische Rhythmen teilen sich den engen Raum mit elektronisch verfremdetem Geschrei. Es geht hin und her, etwa so: Dem entspannt groovenden Stepper a.k.a. Work folgt ein kurzer Singsang, dem eine spanische Flughafendurchsage – und plötzlich macht es Boom!: Die Gitarren krachen, der Schlagzeuger peitscht auf seine Felle ein, aus der Kakophonie schält sich eine Melodie, der Bass treibt den Sänger vor sich her. Zwei Gitarristen schrammeln in verschiedenen Tonhöhen, verhaken sich ineinander und werden immer schneller. Nach sieben Minuten entfesselt der Saxofonist ein irrsinniges Solo. Irgendwann fallen die anderen Bläser mit ein, und man glaubt, das Autohupen vom Anfang der Platte wieder zu hören.

Trotz all der Intensität und dem immer wieder hereinbrechenden Chaos stimmt Money den Hörer glücklich. Zum Ausklang singt die Band zu munteren Straßenbläsern: „A memory is still a memory if you saw it on TV / Or in a dream or heard it on the street / You can unknowlingly believe me.“ Die Skeletons feiern am Abgrund.

„Money“ von den Skeletons ist auf CD und LP bei Tomlab/Indigo erschienen.

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16 Zeilen für 800 Dollar

Jean Grae führt auf ihrem dritten Album „Jeanius“ vor, wie kraftvoll HipHop heute noch klingen kann. Dabei hatte sie erst vor Kurzem frustriert das Mikrofon an den Nagel gehängt

Vor ein paar Wochen bot jemand auf der populären amerikanischen Internetseite Craigslist seine Dienste als Texter an: „Offensichtlich wurde schon wieder ein von mir nicht autorisiertes Album veröffentlicht. Wenn jeder Geld mit mir verdient, warum soll ich mich nicht direkt an die Leute wenden, die meine Musik lieben? Ihr habt Beats? Ich rappe 16 Zeilen für 800 Dollar!“ Steckte da jemand in Schwierigkeiten? Ja, das kann man wohl sagen. Die hier werbende Rapperin Jean Grae stolpert nämlich von einer Schwierigkeit in die nächste.

Geboren wurde sie als Tsidi Ibrahim 1976 in Kapstadt, ihre Eltern sind Jazzmusiker. Die Familie floh vor dem südafrikanischen Regime nach New York, dort kam Jean Grae mit der HipHop-Szene in Kontakt. Nach kurzer Mitgliedschaft in einer Band veröffentlichte sie im Jahr 2002 ihr viel versprechendes Soloalbum Attack of The Attacking Things.

Sechs Jahre sind seitdem vergangen. Sechs Jahre, in denen ihre Eloquenz, ihr Humor, ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Kompromisslosigkeit unermüdlich gelobt wurden; in denen sie auf zahlreichen Alben anderer Rapper Gastauftritte hatte; in denen sie von ihren Anhängern und selbst von manchem Kritiker als bester MC schlechthin bezeichnet wurde. Allein, sie blieb den meisten eine Unbekannte – wohl auch, weil sie in der ganzen Zeit nur ein einziges reguläres Album veröffentlichte, This Week im Jahr 2004.

An Kreativität mangelte es ihr nicht, viel mehr an Kontrolle über ihr Werk. An einem Tag etwa wurden zwei ihrer Alben gleichzeitig unautorisiert im Internet verbreitet. Zwei weitere Alben brachte ihre Plattenfirma offiziell auf den Markt, allerdings ohne Jean Graes Zustimmung. Zuvor hatte sie ihre Probleme in ihren Stücken reflektiert und Zeilen wie diese getextet: „Not a thug, not a drugseller, not a gunshooter / Not a stripper, sex symbol or anything you’re used to / Marketing nightmare, I don’t fit into categories.“ Doch das ging ihr zu weit, im April 2008 kündigte sie ihren Rückzug aus dem Musikgeschäft an. Ihre Karriere schien beendet zu sein, ehe sie richtig begonnen hatte.

In den vergangenen Monaten hat sie offenbar neue Hoffnung geschöpft. Vor kurzem ist ihr Album Jeanius offiziell in den USA erschienen – es war eines der zuvor illegal verbreiteten. Die Importversion haben nun auch die einschlägigen Händler in Deutschland ins Programm genommen. Jean Grae führt auf Jeanius vor, welche Schlagkraft der HipHop heute noch entwickeln kann. Im autobiografischen My Story erzählt sie bildreich von einer Fehlgeburt, ihren Herzproblemen, einem Selbstmordversuch. Auch von einer Abtreibung berichtet sie. Im Interview sagt sie dazu: „Ich wollte, dass man als Hörer dabei ist. Im Raum. Schon bei der Anästhesie.“ – Oh ja, man ist dabei. In anderen Stücken beklagt sie die ermüdenden Sexismen des Genres, den schnöden Materialismus, die wie in Zement gegossenen Rollenklischees – und ist stets eine Geschichtenerzählerin, keine Predigerin oder Einpeitscherin. Die Klänge und Rhythmen des Albums ordnen sich ihrem individualistischen Konzept unter. Jeanius ist Kopfhörermusik mit humanistischer Prosa über die Widersinnigkeiten des Lebens.

Ist Jean Grae nun also ihre Probleme los? Wer das Video zur Single Love Thirst gesehen hat, kennt die Antwort. In Strapsen räkelt sie sich plump auf der Rückbank eines Taxis. Umgehend distanzierte sich Jean Grae davon; die Plattenfirma habe ihr dieses sexistische Video untergeschoben. Und neben Jeanius steht mittlerweile The Evil Jeanius in den Plattenläden, wiederum nicht von Jean Grae autorisiert. Ihre Reaktion darauf ist im ersten Absatz dieses Artikels nachzulesen.

„Jeanius“ von Jean Grae & 9th Wonder ist als CD und Doppel-LP bei Blacksmith erschienen und im Import erhältlich

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Parfüm ehelicht Schweiß

Die Musik der Bamboos stimmt den Hörer selig: Sie swingt tanzbar und hat den Amy-Winehouse-Faktor. Das Album „Side-Stepper“ bringt jede Weihnachtsfeier zum Kochen

Auf Betriebsfeiern fühlt sich der DJ besonders allein. Die Kumpels dürfen nicht hin, die Freundin hat Besseres zu tun. In Clubs und Bars herrschen Musikbegeisterung und Tanzwut – Betriebsfeiern hingegen beherrscht die Arbeit, sie bestimmt die Unterhaltungen der Gäste. Und wenn der DJ keinen Spaß hat, verkommt seine Kunst zur Dienstleistung. Immerhin ist diese in aller Regel gut bezahlt.

Jochen macht das schon lange. Bei der Weihnachtsfeier dieses Heizöllieferanten tritt er nun bereits das dritte Jahr in Folge an die Plattenteller. Ein Schulfreund hatte ihn damals gebucht. Doch nun ist er weit weg, auf einer Bohrinsel. Jochen gibt sein Bestes. Gute Musik will er spielen, nicht die herkömmlichen Fetenknaller von der 3CD-Box aus der Tankstelle. Und doch kann er es keinem recht machen: Die Sekretärin möchte die Bee Gees hören, der Chef „markige Gewinnermusik – Rwooack!“, der Azubi wünscht sich HipHop, die Abteilung Mahnwesen will Amy Winehouse. Mit Depeche Mode kann Jochen nicht dienen, die mag er einfach nicht.

Auf Betriebsfeiern spaltet jede Musik die Menge der Tanzenden. Entweder ist sie nicht gut, oder nicht banal genug. Was des einen Po zum Wackeln bringt, kommt dem anderen zu den Ohren heraus. Jochen begreift: Seine Aufgabe besteht heute darin, die Gemüter zu beschwichtigen. Glücklich wird hier niemand. Die ideale Musik für Betriebsfeiern muss erst erfunden werden. Muss?

Die Erfindung der Idealen Musik Für Betriebsfeiern, kurz IMFB, verdanken wir einem Zufall. Denn Jochen hält es nicht aus bei dieser Feier. Um 23 Uhr schleicht er sich durch den Hinterausgang und türmt im Taxi. Auf seine Gage wird er verzichten müssen. Weil sich niemand für ihn interessiert, legt er eine CD ein und lässt sie durchlaufen: Side-Stepper von The Bamboos, einer australischen Funkband. Jochen hat sie noch gar nicht gehört. Er hätte es besser tun sollen.

Denn ausgerechnet diese CD erfüllt alle Wünsche und eint die Anwesenden. Die Musik der Bamboos macht glückselig, IMFB bis zum Umfallen. Sie swingt, hat Soul, ist tanzbar und sie hat das, was der Musikindustrie das größte Ding seit dem Cher-Effekt ist: den Amy-Winehouse-Faktor. Sie klingt alt und aktuell zugleich. Jochen ist noch nicht zu Hause, da kocht die Party. Der Azubi tanzt mit der Nudel aus der Buchhaltung, der Chef hat das Buffet mit seinem Hinterteil abgeräumt und selbst der Prokurist frohlockt. Auf dieser Feier gibt es keine Hierarchien mehr, kein lässig oder verkrampft, auf diesem Tanzboden sind alle gleich. Und sie benehmen sich entsprechend.

Wenn die Stimmen der Gastsängerinnen Megan Washington und Kylie Auldist ertönen, werden die Hüften obszön gedreht, Parfüm ehelicht Schweiß. Wenn die Bamboos es ohne Sängerin versuchen, blüht ihre Spielfreude. Und wenn ein Brite namens TY rappt, freut sich nicht nur der Azubi.

Ein Jahr später wundert sich Jochen, dass der Heizöllieferant ihn wieder als DJ für die Weihnachtsfeier engagiert. Er hätte besser bleiben sollen.

„Side-Stepper“ von The Bamboos ist auf CD und LP erschienen bei Tru Though/Groove Attack.

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Urwüchsig amerikanisch

Blitzen Trapper ziehen dem Folk-Rock das Fell über die Ohren: Auf ihrem neuen Album Furr singt die Band knorrige Loblieder auf das Leben in der Wildnis

Auf dem Autorücksitz liegt eine alte Decke, sie liegt da schon lange. Über die Jahre ist sie ausgeblichen, sie hat Brandflecken und ist am Saum eingerissen. Die Decke verströmt den Geruch von Feuerholz und trockenem Meersalz – und den eines nassen Hundes. Das erinnert an Urlaub, an lange Sommertage und Nächte unter freiem Himmel. Heute würde man sich nur noch im Notfall in diese Decke hüllen, um sich warm zu halten. Aber wegwerfen? Nie im Leben.

Die Musik der Band Blitzen Trapper aus Portland ist ein bisschen wie so eine alte Decke auf dem Rücksitz: Sie erinnert an etwas Schönes, das längst vergangen ist. Auf ihrem neuen Album Furr singt die Band ein knorriges Loblied auf das Leben in der Wildnis. Ähnlich wie die bärtigen Kollegen von den Fleet Foxes zelebrieren Blitzen Trapper die rückwärts gewandte Kauzigkeit, die schon im Bandnamen mitschwingt. Sie sind noch verschrobener als die ätherischen Fleet Foxes, sie musizieren wie eine Rockband, die zwischen Blockhütte und Garage hängen geblieben ist.

Klang ihr letztes Album Wild Mountain Nation noch wie ein Mixtape, haben Blitzen Trapper nun viel Zeit auf die Gestaltung eines kohärenten Klangs verwendet: Die Band ist gereift. Aufgenommen wurde Furr im bandeigenen Tonstudio, einer ehemaligen Telegrafenstation am Willamette River. So viel uriges Amerika schlägt sich auch in den Liedern nieder: Stellenweise klingen Blitzen Trapper, als kühlte auf dem Fensterbrett noch der Apfelkuchen aus, bevor es zur Rentierjagd ginge. Denn Furr ist eine durch und durch amerikanische Angelegenheit. Aus der Nachbarhütte tönen Neil Young, The Band, die Grateful Dead und ein spätsommerlicher Bob Dylan durch das offene Fenster herein. Von Pavement haben sich Blitzen Trapper das Talent für unvorhersehbare Melodien geliehen.

Und die Band wagt mehr, als es zunächst den Anschein hat. Da ist zum einen das Instrumentarium des gestandenen Folk-Rock: Steelguitar, Mundharmonika und Akustikgitarren. Das Schlagzeug scheppert wie dreckiges Geschirr im Spülbecken. Aber dann schleichen sich billige Keyboards und psychedelische Ausbrüche ein. Und das wahnwitzige Medley Echo / Always On / EZ Con endet in einem funkensprühenden Disco-Groove. Eine Spannung durchweht das Album, Blitzen Trapper ziehen dem Folk-Rock das Fell über die Ohren.

Die Bilder, die sie in ihren Texten entwerfen, sind dabei so pastoral wie ein Gemälde der Hudson River School. Es sind vor allem Lagerfeuer-Anekdoten und Hinterwäldler-Schnurren, die der Sänger Eric Earley erzählt. Er singt von mordenden Cowboys und gestohlenen Pferden (Black River Killer) und vom einsamen Umherstreifen in Wald und Flur (Stolen Shoe & A Rifle). Im Titelstück nimmt die ländliche Romantik märchenhafte Züge an: Earley besingt die Geschichte eines Jungen, der von Wölfen erzogen wird. Seine große Liebe findet er unter den Menschen und kehrt dennoch in die Wildnis zurück. Zu sanftem Folk-Rock erklingen Naturgeräusche und Wolfsheulen.

Solche bewegenden Momente bewahren Furr davor, zu einem nostalgischen Jux zu verkommen. Bei all der guten Laune und dem urwüchsigen Charme hat die Band eben auch die kritische Menge zerbrechlicher Töne getroffen. Dazu gehören vor allem Lady On The Water und das umwerfende Not Your Lover, akustische Lieder in denen plötzlich dieser vertraute Geruch herüberweht. Ach, ja, die alte Decke auf dem Rücksitz. Die könnte auch mal gewaschen werden. Aber wenn sie doch so gut riecht!

„Furr“ von Blitzen Trapper ist auf CD und LP bei Sub Pop/Cargo erschienen.

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Strich durchs Gemüse

Sarah Bogner aus Wien und Bea Dorsch aus München sind Apparat Hase. Auf ihrer ersten Platte servieren sie minimalistische Lieder, rasante Beats und Wortsalat

Da steckt ganz schön viel Gemüse im Debütalbum von Apparat Hase: Um rote Rüben geht es, um Einmachgläser und Buchstabensalat. Apparat Hase sind die Musikerinnen Sarah Bogner aus Wien und Bea Dorsch aus München. Die eine ist 28 Jahre alt und Künstlerin, die andere 37 Jahre alt und in der Psychiatrie angestellt. Kennengelernt haben sie sich im Münchener Nachtleben. Der Bandname ist ein Buchstabensalat aus ihren Vornamen – und dann noch ein bisschen gemogelt.

Bei den Werbefotos für ihre CD haben sie nicht gemogelt – und wurden prompt gefragt, weshalb sie die glänzenden Gesichtspartien auf den Bildern nicht retuschieren ließen. „Wie soll man Haltung bewahren, wenn das Business Haltung für einen Retuschefehler hält?“, fragen sie im PR-Text zur Platte keck zurück. Eine Reaktion, so passgenau wie die elektronischen Beats des Duos. Die Lieder sind minimalistisch aber nie monoton, rasante Rhythmen unterlegen die gelangweilt gesungenen englischen und deutschen Texte. Ihre Texte schreiben Sarah Bogner und Bea Dorsch gemeinsam, die Musik entstand mit Unterstützung der Münchener Robert Merdzo und Andreas Gerth.

Apparat Hase verorten ihre Lieder „irgendwo zwischen Minimal Dance, Electro-Pop, New Wave & Old School“, lässig sind sie auf jeden Fall. Aschebahn etwa ist ein wahrer Tanzflächenkracher, Comfort lädt zum Twist in den Elektrokochtopf. Höhepunkt des Albums ist das Lied Flexionsklasse über Einkaufszentren, schlaue Wörter und allgegenwärtiges Gemüse: „Ich mag Einwegdenke nicht / Einmachgläser hab‘ ich nicht / Rote Lippen steh’n mir nicht und auch keine -ismen, -ismen!“ Die beiden Damen reichen Wortsalat. „Einkaufskorb ist leer, Einmachglas ist voll / Shopping Mall gesperrt, Gemüse überall! / Komm mit in mein Einmachglas / Schnellkochtöpfe machen Spaß / Auf rote Lippen ist Verlass / Und auf keine -ismen, -ismen …“ Eine Steigerung ist nach diesem zerhäckselten Wortwitz nicht mehr möglich. Die folgenden Lieder rauschen vorbei, weil man gedanklich an der einen Zeile kleben bleibt: „Gemüse überall!“

Auf der Albumhülle sieht man verwuschelte Haare und zwei ausgeschnittene Frauenkörper vor einem tristen Hintergrund. Schön ist das nicht, aber wie sympathisch diese Verweigerungshaltung ist. Auf der Rückseite des Albums ist der Bandname durchgestrichen, so als bedeuteten sie den Hörern: „Euch machen wir einen Strich durchs Gemüse!“

Das unbetitelte Debütalbum von Apparat Hase ist als CD und LP bei Trikont/Indigo erschienen.

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