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So klingt ein Röntgenbild

Mit kratzender Stimme erzählt der amerikanische Folksänger Vic Chesnutt Geschichten voller Menschlichkeit. Sein Album „North Star Deserter“ strahlt eine unheimliche Ruhe aus.

Vic Chesnutt North Star Deserter

Vic Chesnutts Alben stecken voller Geschichten. Er ist ein begnadeter Erzähler alltäglicher Dramen, auch seiner eigenen. North Star Deserter heißt sein elftes Album.

Er wurde in Florida geboren, heute lebt er einen Bundesstaat weiter nördlich, in Georgia. 43 Jahre ist er alt und an den Rollstuhl gefesselt. Im Jahr 1983 hatte er einen Autounfall, seitdem ist seine untere Körperhälfte gelähmt. Er war betrunken von der Straße abgekommen.

Mitte der Neunziger widmete ihm die karitative Organisation Sweet Relief ein Benefiz-Album. Eine illustre Musikerschar sang seine Stücke nach, R.E.M. waren dabei und die Smashing Pumpkins, Madonna, Soul Asylum und Garbage. Da rockten und fiepten seine kargen Lieder plötzlich, das klang nicht immer gut.

Viele Fotos zeigen Vic Chesnutt mit seiner Gitarre auf den Knien. Zynisch kommentiert er seinen Rollstuhl, wenn er auf der Bühne ist. Dann lacht er über sich selbst, keine Spur der Verbitterung. Aus seinen Texten spricht Menschlichkeit. Sie sind direkt, nur selten bemüht er Metaphern. Viele seiner Worte klingen, als dichte er über sich selbst, doch seine Offenheit ist nie aufdringlich.

Warm ist der erste Titel auf seinem neuen Album. Zu den sparsamen Tönen der Gitarre singt er von der Wärme des Körpers, vom Zucken der Muskeln, vom Leben mit einer schlechten Nachricht. „What is the message on those gamma rays that are a’penetrating you? Do they say that the end it is a’coming soon? Or do they say ‚Forget the sun, worship the moon‘? But whatever it is, our pinhole perspective cannot a’translate sufficiently“, dichtet er. Mit der Krankheit macht sich die Angst und das Ungewisse im Alltag breit. „Anyway, A or B, you know, it’s alright with me“, schließt er. Was soll man auch tun?

In der schlicht instrumentierten Strophe von You Are Never Alone erzählt er von Abtreibung, Bypass-Operationen, von den Medikamenten Valtrex, Prilosec und Vioxx. Das sei alles schlimm, aber in Ordnung, schließlich müsse es weitergehen. Das versichert auch ein Chor im schunkeligen Refrain.

Vic Chesnutts nasale Stimme kratzt und ächzt. Sie steht im Mittelpunkt der Stücke und verleiht ihnen eine unheimliche Ruhe. Nur bei Everything I Say und Debriefing bricht die Oberfläche auf, und die Band wird richtig laut.

Welche Band eigentlich? Die meisten seiner bisherigen Alben hat Vic Chesnutt auf seiner Gitarre eingespielt, brüchige Folkstücke ohne Schmalz. Diesmal huschte eine ganze Schar befreundeter Musiker durch das Studio in Montreal. Die zwölfköpfige Truppe setzte sich zusammen aus Mitgliedern von Thee Silver Mt. Zion Memorial Orchestra & Tra-La-La Band, Frankie Sparo, Hangedup und Godspeed You! Black Emperor, allesamt Hausbands des kanadischen Labels Constellation Records. Guy Picciotto von der amerikanischen Punkband Fugazi brachte seine Stimme und sein Gitarrenspiel ein. Auch die Geister des Poeten W. H. Auden, des Malers Philip Guston und der Sängerin Nina Simone seien eingeladen gewesen, schreibt der Produzent des Albums, der Filmemacher Jem Cohen.

Den Geist Nina Simones meint man sogar zu hören. Wenn Chesnutt ihr Stück Fodder On Her Wings interpretiert, klingt ihre tieftraurige Stimme mit. Die Taube, die die Hülle von Chesnutts Albums ziert, ist wohl diesem Lied entflogen. „A bird fell to earth / Reincarnated from her birth / She had fodder in her wings / She had dust inside her brains“, heißt es darin. „She watched the people how they lived / They’d forgotten how to give / They had fodder in their brains / They had dust inside their wings.“ So sind sie eben, die Menschen, würde Chesnutt wohl schließen. Nina Simone sang: „Oh, how sad, how sad“.

„North Star Deserter“ von Vic Chesnutt ist als CD und Doppel-LP bei Constellation Records erschienen


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Tanzen in der Tropfsteinhöhle

Das erste Album der Pariser DJane Chloé führt den Hörer in klangliche Tiefen. Unser Autor staunt, welch detaillierte Schraffuren, welch geheimnisvolle Konturen es hier zu entdecken gibt.

Chloé The Waiting Room

Es geht los mit einem kurzen Stück leichter Elektronik, das so ähnlich auch in den Achtzigern entstanden sein könnte. Zu hören ist ein Reggae-Shuffle und skurrile Klänge, die an die deutsche Elektroband Der Plan erinnern. The Waiting Room ist das erste Album von Chloé Jane Thevenin, kurz Chloé. Als DJane machte sie im Pariser Lesbenclub Le Pulp auf sich aufmerksam.

Der spielerische Beginn täuscht. Wir stehen am Anfang einer Entdeckungsreise, die uns in ungeahnte Tiefen führt. Wie ihre DJ-Kollegin MIA aus Berlin nutzt Chloé das unerschöpfliche Klangarchiv der achtziger Jahre. Nicht, um ihrem Minimal-Techno eine nostalgisch glitzernde Elektro-Oberfläche zu verpassen, ihre Bezugspunkte sind vielmehr die Kühle von Throbbing Gristle und das Experimentelle der Biting Tongues. Chloé nutzt diese Klänge, um die rigiden Strukturen des Minimal zu brechen.

Das erstaunlichste Stück auf The Waiting Room ist Around The Clock. Das Ticken einer Uhr gibt den Rhythmus, eine Akustikgitarre wird geschrammelt, und Chloé singt die immergleichen Worte. Schnarrende Laute brechen den Beat auf, die Uhren vervielfältigen sich. Irgendwann beginnen eine Posaune und ein Saxofon, den Marsch zu blasen.

In vielen ihrer Stücke passiert so viel, dass man nicht mehr von Minimal-Techno sprechen mag, das ist dann schon Micro-House. Chloé ist es wohl gleich, wie man es nennt. Sie wühlt in den alten Klangarchiven und sucht ihre eigene Sprache. Sie vertieft sich in kontinuierliche Mutationen von Rhythmus und Klangverschiebungen. Stellenweise irritieren ihre merkwürdigen Halleffekte, es klingt, als stünde man in einer Tropfsteinhöhle.

„Beneath the sea / Below the ground / There is no sorrow“, singt Chloé in einem Stück, begleitet von einer gezupften Akustikgitarre und einem beschleunigten Joy Division-Bass. Drum herum schwirren elektronische und natürliche Klänge, und ein gelegentlich brummender Bass verspricht Erdung. The Waiting Room kann einen zunächst deprimieren. Doch wer sich drauf einlässt, wird fasziniert sein: Chloé führt den Hörer in klangliche Tiefen, und er staunt, welch detaillierte Schraffuren, welch geheimnisvolle Konturen es hier zu entdecken gibt.

Arbeiten übliche Tanzstücke auf Höhepunkte hin, strebt Chloé zu immer neuen Gründen. Das Album ist ein langsamer Abstieg. Alleine lässt sie einen nicht, immer haben die Stücke auch etwas Vertrautes, etwas Freundliches. Man muss es nur finden.

„The Waiting Room“ von Chloé ist bei Kill The DJ Records erschienen.

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Klangräume für Virtuosen

Erst sollte die Band Porcupine Tree nur ein Witz sein, dann rettete sie den Progressive Rock. Ihr neuntes Album „Fear Of A Blank Planet“ klingt ausufernd – wie es sich für das Genre gehört.

Porcupine Tree Blank Planet

Im Jahr 1987 beschloss der Brite Steve Wilson, mit seinem Freund Malcolm Stocks eine fiktive Rockband namens Porcupine Tree zu gründen, fiktive CDs zu produzieren und mit einer erfundenen Bandgeschichte auch an Wettbewerben teilzunehmen. Er konnte nicht ahnen, das aus diesem Witz eines Tages tatsächlich eine Band werden würde, die dem etwas in Verruf geratenen Genre Progressive Rock auf die Beine helfen sollte. Vier Jahre nach der Gründung erschien die erste richtige CD, mit Alben wie Signify (1996), Stupid Dream (1999) und Lightbulb Sun (2000) gewannen sie in der Folge ein immer größeres Publikum. Kürzlich erschien Fear Of A Blank Planet, ihr neuntes Studioalbum.

Unterstützt wird Steve Wilson seit Jahren von hervorragenden Musikern – unter ihnen der Spezialist für unerhörte elektronische Klänge, Richard Barbieri, der früher bei der Band Japan spielte. Steve Wilson schreibt die meisten Stücke, er ist ein guter Komponist, ein guter Gitarrist und ein passabler Sänger. Vor allem aber ist er ein hervorragender Produzent, in dieser Rolle sieht er sich selbst am liebsten. In seinen Kompositionen verarbeitet er Einflüsse aus altem Progressive Rock, Jazz, Minimal Music, Pop, Heavy Metal und Klassik.

Schon der Titel des neuen Albums Fear Of A Blank Planet verweist auf die Atmosphäre, die beinahe alle Kompositionen Steve Wilsons durchzieht. Eine spöttisch resignative, oft ironische und mitunter auch sarkastische Sicht auf die Dinge. Eingebettet sind diese Endzeit-Texte in Songs, die sich häufig aus winzigen Motiven zu ausgedehnten Klangprozessen entwickeln. Es gelingt Steve Wilson dabei stets, seine Band gleichberechtigt einzubinden, Porcupine Tree sind keine One-Man-Show mit Begleitmusikern. Selbst Gastmusiker wie Alex Lifeson von Rush oder Robert Fripp können sich nahtlos in das Klanggefüge der Band einpassen.

Anesthetize ist mit fast 18 Minuten das längste Stück der Platte. Solche Kompositionen bieten Virtuosen genug Raum und den Hörern manche Überraschung. So brechen aus den mäandernden Synthesizer-Klängen mitunter brachiale Double-Bass-Gewitter und scheppernde Gitarrenblitze hervor, die wenig später wieder von elegischen Elektronikklängen abgelöst werden. Das alles funktioniert dank gewisser Anleihen bei der klassischen Musik, hier und da tauchen Leitmotive und Reprisen auf.

Auch die Streicher fehlen nicht: In My Ashes haben sie die Aufgabe, einen sanften Hintergrund zu liefern. Bei Sleep Together ist das Streicherarrangement gespickt mit an Beatles-Songs wie Strawberry Fields Forever oder I Am The Walrus erinnernden Streicherglissandi, stellenweise spielen sie sich weit in den Vordergrund. Sleep Together ist ohnehin ein gutes Beispiel für die Produktionstechnik Wilsons. Aus heterogenem Material schmiedet er eine unverwechselbare Mischung: Beatles-Streicher, Heavy-Drums, ein Ostinato des Synthesizers, das den gesamten Song über vor sich hin murmelt, versonnene Keyboard-Motive, ein psychedelisches Gitarrenriff.

Diese Musik stellt Ansprüche an den Hörer, ganz sicher kann man sie nicht nebenbei hören. Wer von Rockmusik mehr erwartet als das übliche Drei-Minuten-Geschrammel auf elektrischen Gitarren, der ist bei Porcupine Tree bestens aufgehoben.

„Fear Of A Blank Planet“ von Porcupine Tree ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Roadrunner/Warner Music

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New Order steht ihnen gut

Düstere Lyrik und fröhliche Melodien – The Bravery bedienen sich bei vielen Gruppen der Rockgeschichte, und das macht Spaß. Spätpubertäre Mädchen werden zum neuen Album der amerikanischen Band durch die Indiedisko hüpfen.

Animal Collective Strawberry Jam

Im vergangenen Jahr spielten The Bravery im Vorprogramm von Depeche Mode, das war eine undankbare Aufgabe. Der Klang in der Hamburger Arena war mies, nur ab und an erhoben sich erkennbare Melodiebögen aus dem Gewaber. Nicht einmal ihr erster und bislang einziger Hit Honest Mistake war erkennbar, alles dröhnte und schepperte. Ob es an der Halle lag oder an den mangelnden Fähigkeiten der Musiker, ließ sich nicht entscheiden. Bei Depeche Mode später saß jeder Ton.

Auch auf dem Hurricane Festival in diesem Sommer spielten The Bravery als eine Art Vorband. Zur Mittagszeit schickten sie der grellen Sonne ihre düsteren Töne entgegen. Der Wind zerbürstete manchen Keyboardteppich, sonst klang es gut. Die Musiker beherrschten ihre Instrumente und ihre Kompositionen. Sie spielten viele Stücke, die damals niemand kannte – gute Stücke. Auf dem zweiten Album The Sun And The Moon kann man sie nun hören.

The Bravery klingen nicht neu, nicht originell, nicht gewagt. Tausende Bands machen ähnliche Musik. Die meisten Basslinien sind von New Order geklaut. Die Keyboards gemahnen an diverse Elektronikbands der Achtziger, die Gitarren an den Garagenrock der späten Neunziger. Die Basstrommel im Hintergrund stampft oft arg stupide. Aber: Wenn man keine überbordende Experimentierfreude erwartet, macht die Platte großen Spaß. Die Melodien sind feinsinnig, das Drängende von New Order steht ihnen gut.

Die Bässe sind laut, mal stehen sie alleine, mal gesellen sich flirrende Keyboards hinzu und singende Gitarren. Das rumpelige Believe macht den Anfang. Es folgt This Is Not The End, ein formvollendetes Zitat: Der Sänger Sam Endicott imitiert Julian Casablancas von den Strokes perfekt. Der Tonfall stimmt, die Stimme ist leicht verzerrt, Melodieführung und Liedstruktur sind, na ja, so was von geklaut. Die Gitarre setzt mit einem Clash-Gedengel ein und schwenkt dann hinüber zum lässigen Stil der Strokes. Selbst der Titel des Stücks und Zeilen wie „I am not a scientist, I must believe in more than this“ könnten von den amerikanischen Rockern stammen.

Die Lyrik Sam Endicotts ist wenig lebensfroh. Der Sänger nennt sich einen „hoffnungsvollen Menschenfeind“. Seine besten Tage habe er im Fernsehen gesehen, das Leben beschäme ihn, gestrandet sei er mit einer Hure namens Hoffnung. Er singt: „Jedes deiner Worte ist ein Messer in meinem Ohr, jeder Gedanke in deinem Kopf ist Gift.“ Das Lied Every Word Is A Knife In My Ear schrieb er für seine Ex-Freundin. Die verließ ihn wegen eines anderen und kam nach ein paar Wochen zurück, sie war an einen brutalen Schläger geraten. Kurz darauf verließ sie Sam Endicott erneut wegen desselben Mannes. Wieder kam sie zurück, tat Buße und schwor ewige Treue. Kurze Zeit später heiratete sie – den Schlägertypen. Wie sollte er angesichts solcher Erlebnisse zum Menschenfreund werden?

In Bad Sun pfeifen sich The Bravery einen – im Chor. Darf man das noch, nach Wind Of Change? Sie scheren sich nicht drum. Das Stück ist richtig fröhlich, spätpubertäre Mädchen werden dazu bald durch die Indiedisko hüpfen. Time Won’t Let Me Go klingt nach The Cure, nicht nur dank der Akustikgitarre und der betrüblichen Kiekser. Nach dem Refrain jault die Gitarre eine klagende Tonfolge. Würde die nicht auch Roland Kaiser gut stehen?

Nein, das geht zu weit.

„The Sun And The Moon“ von The Bravery ist als CD und LP bei Islands Records erschienen.

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Vierstimmiger Wildwuchs

Das Animal Collective stiftet Verwirrung: Wo kommt dieses Zirpen her? Ist das jetzt schon ein Song oder noch ein Experiment? Und wie klingen zermatschte Erdbeeren?

Animal Collective Strawberry Jam

Auf dem neuen Album des Animal Collective prangen zermatschte Erdbeeren, Strawberry Jam heißt es. Bei Strawberry denkt man im Pop sofort an einen der Klassiker des Psychedelic Pop, Strawberry Fields Forever von den Beatles. Wie die Beatles in ihrer psychedelischen Phase nutzt das Animal Collective die Möglichkeiten und Effekte des Tonstudios. Anders als die Beatles sind sie nicht auf der Suche nach dem perfekt geformten Pop-Song, sie brechen lieber die Strukturen auf, durch Klangexperimente und freie Improvisation. Der Song ist dem Animal Collective lediglich Ausgangspunkt – manchmal auch flüchtiges Zwischenergebnis –, bevor alles wieder in wildes Getrommel, seltsam zirpende Synthesizer-Klänge, frenetisches Geschrei und mäanderndes Geschrammel zerfällt.

So war das jedenfalls lange Zeit. Auf der Platte Feels aus dem Jahr 2005 und dem Soloalbum Person Pitch des Kollektiv-Mitglieds Panda Bear deutete sich eine Hinwendung zum Pop-Song an. Mit Strawberry Jam ist das Kollektiv dort angekommen. Eine Affinität zu den Harmoniegesängen der Beach Boys hatten sie schon immer, jetzt leben sie sie voll aus. Nicht im Sinne des perfekten Klangs, sondern als vierstimmiger Wildwuchs. Man hört ihnen an, dass sie zur Perfektion fähig wären, allein – sie wollen sich dem Wohlklang nicht fügen. Der Unwille bricht sich Bahn in vokalen Ausbrüchen, die hier wie Adam Ants Vorstellung von Indianer-Gesängen und dort wie die enthemmte Version avantgardistischer Chormusik klingt.

Die Vielstimmigkeit findet sich auch im Instrumentalen. Klänge werden verfremdet, bis man nicht mehr sicher ist, welchen Ursprungs sie sind. Diese flirrenden Akustik-Gitarren könnten auch Synthesizer sein. Und ist das Getrommel wirklich handgespielt oder eine quer programmierte Rhythmus-Box? Die Klänge haben eine desorientierende, luminös schimmernde Dichte, die den Hörer in Euphorie versetzen. „Confusion is always a good thing in music!“, verfügte Bandmitglied David Portner einst apodiktisch.

Das klingt nach Hippies? Die Mitglieder des Animal Collective sind Hippies. Hippies, die wahrnehmen, was um sie herum vorgeht. Hippies, die sich bevorzugt in der Natur aufhalten, aber in Brooklyn leben. Hippies, die ihr Bewusstsein mithilfe technischer Spielereien erweitern.

Die Erdbeere auf dem Album ist nicht umsonst zermatscht. Nur so sieht man, ob das Zermatschen nicht eine neue Form der Schönheit schafft. Und das tut es.

„Strawberry Jam“ vom Animal Collective ist als CD und Doppel-LP bei Domino Records/Rough Trade erschienen.

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Wie ein Wohnzimmersteviewonder

In den eigenen vier Wänden in Amsterdam backt Benny Sings süßes Zeug. Seine Soul-Liedchen klingen beschwingt, sind liebevoll arrangiert und überzogen mit Zuckerguss aus Melodie.

Benny Sings Benny At Home

Das Sonntagsfrühstück! Knusprige Aufbackbrötchen, Marmelade drauf, frischer Kaffee. Kein Knoppers, das um halb zehn hektisch verschlungen wird. Keine traurige Restplörre aus der Thermoskanne. Nein, am Sonntag schmilzt die Butter auf dem Croissant. Die Musik, die dazu läuft, muss zuckersüß sein. Gemütlich und keinesfalls einschläfernd soll sie in den Tag geleiten.

Benny singt … zu Hause. Ein zotteliger Bärenmensch mit Vollbart und Schlaf in den Augen sitzt im Pyjama am Klavier. Seine Wohnung steht voller Instrumente – natürlich hat es sich dazwischen eine Frau bequem gemacht, um ihm zuzuhören. Konzentriert schaut sie in ihre Kaffeetasse. Der Künstler spielt melancholische Lieder mit Sonnenschein am Horizont. Die beiden müssen die Wohnung nicht verlassen. Es wird Abend, das Paar putzt Zähne und geht wieder ins Bett. Ein ereignisloser Tag geht zu Ende, die Jeans hängt unbenutzt im Schrank. Was für ein Leben.

Nach so einem faulen Tag klingt die Musik von Benny Sings, dem Zauselbarden am Klavier. Er macht Rhythm’n’Blues und Soulmusik mit beschwingtem Klavier, Schlagzeug und Gitarre. Wie ein Wohnzimmersteviewonder klingt er dabei. Manchmal gesellen sich Bläser hinzu. Benny bedient sich liebevoller Arrangements und hat eine unverwechselbare Stimme, seine Musik ist warm und luftig. Sie klingt weder aktuell noch verbraucht, aufgeregt schon gar nicht. Aufgenommen wurde Benny… At Home in Bennys Amsterdamer Butze in der Schlendrianlaan 43, so hört es sich jedenfalls an. Musik für Schokoladenwerbung hat er auch schon gemacht – Benny Sings’ akustische Zuckerbäckerei wird professionell geführt.

Eines morgens wacht der Sänger wieder alleine auf. Die Frau ist mit einem Steuerberater durchgebrannt. Benny stimmt das keineswegs mürrisch. Seine Haare hat er beim Videodreh zu Let Me In geopfert und einem Perückenmacher verkauft. Vom Erlös hat er neue Hausschuhe gekauft.

„Benny… At Home“ von Benny Sings ist erschienen bei Sonar Kollektiv/Rough Trade.

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Die große Wut

Christian Scott erzählt auf seiner Trompete von der Zerstörung seiner Heimatstadt New Orleans, vom Irak-Krieg und sozialer Ungerechtigkeit.

Scott Anthem

Der junge schwarze Trompeter Christian Scott wird hoch gehandelt in diesen Tagen. Beim North Sea Jazz Festival in Rotterdam interviewte er Wynton Marsalis, auf dem neuen Album von Prince spielt er ein Solo, und im nächsten Film von Steven Soderbergh ist er als Schauspieler zu sehen. Gerade ist seine zweite CD erschienen, Anthem.

Christian Scott kommt aus New Orleans, auf Anthem geht es um das Leben in der Stadt, die vom Wirbelsturm Katrina vor zwei Jahren teilweise zerstört wurde. Titel wie Litany Against Fear, Antediluvian Adaptian (Vor der großen Flut) und The Uprising sprechen eine klare Sprache. Im Schicksal von New Orleans spiegelten sich die großen Konflikte der Welt. Er sei kein politischer Musiker, sagt Scott. Die Regierung jedoch, die New Orleans tagelang im Stich ließ, sähe er gerne auf der Anklagebank – wegen Mordes.

Die Menschen dort seien immer noch aufgebracht. Es sei eine Schande, dass internationale Hilfsorganisationen sich einschalten mussten, während die eigene Regierung im Ausland teure Kriege um Öl führte. Die meisten schwarzen Menschen, die betroffen waren, verdienten zwischen 10.000 und 30.000 Dollar im Jahr, sie könnten sich oft kein eigenes Auto leisten und hätten keine Rücklagen, sagt Christian Scott. Man hätte sie vor der Sturmflut evakuieren müssen.

Er spricht von seinem musikalischen Konzept. Davon, dass die Gefühle eines Musikers nicht von den Inhalten zu trennen seien. Die Situation in New Orleans, der Irak-Krieg und die soziale Ungerechtigkeit in den USA machten ihn wütend, da könne er keine Party-Musik spielen. Es gehe ihm um Ehrlichkeit - sich selbst und dem Zuhörer gegenüber. Tief empfundener Protest und Unmut könnten sich aber unterschiedlich anhören, sagt Christian Scott. In seiner Musik lauert zwischen dem Ruhigen und Tradierten immer auch das Unberechenbare.

Vor sechs Jahren verließ er New Orleans, um Musik zu studieren. Heute lebt er in New York. Erst dort habe er bemerkt, wie beschränkt das Leben in seiner Heimatstadt war. Er verstehe, dass viele Menschen gar nicht mehr zurückkehren wollten, weil sie heute in anderen Städten besser und sicherer leben könnten. New Orleans sei gefährlicher als Los Angeles, sagt Christian Scott, Katrina habe das sichtbar gemacht.

Er wuchs auf mit HipHop, Prince und Michael Jackson, als Kind hatte er mit asiatischen und weißen Amerikanern zu tun. Die Segregationserfahrungen vieler afroamerikanischer Musiker machte er nicht. Sie waren gezwungen, mit anderen Schwarzen zu musizieren und entsprechende Verhaltens- und Sprachformen zu entwickeln. Christian Scott hingegen verspürt eine musikalische Freiheit. Sie möchte er auf Anthem zum Ausdruck bringen.

„Anthem“ vom Christian Scott ist erschienen bei Concord.

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Hee, Hoo, Haa, Hülsen

Die erste Platte der Engländer Hard-Fi war eine pfiffige Mixtur aus Rock, Dub, mehrstimmigem Gejohle und luftigen Melodien. Nun plätschert das zweite Album hinterher.

Hard-Fi Once Upon A Time In The West

Vor zwei Jahren erschien das Debütalbum Stars Of CCTV von Hard-Fi. Frecher britischer Rock steckte in den elf Liedern und eine gehörige Portion Dub, mehrstimmiger Gesang machte die meisten Stücke zu Hymnen. Vor allem die Singles Hard To Beat und Cash Machine glänzten. Es war auch manch Füllsel auf dem Album, aber das fiel kaum auf. Sechs Stücke von Stars Of CCTV wurden in Großbritannien als Single veröffentlicht. Den Dub kehrten Hard-Fi im vergangenen Jahr auf der Remix-Platte In Operation noch deutlicher heraus, daneben erschien eine Live-DVD. Bei soviel Mehrfachverwertung konnte die Band sich Zeit lassen mit dem zweiten Album.

Vielleicht hatten sie zuviel Zeit für Once Upon A Time In The West. Die Platte kann die Versprechen der ersten nicht halten. Sie klingt bemüht, stellenweise dünn. Wo sind die luftigen Melodien hin? Der Sänger Richard Archer gibt sich größte Mühe, seine Worte so lässig anzubringen wie vor zwei Jahren. Leider hört man das. Die Strophen klingen oft noch ganz gut, aber die Refrains verhaut er fast immer. I Close My Eyes rumpelt hymnisch aber ideenlos, der Sänger kämpft. Schließlich ist da eine Melodie, doch – oh, weh – was für eine!

Die mehrstimmigen Gesänge, die das erste Album so charmant machten, sind jetzt nervtötend. Sie wirken wie leere Hülsen für fehlende Worte und fehlende Ideen. „Heeeeeeee, Hoooooooo, Haaaaaaaa, Heeeeeee“ schmettert es in Suburban Knights, „Ooooooo, Aaaaaaa, Eeeeeeee“ in Tonight, „Uuuuuuu, Uuuuuuuu“ in Watch Me Fall Apart. Da wirkt das „Na na na na na na, na na na na na na“ in I Close My Eyes schon wie eine originelle Variation.

Auch musikalisch ist das Album flach. Zu oft drängeln sich rockige Gitarren in den Vordergrund, der Dub ist ganz verschwunden. Akustische Gitarren werden mit Schlagzeugcomputer und weichgespülten Refrains der Marke „Help me please, I’m in need“ kombiniert – „pliiihihihiiis“ mit ganz lang gezogenen Vokalen. Andere Stücke gehen in synthetischer Orchestersoße unter. Es dauert ein bisschen, bis man den Schock des ersten Hörens überwunden hat.

Beim zweiten Durchlauf macht die Platte an einigen Stellen sogar Spaß. We Need Love ist ein feines Stück, einfach und funktional. Richard Archer singt: „In Liverpool, in Glasgow und in London, was wir jetzt brauchen, ist Liebe.“ In Washington und San Salvador übrigens auch. Und am Ende johlen alle: „Whoooooa, whooooa.“ In Can’t Get Along klingen ein Ska-Rhythmus und Bläser durch, das ist sehr kraftvoll. Television fängt gut an, da sind Tanzrhythmen zu hören. Im Refrain bricht das Stück auseinander, es wird rockig und platt. „Television, new religion, let everyone sing Hallelujah. Politicians, don’t wanna listen, they only wanna make money out of you. Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah!“ Uff. So ist das überall, jede gute Idee wird früher oder später zugekleistert.

Die an Oasis erinnernde Melodie des letzten Stücks The King mag man gar nicht mehr so recht genießen. Im Hintergrund dröppelt ein künstliches Schlagzeug, darüber schmiegt sich eine Pudding-Schicht aus Geigengesäusel und Akustikgitarre. Zu allem Überfluss brezeln unsägliche Gitarren hinein. The King ist so zerfahren wie das gesamte Album.

Auf der sonnengelben Hülle steht in weißen Lettern „No Cover Art“. Die erste Single Suburban Knights ist ähnlich aufgemacht, „Expensive Black & White Photo of Band. Not Available“. Wenn die Lieder von Hard-Fi nur immer noch so gut wären wie ihre Witze.

„Once Upon A Time In The West“ von Hard-Fi ist als CD bei Warner Music erschienen.

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