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Zu Stein gesungen

Auf ihrer neuen Platte White Chalk kommt PJ Harvey ohne verzerrte Gitarren aus. Ihre betörende Stimme klingt nun aus der fünften Dimension zu uns hinüber. Ein Groschenroman.

PJ Harvey White Chalk

Die folgende Geschichte ereignete sich am 17. Oktober 2019 irgendwo südlich des Nordpols. Weshalb das Jahr 2019 in der Vergangenheit liegt? Betrachtet man die Welt in ihren fünf Dimensionen, ergibt das Sinn. Das Jahr 1969 läge dann in ferner Zukunft.

Also weiter. Kapitän Jennings’ Schiff fuhr auf einen Fels und kenterte. „Kapitän“ war nur sein Spitzname, er war ein einfacher Fischer. Aber er war ein guter Fahrer und kannte sich aus in der Gegend.

Jeden Morgen fuhr er mit dem Kutter los. Allein. Über die Jahre hatte er so einiges gefangen, manches verschwieg er seiner Frau lieber. Denn Kapitän Jennings war ein rechter Lump. Gerne legte er in den benachbarten Häfen an, um sich in Hurenhäusern zu vergnügen. An solchen Tagen kaufte er die Fische der Kollegen, um getane Arbeit vorzutäuschen. Außerdem hatte er ein ordentliches Alkoholproblem. Aber das war in seinem Dorf so üblich. Wenn alle das gleiche Problem haben, wird es zur Normalität. Und niemand schaut mehr hin.

Doch was war passiert an jenem 17. Oktober? Entrückte Musik hatte Jennings in fremde Gewässer geführt. Durch den Nebel schallte eine Frauenstimme, blechern und schwindsüchtig. Er vernahm weiche Akkorde eines leicht verstimmten Klaviers. „Dear Darkness. Dear, I’ve been your friend for many years“ – diese Stimme flüsterte und versprach Unheil. Jennings konnte sich ihren Reizen nicht entziehen, wie hypnotisiert steuerte er in sein Verderben. Ächzend barst der Rumpf seines Kutters.

Jennings fand sich in einer Unwelt wieder, ein falscher Kapitän ohne Kutter. Seine Kleidung war durchnässt. Er zitterte und blickte um sich. Er befand sich auf einer winzigen Insel. „Hier könnte man keine zwei Häuser bauen“, dachte Jennings. Das Moos auf dem Gestein war mit Eis überzogen. Der einzige Baum war tot, er trug schon lange keine Blätter mehr. Wenige Meter entfernt lag ein ausgedörrter Schwerenöter, zwei Krähen naschten an ihm. In seinem Blick trug er die Vorahnung eines baldigen Todes. Jennings machte keine Anstalten, dem Siechenden zu helfen. Denn etwas anderes beanspruchte seine Aufmerksamkeit. Es war die Musik. Jennings war gelähmt.

„Der Engel der Vergeltung…“ – der Halbtote keuchte – “Wir sind verloren. Hab acht, schau ihm nicht zu lange in die Augen, denn…“ Zu mehr reichte die Kraft nicht, der Schwerenöter war hin. Jennings verstand gar nichts. Doch wer könnte ihm das in solcher Ausweglosigkeit verdenken? Das Wolkenmeer brodelte. In der Krone des toten Baumes erspähte er eine Frau im weißen Hochzeitskleid. Er wusste jetzt, wessen Stimme ihn benebelt hatte. Und das Rätsel der Augen war ebenfalls gelöst. Er hatte von ihm gehört – der Engel der Vergeltung ist eine Frau. Und sie haut Bilder. Wer zu lange in ihre Augen blickt, erstarrt zu Stein. Und wird später bei Sotheby’s versteigert.

Jennings haderte. Nun bekam er die Quittung für seine Hurereien. Ein Schnaps wäre jetzt gut. Doch hier auf diesem unwirtlichen Eiland gab es nur einen grausamen Engel, dessen Augen Trost spendeten und zur selben Zeit die Höllenpforten öffneten. Der Wind spie Jennings ins Gesicht, und das Kleid der Engelsgestalt flatterte. “Oh God I miss you“, drang es aus ihrem Mund, und ihr Gesicht trug keine Regung. Da gab Jennings nach. Obwohl er wusste, dass dies sein Untergang war, blickte er dem Engel ins Gesicht, es war weiß wie ihr Hochzeitskleid. Mutig ließ er sich in die Wärme seines Blicks fallen – und genoss seinen Tod. Er fühlte, wie er erhärtete. In diesem Augenblick war ihm sein Leben leicht, seine Schuld war nun beglichen. Er war dem Engel ganz nah. Jennings erstarrte.

In ferner Zukunft, am 9. Oktober 1969, wird er gefunden. Ein Forschungsschiff entdeckt acht versteinerte Schwerenöter. Weder ihre Herkunft noch ihre Todesursache können geklärt werden. Die Steinmenschen werden an Museen in aller Welt verkauft.

„White Chalk“ von PJ Harvey ist als CD und LP bei Island Records/Universal erschienen.

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Reime aus dem schwarzen Block

Die Teenie-Band Nevada Tan aus Hamburg verkündet die Revolution. Den 13-jährigen Neffen unserer Autorin überzeugt das nicht.

Nevada Tan Niemand

Eine Armee von Spielzeug-Robotern begleitet Nevada Tan durch das Musikvideo zu Revolution. „Ständig werden wir in Schubladen gesteckt, zu oft analysiert, und Fehler werden mathematisch aufgedeckt, doch eure klar definierten Zahlen auf Papier spiegeln unsere Situation doch niemals wider. Heutzutage ziehen Kids schon mit 11 Pornos aus dem Netz, Pics von toten Irak-Soldaten verbreiten sich per MMS“, rappt Timo Sonnenschein. Und weiter: „Ich geb’n Scheiß auf eure Meinung, Ihr seid nicht wie wir und werdet es nie sein (…) Wir rennen auch ohne Rückenwind durch jede Wand.“ Am Ende setzt ein lieblicher Kinderchor ein.

Nevada Tan kommen aus Hamburg, ihre Zielgruppe sind die Teenager. Sechs Jungs zwischen 18 und 20, mit modischen Frisuren und hübschen Gesichtern. In professionellen Musikvideos treten sie bisweilen auf wie der schwarze Block und rufen die Revolution ihrer Generation aus. Frank Ziegler begleitet die Raps mit sanftem Gesang. Am Schlagzeug sitzt Juri Schrewe, Bass und Gitarre bedient Christian Linke, David Bonk das Klavier und eine weitere Gitarre. Der stets vermummte DJ heißt Jan Werner. Die Sechs sind Schüler oder haben die Schule gerade hinter sich, ihre Texte klingen wie Tagebucheinträge, manchmal traurig, manchmal wütend, manchmal peinlich.

Solchen musikalischen Mischmasch aus Gitarrenklängen, Synthetischem und Rap hat man schon anderswo gehört, nicht aber in dieser Jugendlichkeit. Hier hört man ein Nirvana-Riff (Vorbei), dort grummelt es düster wie auf den späteren Alben von Oomph!. Mal erinnern die Melodien an Nena. Die gelungenen Lieder wurden an den Anfang des Albums gesetzt, ab der Mitte wird es flau. „Hol‘ Nevada Tan an Deine Schule“, warb ihre Homepage kürzlich noch. Hamburg? Schule? Nein, mit der Hamburger Schule haben sie nichts zu tun.

Ein Testanruf beim 13-jährigen Neffen: Wie findest du Nevada Tan? Geht so. Sein Freund hat sie als Vorband der Killerpilze gesehen und fand sie ganz toll. Es gebe einige Jungs, die Nevada Tan gut fänden, die Mädchen in der Klasse stünden eher auf Tokio Hotel oder US 5. Was gefällt dem Freund daran? „Die klingen ein bisschen wie Linkin Park und mischen Raps rein, mein Freund macht auch Musik. Vielleicht deswegen, weil die so jung sind und trotzdem Musik machen.“ Man unterhalte sich nicht so ausführlich darüber. Hmm.

„Ich möchte niemals so werden, niemals so werden wie du“, heißt es im Lied über den Vater, der die meiste Zeit in der Firma verbrachte und mit seiner Sekretärin ein Kind zeugte. Die sechs Musiker wollen sich nichts sagen lassen von „Schule, Eltern, Staat“. Ach, süße Jugend! Das Schlimmste kommt doch noch: Die Arbeits(losen)welt. Die Jungs ahnen es bereits, sie singen „Wir werden tagtäglich überschwemmt, von Lügen ertränkt, und merken schon früh: Wir kriegen nichts geschenkt.“

„Niemand hört dich“ von Nevada Tan ist bei Vertigo/Universal erschienen.

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Whiskey, Bier und keine Füller

Auch wenn dieses Lob gegen die zehn Gebote der Musikkritik verstößt: „Wasser kommt Wasser geht“ von Captain Planet ist die beste deutsche Punkplatte seit Langem.

Vorgestern Abend in der Wunderbar, Westerstede. Mehr schlecht als recht mühen sich zwei lokale Bands auf der winzigen Bühne ab. Die eine macht Hardrock, die andere hat gar keinen Stil. Ob man die hier kenne, frage ich meinen Stehtisch-Nachbarn. Hier in der Gegend schon, sonst eher nicht. „Aber die andere Band, die noch spielt, ist ziemlich bekannt, die kommen sogar aus Hamburg oder so.“ Sogar. In der niedersächsischen Provinz steht Hamburg für Qualität.

Die andere Band heißt Captain Planet und macht Punk mit deutschen Texten. Und Bekanntheit ist relativ. Vor zwei Jahren haben sie eine Vinylsingle mit vier Liedern veröffentlicht, Unterm Pflaster der Strand. Die erste Auflage von rund 600 Stück ist mittlerweile vergriffen, es wurde eine zweite gepresst. Sie spielen in kleinen Läden, die sind meistens voll. Auch in der Wunderbar drängen sich 60, 70 Leute zwischen Bar und Bühne. Vorne wird getanzt und mitgesungen, hinten trinkt man Whiskey und Jever vom Fass. Ein einzelner Punk im Publikum entspricht dem Klischee.

Die vier Jungs auf der Bühne tun es nicht, Punk ist heute nicht mehr die Kombination aus Musik und Mode, die er in den späten Siebzigern war. Im Jahr 2007 ist man auch mit kurzen Haaren, T-Shirt, Jeans und Turnschuhen glaubwürdig. Der Schlagzeuger Sebastian Habenicht hat heute Geburtstag, die Band hat offensichtlich riesigen Spaß am Spiel und ist dem Publikum gegenüber ausgesprochen höflich. Vielleicht weil es der letzte Auftritt einer dreiwöchigen Tour durch die Republik ist, vielleicht aber auch, weil die Musiker so betrunken sind, dass sie sich überall wohlfühlen würden. Als einzige Band des Abends bringen sie wirklich Energie auf die Bühne.

Wasser kommt Wasser geht ist das erste Album von Captain Planet. Und auch, wenn dieses Lob gegen mindestens zwei der goldenen Gebote Volker Matzkes verstößt: Es ist die beste deutsche Punkplatte seit Langem. Keines der elf Stücke klingt unausgegoren oder kompromisshaft, all killer, no filler sagt man in England. Nicht dass der Deutschpunk daniederläge, viele großartige Platten entstanden in der letzten Zeit. Im Vergleich zu Wasser kommt Wasser geht haben sie aber alle ihre – kleinen – Schwächen. Captain Planets Texte sitzen besser als die von Turbostaat. Die Lieder sind noch druckvoller als Matulas fabelhaftes Debüt Kuddel, der Gesang ausgefeilter als der auf Duesenjaegers Schimmern, die Kompositionen sind feinsinniger als die von Antitainment oder Kommando Sonnenmilch. Auch die Produktion ist brillant.

Arne von Twistern schreibt und singt kluge Texte, stellenweise schreit der Gitarrist Benni Sturm im Hintergrund die zweite Stimme. Sebastian Habenicht und Marco Heckler bauen mit Schlagzeug und Bass ein stabiles Gerüst, auf dem die beiden anderen sicher turnen. Die Gitarre malt originelle Melodien, immer wieder gibt es Tempowechsel und Brüche. Arne von Twisterns Worte sitzen, das ist das Besondere. Keine Zeile wird verschleppt, nirgendwo holpert der Vers. Gereimt wird ohnehin nicht. „Heute Nacht hab’ ich die Welt verstanden“, ruft der Sänger, „und sie mich“. Seine Texte stecken voller Erinnerungen an vergangene Sommer, ans Unterwegssein, an Menschen und Orte. Er singt vom „Kopfkissen meiner Erinnerung“, das ist keine Metapher, sondern sehr greifbar.

Das Stück Ohne Worte trägt eine Beziehungskrise in den Wilden Westen: „Zwölf Uhr mittags, am Ende der Straße scheint der Mond.“ Statt der Pistole umklammert seine linke Hand eine Bierflasche. Sie schweigen sich an: „Sieben Minuten ohne Worte, tausend Kilometer von deinem Mund zu meinem Ohr.“ Einen Gewinner gibt es nicht.

Bei Hols Stöckchen bitte klingt die gesungene Melodie ein bisschen nach Nena: „Jetzt suchen sie schon mit dem Hubschrauber nach dir, jeder Lichtkegel am Himmel, der gilt dir.“ Aber das geht in Ordnung, denn wenn Nena ein Talent hat, dann sind es schließlich die Melodien.

Viele Texte entfalten etwas Poetisches, wenn man sie einfach nur mitliest …

„Zwischen Himmel und Alster
Ein schäumendes Meer
Ein Fußballplatz im Hinterhof
Das Geld in deiner Tasche
So gut behütet und dann doch gestohlen
Im falschen Moment das Richtige getan
Und umgekehrt
Ich geh nicht mehr nach draußen
Wenn es regnet.“

… heißt es in Auftauchen um Luft zu holen.

Ein Motiv zieht sich durch beinahe alle Lieder: Wasser kommt und geht, aber meistens ist es da. In Wespenstich rieselt der Regen durch das löchrige Dach, in Ohne Worte haben die Autos Tropfen auf den Scheiben. Auch in den meisten anderen Stücken regnet es. Immerhin zweimal scheint die Sonne, so ist das in Hamburg.

„Wasser kommt Wasser geht“ von Captain Planet ist als LP und CD erschienen bei Unterm Durchschnitt.

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Kehle und Seele sind eins

Ein weltreisender junger Amerikaner nennt sich Beirut und findet eine musikalische Heimat auf dem Balkan. Seine zweite Platte ist ein Poesiealbum voller Fernweh und Pirouetten.

Beirut The Flying Club Cup

Manch einer bereitet sich im Hier und Jetzt ein warmes Nest, den Anderen zieht die Sehnsucht in die Welt hinaus. Auch da draußen im Unbekannten kann es schön sein, wartet doch allerorts Musik, die es zu entdecken gilt.

Den jungen Zachary Condon aus Albuquerque, New Mexico trieb es schon als Schüler in die Ferne: New York, Istanbul, Berlin, Amsterdam. Er musste Klänge sammeln in seinem tönenden Herbarium. Dann trug er die Samen ins Elternhaus und schüttete sie in seinem Heimstudio aus. Er sortierte sie 2006 in einem Album, nannte sich Beirut und die Platte Gulag Orkestar.

Beirut brachte fremden Wind in die amerikanische Folk-Tradition. Seine Musik erzählte Geschichten aus der Alten Welt. Er schlug Schellenkranz und Trommel, zog das Akkordeon, zupfte die Ukulele, griff in die Klaviertasten und blies das Flügelhorn. Er sang von Bratislava, Brandenburg und Postcards from Italy – und all seine Lieder schwelgten in den rotweingetränkten Klangfarben des Balkans. Dort hat er eine musikalische Heimat gefunden.

Beiruts Sehnsucht gilt nicht nur anderen Ländern, sondern auch anderen, vergangenen Zeiten. Sein neues Album The Flying Club Cup ist inspiriert von einer gleichnamigen Fotografie, die 1910 in Paris entstand. Sie zeigt eine Gruppe von Heißluftballons am Himmel vor dem Eiffelturm. Im Beiheft zur CD lässt er französische Geschichte wieder aufleben: Die Damen auf den historischen Aufnahmen tragen Charleston-Kleider, Fellstolen und Pagenfrisur. Die Herren geben sich im lockeren Kolonial-Chic, ihre Konversationen über Napoleon, Montmartre, Fuchspelze und – wie könnte es anders sein – Reisefieber und Fernweh sind abgedruckt. Ein widersprüchliches, welkes Frankreich, das hinter einem Sepiaschleier schlummert.

Dies sind also die Bilder, die Beirut in sein zweites Album geklebt hat. Seine Musik klingt noch immer, als würde sie von einer rumänischen Hochzeitskapelle gespielt, jetzt aber vor der Sacré Coeur. Zachary Condon liebt die Chansons von Jacques Brel, Charles Aznavour und Serge Gainsbourg. So ist das Ungestüme von Gulag Orkestar einer ausbalancierten Eindringlichkeit gewichen.

Beiruts Melodien sind elegisch, melancholisch und so einfach, dass die Hochzeitsgesellschaft mitsingen kann. Bei aller Weltläufigkeit schafft er eine intime Atmosphäre. Rührend ist der Charme des Imperfekten: Wenn Condon und sein Gulag Orkestar – seine neunköpfige Begleitband – sich versammeln, geht es nicht um makellose Intonation und exakte Rhythmen, sondern um Spielfreude. Die Bläser und Streicher stimmen verstimmte Chöre an, beschwingte Dreiertakte rasseln dahin. Über dem bunten Gemisch erhebt sich der Gesang Beiruts, inbrünstig und gebrochen wie sein Trompetenspiel. Die Melodiebögen fließen aus ihm heraus und verschnörkeln sich zu kleinen Melismen. Kehle und Seele sind eins.

Es ist nicht leicht, einzelne Höhepunkte auf The Flying Club Cup zu benennen. Das pluckernde A Sunday Smile, das im großen Unisono aufgeht, oder The Penalty in seiner mittelalterlichen Schlichtheit, das tänzelnde Nantes oder das alkoholisierte Forks And Knives (La Fête) … am Ende dreht die Welt Pirouetten im Rausch der Klänge, Melodien und Rhythmen.

Beiruts Musik passt in alle Epochen und an alle Orte, denn sie ist ebenso universell verständlich wie zeitlos – ein warmes Nest im Hier und Jetzt.

„The Flying Club Cup“ von Beirut ist als CD und LP erschienen bei 4AD/Beggars Banquet.

 

Frauen singen eindeutig zweideutig

Da kommen Erinnerungen auf: Das Berliner Duo Rhythm King And Her Friends wühlt lustvoll im Fundus des Post-Punk.

Rhythm King Front Of Luxury

Pauline Boudry und Linda Wölfel kommen aus Berlin. Sie nennen sich Rhythm King And Her Friends und wühlen im Fundus des Vergangenen. Wie vielen Bands aus dem feministisch-lesbischen Umfeld – man denke an Le Tigre oder Chicks on Speed – ist ihnen der Post-Punk wichtig.

In dessen Ära Anfang der achtziger Jahre eroberten Frauen die Bühnen und Aufnahmestudios, sie wollten endlich mehr als den dekorativen Platz am Mikrofon. Sie stellten männliche Mythen der Rockmusik in Frage, das verschwitzte Pochen auf Authentizität mochten sie nicht. Im Post-Punk ging es um das Entlarven der Konstruiertheit vermeintlicher Tatsachen, um das Aufbrechen von geschlechtsspezifischen und ethnischen Rollenzuschreibungen und die Kritik an der Konsumgesellschaft. Die Jungs-Band Orange Juice kultivierte auf Fotos und in Interviews ihre Schüchternheit und Verletzlichkeit. Frauen kombinierten Kleinmädchenkleider mit klobigen Stiefeln und kleideten sich so nachlässig, wie ihre männlichen Kollegen es schon immer taten. Sie experimentierten mit ihrer Musik und ihren Rollen. Post-Punk war nie ein Stil, sondern eine Explosion von Stilen. Das macht bis heute seine Faszination aus.

Viele fruchtbare aktuelle Anschlüsse an diese Ära kommen nicht von ungefähr aus feministischen Zusammenhängen. Das liegt auch am Ernst ihres Anliegens. Viele der männlich dominierten Retrobands wärmen lediglich einen alten Sound auf, abgekoppelt von seiner Bedeutung. Sie fügen der Musik nichts Neues hinzu, sondern nehmen ihr etwas – die Aussage, die Dringlichkeit, die Offenheit.

Bei Rhythm King And Her Friends ist das anders, sie rekonstruieren nicht einfach nur. Sie kombinieren auf ihrem zweiten Album The Front of Luxury gegensätzliche Klänge und transportieren so Bedeutungen. No Picture of the Hero ist ein Popsong, der Eingängiges gegen Kantiges setzt. Der elektronische Rhythmus poltert nervös, die Gitarre ist in einem Moment schroff wie bei Gang of Four und im nächsten beseelt wie bei Orange Juice. Die Scratches und der eingängige Refrain erinnern an eine zeitgenössische Frauenband, Luscious Jackson.

Rhythm King And Her Friends jagen nicht dem Zeitgemäßen hinterher, ihr Umgang mit Elektronik ist gelassen und lustbetont. Wie Le Tigre und Chicks on Speed bemühen sie ihre Synthesizer und Sampler nur, wenn sie die wirklich brauchen – und dann gern polternd und verzerrt.

Dass es hier um mehr als die Musik geht, signalisieren die parolenhaften Texte. Beim zweiten Hören verlieren sie ihre Eindeutigkeit. Im Titelstück singen sie: „We are the front of luxury / we can invent a new story / we want more desires / working like a factory“. Man kommt ins Grübeln: Ist das nun affirmativ oder widerständig?

„The Front Of Luxury“ von Rhythm King And Her Friends ist erschienen bei Kitty Yo/Cargo

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Traumberuf: Polizeitaucher

Nick Talbot zeichnet deftige Comics und schreibt ein böses Weblog. Doch wenn er für seine Band Gravenhurst die Gitarre in die Hand nimmt, wird er sanftmütig und rührend.

Gravenhurst The Western Lands

Der Engländer Nick Talbot zeichnet Comics. Im Magazin Ultraskull veröffentlicht er Bildfolgen über männliche Geschlechtsteile, explodierende Köpfe und umherfliegende Gliedmaßen. Sein Spott gilt Konservativen und Polizisten. Die Zeichnungen sind sarkastisch, wirklich komisch ist nur die Geschichte des besserwisserischen Mr. Shellac. Der Leser erfährt, welche Musik die Redaktion – die nur aus Nick Talbot besteht – gern hört, wie man jemanden gleich beim ersten Versuch richtig ersticht und Ähnliches. Nicht ohne Stolz wird auf der Website des Magazins berichtet, The Spectator fände das alles „liederlich“, der Salisbury Review nenne es „infantil“ und The American Conservative empfinde es als „beispielhaft für den moralischen Verfall unserer Zeit“. Vielleicht hat sich die Redaktion das aber auch nur ausgedacht.

Nick Talbot unterhält auch das Weblog The Police Diver’s Notebook. Regelmäßig kommentiert er die Arbeitsmarkt- und Drogenpolitik in Großbritannien, amerikanische Konservative, Bücher und Filme und Entwicklungen im Fall Lady Di. In einem aktuellen Beitrag widmet er sich kenntnisreich den Planungen einer nationalen DNS-Datenbank und der Einführung biometrischer Ausweise. Von Beruf sei er, so steht es in seinem Profil, Polizeitaucher. Sehr witzig.

Denn eigentlich ist er Musiker, unter dem Namen Gravenhurst hat er bislang vier Alben veröffentlicht. In seiner Musik offenbart sich die andere Seite des Nick Talbot. Wenn er die Gitarre in die Hand nimmt, scheint kaum mehr Sarkasmus übrig zu sein. Er singt über das entfremdete Individuum und unmögliche Beziehungen. Auf dem letzten Album hieß es im Song From Under The Arches: „I’ve seen bad things in bad places / What did I learn? Wallow in grime / Tonight we’ll drink the sewers dry / We can’t function outside of these dreams of suicide.“

Die erste Platte von Gravenhurst hieß Internal Travels und erschien im Jahr 2001. Heute ist sie nicht mehr erhältlich, Nick Talbot stört das kaum, er mag sie nicht. Wie auch das zweite Album Flashlight Seasons nahm er es alleine mit der akustischen Gitarre auf. Er sang folkige Lieder mit weicher Stimme, oft erinnerte das an Simon & Garfunkel – ohne Bombast, Streicher und anderen Kleister. Das Elektronik-Label Warp nahm ihn 2004 unter Vertrag und veröffentlichte Flashlight Seasons erneut, ohne Erfolg.

Den brachte erst die Single The Velvet Cell. Drei Monate zuvor hatte Warp Maxïmo Parks Debütalbum veröffentlicht und so auch seinen anderen nichtelektronischen Künstlern Aufmerksamkeit verschafft. MTV platzierte das Video zur Single zwischen Kaugummipop und Gangsta-Rap, eine beklemmende Animation begleitete die Worte „I had always thought the desire to kill was a disease you caught. But it’s dormant in the hearts of everyone, waiting for a spark, an emotion.“ The Velvet Cell und das anschließende Album Fires In Distant Buildings verkauften sich respektabel.

Zum ersten Mal spielte Nick Talbot nicht alle Instrumente selbst, Dave Collingwood steuerte die Schlagzeugklänge bei. Und zum ersten Mal waren elektrische Gitarren zu vernehmen. Statt dreiminütiger Folk-Kleinode schaukelten nun lange, behäbige Rocker. Die Stücke waren komplexer und lauter, Simon & Garfunkel wichen dem progressiven Rock der Siebziger. Am Ende stand eine neunminütige Coverversion des Stücks See My Friends von den Kinks. Die Grundstimmung bei Gravenhurst blieb sinister, aus Nick Talbots Stimme sprach Sanftmut. Seit zwei Jahren spielt er nebenher bei Bronnt Industries Kapital. Sie klängen, als beschalle der englische Poet Wilfred Owen die Tanzfläche eines Kerkers mit Diskomusik, schreibt die Band über sich.

Muss man das alles wissen, um Gravenhursts neue Platte zu mögen? Es hilft, sie zu verstehen. Mit The Western Lands hat Nick Talbot den Klang seiner Band weiter verändert. Von den Siebzigern bewegt er sich nun klanglich zu Anti-Folk und Post-Rock, die erste Single Trust könnte auch von Yo La Tengo sein, der lange Instrumentalteil in She Dances erinnert an The Notwist. Wieder hat er, abgesehen vom Schlagzeug, alle Instrumente selbst eingespielt. Er geht behutsamer zu Werk als auf Fires In Distant Buildings, ohne zur Zerbrechlichkeit der ersten beiden Alben zurückzukehren. Die meisten Stücke sind ruhig, immer mal wieder fahren eine Gitarre oder ein Klavier dazwischen, im furiosen Finale von She Dances sogar beide. The Western Lands klingt warm und kompakt. Seine Kompositionen sind fabelhaft.

Verstreut über die Stücke finden sich kulturelle Bezüge, die zweite Single Hollow Men spielt auf T. S. Eliots The Hollow Men an, das Motto der Platte zitiert er nach Oscar Wilde: „Give a man a mask and he will tell you the truth.“ Der Song Among The Pine klingt nach einer Fortführung des bereits angesprochenen Song From Under The Arches. Und mit Farewell, Farewell covert er diesmal die britischen Folkrocker Fairport Convention.

Die Menschen in seinen Liedern leben in der Welt, die er in seinem Blog täglich kommentiert. Ihnen wurde die Freiheit genommen, wie dem Mädchen in She Dances. „’I need new clothes‘, she thinks, ’new skin; a mind I can bear to live in‘.“ Dass er in seiner Musik dieser Welt ohne Zynismus begegnet, macht das Album berührend.

„The Western Lands“ von Gravenhurst ist als CD und LP bei Warp Records erschienen.

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Liebesbriefe nach Kanada

Der Jazzpianist Herbie Hancock bewundert die Popsängerin Joni Mitchell. Er hat ihr sein neues Album gewidmet und Norah Jones, Tina Turner und Leonard Cohen ans Mikrofon gebeten.

Hancock River

Wenn man von Nordamerika spreche, dann müsse man von den Unterschieden zwischen US-Amerikanern und Kanadiern sprechen, sagt Herbie Hancock. Die US-Amerikaner seien selten wirklich nett, die Kanadier hingegen bezeichnet er als liebenswert und friedfertig. Joni Mitchell ist Kanadierin, ihr hat er seine neue CD gewidmet. Acht der zehn Stücke auf River: The Joni Letters sind von ihr. Die beiden kennen sich schon lange, im Jahr 1979 waren sie für die Platte Mingus zum ersten Mal gemeinsam im Studio.

In ihren Gedichten und Liedtexten berichtet Joni Mitchell von dem, was sie durchlebt hat. Wie sie als 21-Jährige ihre Tochter zur Adoption freigab und später wiederfand. Die Geschichte ihrer kürzlich verstorbenen Mutter. Wie ihr eine Wahrsagerin während des 2. Weltkriegs prophezeit hatte, dass sie binnen eines Monats heiraten würde. Tatsächlich traf sie einen Soldaten auf Heimaturlaub, ein Jahr später wurde ihre Tochter geboren. Herbie Hancock sagt, Joni Mitchell ließe das Publikum an ihren Erfahrungen teilhaben, sie versuche, eine Gemeinsamkeit herzustellen zwischen Künstlern und Menschen, die ein normales Leben führten. Es gehe ihr um die Gebote der Menschlichkeit.

Joni Mitchell ist eine enttäuschte Frau. Hancock versteht sie. Die Menschheit sei in großer Gefahr, man müsse neue Wege des respektvollen Zusammenlebens finden. Ihm ist sie eine Heldin. Sie sei niemand, der das Scheinwerferlicht suche, sondern eine starke Frau, die für ihre Überzeugungen kämpfe.

Auf seiner neuen CD interpretiert er Wayne Shorters Komposition Nefertiti, einen Klassiker aus Hancocks gemeinsamer Zeit mit dem Saxofonisten im Miles-Davis-Quintett der sechziger Jahre. Es sei eines der Lieblingsstücke Joni Mitchells, berichtet er. Jetzt spielt er es noch einmal mit seinem Freund Shorter. Wo im Original vor 40 Jahren ein Schlagzeugsolo pulsierte, ruhen nun Melodie und Klangaura. Joni Mitchell hatte Shorter häufiger zu Plattenaufnahmen eingeladen.

Herbie Hancock ist mittlerweile 67 Jahre alt. River: The Joni Letters ist seine erste Platte, auf der die Texte eine Rolle spielen. Die Arbeit an dem Album sei eine Herausforderung gewesen, erzählt er. Es sei ihm darum gegangen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Musik die Hörer dazu motiviere, auf die Worte zu achten. Deshalb spielte er die Lieder langsamer ein als Joni Mitchell. Sie wirbelte damals ihre tiefgründigen Texte um sich, hier wäre das auf Kosten der Inhalte gegangen. Dadurch, dass er die CD wie eine imaginäre Filmmusik zu ihrem Werk anlegte, schuf er Raum. Weniger ist mehr, das war sein Motto.

Hancock singt die Stücke nicht selbst, er überlässt prominenten Gästen den Platz am Mikrofon: Norah Jones, Tina Turner, Corinne Bailey Rae, Leonard Cohen. Zu den herausragenden Momenten der CD gehören Hancocks Solo in The Jungle Line – Leonard Cohen spricht den Text ein – und Norah Jones’ Gesang bei Court and Spark. Und natürlich das Stück The Tea Leaf Prophecy, das Joni Mitchell selbst singt.

„River: The Joni Letters“ vom Herbie Hancock ist erschienen bei Verve/Universal.

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Mädchenmusik mit Falten

Der Name der Band klingt nach elektronischer Fummelei. Doch aus dem Brockdorff Klang Labor swingt Pop, locker wie ein Faltenrock beim Tanz.

Brockdorff Klang Labor Mädchenmusik

Drei junge Menschen aus Leipzig haben schon viel erlebt. Sie durchstreiften die Kulturwissenschaften und die Tanzdielen, die Musiktheorie und den Elektro-Feminismus, den Journalismus und die Informatik, die Poesie und das bunt gemischte Instrumentarium aktueller Popmusik.

Das Brockdorff Klang Labor entstand in einer Wohngemeinschaft in der Leipziger Erika-von-Brockdorff-Straße, benannt nach einer Widerstandskämpferin im Nationalsozialismus. Nadja von Brockdorff nennt sich so schillernd wie bedeutungsschwer die Sängerin und Gitarristin. Sergej Klang ist der Bastler der Rhythmen und Worten und gibt den singenden Sequenzer. Ekki Labor lässt die Synthesizer und den Moog-Bass zwitschern und leiht seine Stimme dem Chor.

Mädchenmusik heißt die CD, frisch geht das Trio zu Werk. „Frohe Schritte nähern sich, singen zieht über die Stadt“, der Refrain des ersten Stücks und das Vorwärts aus der Rhythmusmaschine klingen nach Wandervogelbewegung und Jugendweihe. Doch es ist das wilde Nachtleben gemeint: „In Kellern voll Rauch marschiert der House / Brich mit mir den Rhythmus dieser Stadt… Und im Tanz, da sind wir eins / Und am Morgen wieder entzweit.“ Raffiniert schüttelt das Trio den Staub aus allen historischen Andeutungen zu Diskorhythmen. Oder setzt sie, wie im Stück Wenn du willst, zu teils erfundenen Anekdoten neu zusammen. Im Auf und Ab der feierlichen Erwartungen und der Ernüchterung am Morgen danach spiegeln sich revolutionäre Sehnsüchte als modernes Trugbild, Pop und Glamour sind heute Aufbruch und Routine zugleich.

Die leicht verworrene Alltagspoesie der Texte ergäbe auf dem Papier vielleicht nicht viel mehr als Studentenlyrik, wären nicht auf der CD allerlei kuriose, im Originalton wiedergegebene Zitate und vor Selbstironie triefende Prologe und Zwischenrufe zu hören. „Aber dient denn da die Sprache noch als Kommunikationsmittel?“, tönt eine seriöse Stimme.

Auch musikalisch ist das naive Schema der fiepsenden Knöpfchenelektronik gepaart mit dem Charme funkensprühender Chansonkunst nicht so unbedarft wie es scheint. Jedem glucksenden Plopp und Boing sitzt ein Schalk aus versteckten Kommentaren im Nacken. Um sie zu hören, muss man die CD ganz durchlaufen lassen, denn sie sind in den Leerlauf zwischen den Stücken eingearbeitet. Und schnell sein, die Fetzen bekannter Melodien von Velvet Underground, Pulp, Stereolab fliegen am Ohr vorbei. Noch bevor entschieden ist, ob das gerade eben The Trashmen oder doch The Cramps waren, beginnt Nadja von Brockdorff schon vom Breakfast for Cyborgs zu singen: „Ich bin das Opfer, ich bin die Verfolger, ich bin sie / Im Zentrum meiner Ironie.“

In Anlehnung an Gilles Deleuzes Abhandlung Le Pli (Die Falte) könnte man diese Technik verborgener Zitate Plissee-Pop nennen. Die Drei vom Brockdorff Klang Labor bügeln ihre Songs in Musikmaschinen zu großen Falten und kleinen Rüschen, und darunter, in der Vertiefung, liegen die kurzen Gewebefäden alter Originale. Schließlich lassen sie den Faltenwurf der Geschichte in ein Cover des The Smiths-Hits Some Girls Are Bigger Than Others auslaufen.

Im Stück mit dem Refrain „I kill the creatures in my alphabet“ spuken die gerufenen Geister als Buchstaben- und Zahlensalat herum. Wie ein Denksportgenie, das sich Zahlen- oder Wortkombinationen in figürlichen Bildern merkt, scheucht Nadja von Brockdorff sie zurück in eine alphabetische Ordnung. Inmitten einer düsteren Zukunftsballade wiederum steckt der Vers „Wähl ein Klischee, wie die Welle im Delay“, als wolle die Sängerin damit zusammenfassen, dass Pop nicht alles sei und elektronische Musik nicht die bessere Alternative und dass sowieso nur zähle, was einen berührt. Eine trefflichere Retourkutsche auf Julis nervige Schlagerzeile „Das ist die perfekte Welle“ wird es erstmal nicht geben.

Neben Nadja von Brockdorffs Lady-Charme setzt Sergej Klang als zweiter Sänger seinen spitzfindigen Humor. In heiter absteigender Melodie zitiert er Altmeister Leonard Cohen: „Let’s sing another song boys, this one has grown old and bitter.“ Hier klingt es wie eine Aerobic-Anweisung gegen Depressionen. Auch im nächsten Lied geht es bewegt zu, „Vorwärts, seltsame Höhen, rückwärts, seltsame Tiefen“, und unterwegs ein Rap-Intermezzo.

Das glitzernde Schlusslicht bildet das Titelstück Mädchenmusik, die Sängerin wirft sich im Duett mit Jens Friebe in ihr Element. Er textete hierfür einen Eurodisco-Knaller der Gruppe Baxendale zum Kirmes-Schlager um, der einen das Fliegen im Kettenkarussell der Jugenderinnerung lehrt. Jens Friebe stellte auch den Kontakt zur Plattenfirma ZickZack her. Produziert wurde Mädchenmusik von Tobias Levin.

Mitten in die historische Schwere eines Stadtbildes hinein proklamiert das Brockdorff Klang Labor eine Leichtigkeit des Seins, die sich hier und an ähnlichen Orten popkulturell nicht unbedingt aufdrängt. Mädchenmusik für alle Geschlechter, sie zaubert hübsche Falten auf die Denkerstirnen und lässt plissierte Röcke im Takt wippen.

Das Album „Mädchenmusik“ der Band Brockdorff Klang Labor ist erschienen bei ZickZack

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Freudlos glücklich

Über die Jahre (26): Anfang der Neunziger bremsten Codeine die Rockmusik. Schleichend, tranig und zäh wirkt ihr klingendes Schmerzmittel an trüben Tagen

Codeine White Birch

Sonntag. Auch nicht immer schön. Draußen rauscht der Herbst heran, der Wind rüttelt an Fenstern, Regen trommelfeuert aufs Dach. Die Tage sind kürzer und die Nächte kälter. Man liegt im Bett schweren Mutes und Kopfes und wünscht sich, jemand möge endlich den intravenösen Bali-Urlaub erfinden und das sofort. Drumherum bläht sich das Leben auf. Sieht finster aus: Der Kaffee ist alle, die Heizung steht auf drei, statt Tatort Kommunalwahl, und wo ist das ganze Geld geblieben? Und, schrecklassnach, mit wem ist eigentlich die Liebste gestern abend abgezogen? Schnell die Bettdecke über den Kopf. Doch zuvor zum Plattenspieler.

Denn es gibt sie, die entsprechende Musik zu solchen Momenten. Das Trio, das sie spielt, kommt aus New York und könnte nicht besser heißen: Codeine. Wie das Schmerzmittel. Nur rezeptfrei. Auf dem Beipackzettel sollte stehen: Bitte alleine hören, bittebitte in moderater Dosierung und bittebittebitte niemals in glücklichen Augenblicken einnehmen. Das geht schief. Am Schluss folgender Nachsatz: „Die Platte gehört so, also Finger weg vom 45-Knopf!“

Sie sind wirklich bedächtig, gemächlich, kriechend, säumig, schläfrig, schleichend, schleppend, stockend, tranig, zäh, zaudernd, zögernd. Auf diese Weise bremsten Codeine den Rock, der ehedem besinnungslos im Grunge taumelte. Das war 1991. Sie schafften nur zwei Alben. Nach ihnen kamen Bands wie Slint, Low oder June of 44. Die Stücke auf Codeines letztem Album The White Birch aus dem Jahr 1994 sind nicht bloß ein paar Rocknummern in Zeitlupe, sondern wohl durchdachte Spiele mit der Weitläufigkeit.

Ihre Kompositionen sind luftig, oft vergeht viel Zeit zwischen einem Snare-Schlag, einem zart gestrichenen Becken, einem Akkord. Dazwischen brummt der Bass von Stephen Immerwahr. Er singt. So bedächtig die Töne inszeniert sind, so sparsam ist er auch mit Worten. Keine Liedtexte, eher Textminiaturen. Das Siebenminutenlied Sea besteht aus acht Sätzen, die Immerwahrs nasale Stimme singt, die immer etwas beiläufig klingt – man möchte beinahe sagen: resigniert. Als quäle auch ihn ein Brummschädel. Er dehnt sie, die Silben, oft über einen ganzen Takt, eine Ewigkeit, hinein in den Nachklang des Schlagzeugs und der Gitarre, die mal wieder pausiert.

Aufmunternde Worte findet er nicht. Nur Ernüchterung. „Now things taste kind of bitter. Two muddy shoes far from home, far from home“, singt Immerwahr im schütteren Loss Leader. „Can’t watch the trees, can’t go outside, don’t go outside“, heißt es in Ides. Der Hörer steckt den Kopf kurz heraus aus der Bettdecke und denkt: Ich auch nicht.

Die Uhr tickt, die Platte knistert, und trotzdem steht die Zeit. Es knallt die Snare, der Bass schnarrt, die Gitarre schallt. In Moll trottet das Trio durch neun Lieder. Gesenkten Blicks. Immer? Fast. Denn plötzlich schäumen sich die Töne auf, raus aus dem Standgas, der Verzerrer wird zugeschaltet, das Becken schneidet, da brandet etwas hoch, lauter wird’s, fast zornig, gleich platzt es, da geht was zu Bruch, kommt die Katharsis, der erlösende Refrain, das Pathos, Schalala-Dur, jetzt, jeeeetzt, jeeeeeeetzt – und:

Pffffff. Alles angetäuscht. Schaumschlägerei. Das Lied fällt in sich zusammen, franst erneut aus, es geht wieder zurück in die repetitiven Klangmuster. Die Snare knallt, das Becken haucht, die Gitarrenklänge irrlichtern durch den verschneiten Birkenwald auf dem Plattencover.

Im Bett wieder Ruhepuls, Sonntagspuls. Man zieht die Decke höher.

Vor die Tür kann man ja auch morgen.

„The White Birch“ von Codeine ist im Jahr 1994 bei Sub Pop erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(25) The Smiths: „The Queen Is Dead“ (1986)
(24) Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (1980)
(23) Sister Sledge: „We Are Family“ (1979)
(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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