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Aus U und E wird Ü

Seit einigen Jahren lässt die Deutsche Grammophon ihre Klassik auf Pop trimmen. Die Technoproduzenten Carl Craig und Moritz von Oswald nahmen sich nun Ravel und Mussorgsky zur Brust

Begegnen sich Klassik und elektronische Clubmusik, reagieren Puristen meist skeptisch. Dabei besteht – anders als in der Rockmusik, in der das Orchester vor allem Schmuck ist – hier noch eine ästhetische Übereinkunft. Beide Stilrichtungen sind gleichermaßen an Klangforschung und an Texturen interessiert, die mit Hörgewohnheiten brechen. Beiden wohnt das Eigenbrötlerische inne und die ewige Last, sich nur dem Fachpublikum wirklich zu öffnen. Trotz gegenseitigen Respekts und dieser Gemeinsamkeiten gehen Klassik und Clubmusik sich lieber aus dem Weg. Umso erfreulicher ist es, wenn jemand den Graben überwindet.

Die Serie Recomposed der Deutschen Grammophon basiert auf der Idee des Brückenschlags. Die Reihe soll Klassik clubtauglich machen. Angesagte Pop-Produzenten dürfen sich Stücke aus dem Katalog des Klassiklabels aussuchen und sie neu mischen. So bearbeitete bereits der Hamburger Produzent Matthias Arfmann Aufnahmen der Berliner Philharmoniker, und der finnische Techno-Kabarettist Jimi Tenor tobte sich an Werken der Neuen Klassik aus.

Die dritte Ausgabe der Serie bestreiten nun die Technoproduzenten Carl Craig und Moritz von Oswald. Ein Coup der Deutschen Grammophon, zu Recht gelten sie als zwei der wichtigsten Protagonisten der elektronischen Tanzmusik. Mit seinen experimentellen Stücken zwischen Techno, Jazz und Soul prägte Carl Craig aus Detroit das Genre, Moritz von Oswald erfand im Berlin der frühen neunziger Jahre den Dub-Techno und veröffentlicht auf dem Label Rhythm & Sound minimale Bassmusik zwischen Roots-Reggae und Dub. Zusammen bearbeiten sie nun Maurice Ravels Bolero und seine Rhapsodie Espagnole, sowie Ausschnitte aus dem Zyklus Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgsky und reduzieren sie auf minimale Erkennungsmerkmale, kombiniert mit eigenen Klängen. Das Ergebnis ist ein in sich geschlossenes Musikstück in sechs Sätzen.

Oberflächlich betrachtet haben Vorlage und Neubearbeitung nicht viel gemein. Zu Beginn der Re-Komposition steht eine sanft gleitende Einleitung melancholischer Synthesizer-Akkorde. Erst nach vier Minuten schält sich der markante Rhythmus des Bolero heraus. Die Musiker lassen sich viel Zeit: Sparsam eingesetzte Elemente geraten erst nach und nach in Bewegung, einzelne Klänge treten hervor, etwa die Solotrompete aus Mussorgskys Bilder einer Ausstellung.

Das endlose Steigerungsprinzip der Kompostion Ravels betonen Carl Craig und Moritz von Oswald, indem sie mikroskopische Klangeinheiten immer wieder neu kombinieren. Erst mit dem Einsatz der Basstrommel verlässt der Bolero das klassische Terrain – er ist zu einem treibenden Technostück mutiert, dessen repetitive Klänge sich ineinander schrauben. Die Parallelen zwischen U- und E-Musik sind hörbar – nahezu unbemerkt haben die beiden Arrangeure die Clubmusik mit der abendländischen Klassik in Einklang gebracht.

Erst im fünften Satz sind die Originalaufnahmen der Berliner Philharmoniker zum ersten Mal deutlich zu hören. Dunkel und schwer arbeitet sich das Prélude A La Nuit der Rhapsodie vorwärts, Carl Craig und Moritz von Oswald setzen es mit Pausen und Hallschleifen effektvoll in Szene. Die Musiker schaffen einen faszinierenden Spannungsbogen, das geheimnisvolle Motiv dreht sich um sich selbst, und mündet schließlich in einen fiebrigen Dub-Techno.

Im letzten Satz kommt die Re-Komposition wieder zur Ruhe: Die Orchesterspuren kreisen wie hungrige Vögel über afrikanischer Perkussion. Das Experiment endet offen, Carl Craig und Moritz von Oswald improvisieren mit elektronischen Klängen und rhythmischen Effekten. Der Klang verhallender Trommeln beschließt die Platte, das ist schlüssig. Schließlich haben Trommeln noch jeden musikalischen Graben überwunden.

„Recomposed“ von Carl Craig & Moritz von Oswald ist bei Deutsche Grammophon/Universal erschienen.

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Biene Maja auf der Überholspur

Das Mühlheimer Quartett Bohren & Der Club Of Gore zelebriert die gruselige Langsamkeit. Auch auf „Dolores“ musizieren sie mit unendlicher Geduld. Und doch, es hat sich etwas Neues eingeschlichen

Die Angst kommt in Gestalt einer übernächtigten Jazz-Kombo. Das Klavier und das Vibrafon spielen geisterhafte Töne. Hin und wieder legt sich ein sanft geblasenes Tenorsaxofon über das knochige Gerüst aus Schlagzeug und Kontrabass. Aus den Schatten kriecht der Klang einer Orgel. Die schaurigen Melodien erzählen vom Abstieg in einen Abgrund.

Das Mühlheimer Quartett Bohren & Der Club Of Gore zelebriert die Langsamkeit. Scheinbar endlos dehnen sich die Lieder, bis am Ende nur noch der Bass düstern summt. Sie überwinden die kitschige Trägheit des Lounge-Jazz, indem sie ihn bis ins Extrem verlangsamen. Ihre Musik funktioniert wie ein guter Horrorfilm, der im Moment des Schreckens die Zeit still stehen lässt. Sie bildet das nackte Grauen musikalisch ab. Zu dieser Musik lässt man am besten die Rolläden herunter.

Bohren & Der Club Of Gore klingen so unheimlich, weil sie den wärmenden Klang einer Jazz-Kombo umkehren. Vertraute Instrumente wirken plötzlich bedrohlich. Wie lustvoll und genießerisch das Quartett dabei zu Werke geht, zeigen die Titel mancher Stücke: Constant Fear, Skeletal Remains oder On Demon Wings, solche Namen schreibt man eher zünftigen Todesmetallern zu.

Auf ihren Platten wühlt die Band in Gebeinen und feiert die Schönheit von Särgen. Stalker und Schlitzer wandeln durch die geschwärzten Klanglandschaften. Erleuchtet wird diese Halbwelt von den Schaufenstern der Waffengeschäfte und Bestattungsinstitute. Mit jedem Album begeben sich Bohren und sein Club tiefer in den Schlund des Grauens. Maximum Black lautet ihr Motto.

Fünf Alben hat die Band in den Jahren seit 1994 eingespielt. Auf dem vorletzten – dem abstrakten Konzeptalbum Geisterfaust – hatte sie das Tempo noch einmal drastisch verlangsamt. Die Musik war nun beinahe zum Stillstand gekommen. Angesichts dieser Verschleppung erschienen selbst tektonische Erdverschiebungen als rasantes Spektakel. Mit Geisterfaust war das letzte Fünkchen Wärme aus der Musik gewichen: Hier regierte der Horror mit eiskalter Knochenhand.

Das neue Werk Dolores klingt, wie Bohren & Der Club Of Gore eben klingen müssen. Mit unendlicher Geduld malen sie in den für sie typischen Klangfarben, sie bleiben unverwechselbar. Und doch hat sich etwas Neues eingeschlichen, winzige musikalische Veränderungen sind zu vernehmen. Da ist eine Kirchenorgel, die der Musik Erhabenheit verleiht. Da scheinen menschliche Stimmen durch die dichten Arrangements zu wehen – es ist der Vocoder des Bassisten Morten Gast.

Dolores klingt aufgeräumt und konzentriert, nur noch selten schleichen die Töne dermaßen in Zeitlupen aus den Lautsprechern, wie noch auf Geisterfaust. Bohren & Der Club Of Gore beschleunigen und spielen nun so etwas wie Filmmusik, jedes Stück erzählt eine Geschichte, beschreibt ein Bild. Die Melodien sind greifbar geworden, das liegt auch an der überschaubaren Spieldauer der Stücke. So nah am Pop waren Bohren & Der Club Of Gore noch nie.

Die eiskalte Unerbittlichkeit von Geisterfaust hat sich in zerbrechliche Melancholie verwandelt. Lakonisch klingen die Soli des Saxofonisten Christoph Glöser, auch manch schrulligen Witz wagen sie: Ein Stück heißt Schwarze Biene (Black Maja), ihre Hommage an Lurchi nennen sie Unkerich. Keine Angst, von einer neuen Leichtigkeit kann man hier nicht sprechen, denn mit Liedern wie Welk und Welten haben Bohren & Der Club Of Gore auch einige schwarze Monolithen in den Raum gestellt.

Auch wenn auf Dolores hin und wieder das Tageslicht aufblitzt: Die Rolläden werden noch lange unten bleiben.

„Dolores“ von Bohren & Der Club Of Gore ist auf CD und Doppel-LP bei PIAS/Rough Trade erschienen.

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Zu Fuß durch halb Europa

Der britische Rapper Mike Skinner alias The Streets war kürzlich etwas außer Form. Mit “Everything Is Borrowed” ist er zur Besinnung gekommen – und plappert gut gelaunt vor sich hin

The Streets Everything Is Borrowed

Mike Skinner ist dann mal weg. Auf der Hülle seiner neuen Platte Everything Is Borrowed ist er schon nicht mehr zu sehen. Das Büchlein zur CD kann man noch so oft durchblättern: Der Mann, der sich The Streets nennt, hat sich dünne gemacht. Stattdessen sind Bilder von Steinwüsten und Schneeschmelze zu sehen.

Seine Flucht ist verständlich. Auf dem Vorgängeralbum The Hardest Way To Make An Easy Living hatte sich Skinner an einem Psychogramm über die Last der Prominenz versucht. Die Platte klang angestrengt und zynisch, Skinners Ideen waren allenfalls passabel. Er schien sich nur um sich selbst zu drehen. Statt über Fish & Chips und verunglückte Liebschaften rappte er nun über Religion und Amerika. Ausgerechnet er, der mit seiner ersten Platte Original Pirate Material im Jahr 2002 das Geplapper der britischen Vorstadtjugend zur Kunstform erhoben hatte. The Streets steckten in einer Einbahnstraße.

Groß ist daher das Glücksgefühl, dass sich mit dem ersten Tönen von Everything Is Borrowed einstellt. Alles scheint wieder an seinem richtigen Platz zu sein. Auch das Geplapper funktioniert wieder einwandfrei. Mike Skinner ist in Hochform, The Streets kriegen noch mal die Kurve. Knappe vier Minuten dauert es, da knallt der erste Hit aus den Lautsprechern: „I wanna go to heaven for the weather and hell for the company“, jauchzt der Chor.

Everything Is Borrowed ist Mike Skinners reifste Platte. Dass der 29-jährige Rapper aus Birmingham einst als Hoffnungsträger der britischen Garage- und Grime-Szene galt, lässt sich kaum noch erahnen. Von den monströsen Bassläufen und hektischen Breakbeats des genialen Debütalbums ist nichts mehr zu hören. Nur vereinzelt bäumt sich der Rhythmus auf, schlägt die Rotzigkeit der frühen Tage durch. Skinner bringt echte Instrumente zum Klingen, ein Klavier, Bläser, eine Mandoline und eine Hammondorgel, bei vielen Stücken ist er selbst an der Gitarre zu hören. Auch das Orchester kommt diesmal nicht aus dem Laptop, sondern aus Prag. Der Aufwand macht sich bezahlt: Zum ersten Mal klingen The Streets nicht wie ein Ein-Mann-Projekt, sondern wie eine Band. Mike Skinner und seine Musiker spielen lässigen Swing und Jazz-Funk, als hätten sie nie etwas anderes getan. Auf The Strongest Person I Know singt er sogar gewohnt ungelenk zur Harfe. Das kammermusikalische Liebeslied gehört zu den Höhepunkten der Platte.

Als seien Unsicherheit und Paranoia über Nacht von ihm abgefallen, rappt Skinner Zeilen wie „I came to this world with nothing / And I leave with nothing but love“. Das klingt fast ein bisschen altersmilde, aber er hat einfach nur sehr gute Laune. Selbst wenn er wie auf Way Of The Dodo über die Klimaerwärmung rappt, kann er sich die Albernheiten nicht verkneifen. Aufgeräumt und entspannt klingt die Platte. Auffällig ist vor allem, wie sehr sich Skinner zurückhält. Oft überlässt er dem Chor oder seinen Gastsängern den Vortritt. Als hätte es nicht mehr nötig sich in den Vordergrund zu drängeln, konzentriert er sich auf das Erzählen der Geschichten. Und die handeln diesmal nicht von Abstürzen, Einsamkeit und falschen Freunden. Auf Everything Is Borrowed kommt Mike Skinner zur Besinnung. Es ist ein Album der inneren Einkehr geworden.

An keiner Stelle wird dies so deutlich wie im letzten Stück der Platte. Den großen Abspann beherrscht er perfekt: The Escapist ist ein epischer Kreuzgang, ein wahrer Befreiungsschlag. Der Gospelchor schmettert, das Orchester schwelgt in luftigen Höhen. Dazu rappt Skinner einen seiner besten Texte: „I’m not trapped in a box, I’m glancing at rocks / I am dancing off docks / Since this dance began / Thats where I am“. Im Video läuft Mike Skinner zu Fuß durch halb Europa. Auf dem Weg zu sich selbst, aber dabei schon ganz weit weg. Seine nächste Platte solle die letzte sein, sagt er.

„Everything Is Borrowed“ von The Streets ist bei Warner Music erschienen.

Mehr zum Album hören Sie am Freitag, den 26. September, von 14 bis 16 Uhr in der Sendung „Neuland“ auf ByteFM. Hier öffnen Sie den Livestream »

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Im Schein zweier Monde

Während im Club die letzten lauten Töne poltern, begibt sich Morgan Geist mit „Double Night Time“ auf einen Streifzug durch die Nacht

Jeder kennt das Gefühl: Die Party ist vorbei, fröstelnd steht man auf der Straße. Die Musik ist aus, die Kleidung klebt auf der schweißnassen Haut. Wo eben noch viele Menschen waren, ist man nun allein. Der Heimweg führt durch die nächtliche Stadt. Der Wind weht den Geruch von Feuer über den Asphalt. Die Stadt ist ein Labyrinth, bedrohlich und anziehend zugleich. Man möchte darin verschwinden, in den dunklen Straßenschluchten unsichtbar werden.

Diesem Gefühl hat der New Yorker Morgan Geist sein neues Album gewidmet. Auch auf Double Night Time ist es Nacht. Bereits mit seinem Projekt Metro Area hat er Tanzmusik für die schattigen Momente im Club produziert. Aber wo Metro Area noch die Discokugel aufblitzen ließen, gehen auf Double Night Time die Lichter ganz aus. Während in den Clubs die letzten lauten Töne poltern, begibt sich Morgan Geist schon auf seinen einsamen Streifzug.

Im Moment der Ekstase liegen Glücksgefühl und Melancholie nah beieinander. Morgan Geist beschwört diese Uneindeutigkeit immer wieder herauf. Die minimalen Kompositionen strahlen Sehnsucht aus: Hier wird ein Klavierlauf angedeutet, dort erschallt eine verwaiste Jazztrompete. Die Rhythmen und der spröde Bass schieben sich unaufdringlich nach vorn. Double Night Time ist eine Platte von unterkühlter Eleganz, glasklar und koordiniert klingt die Musik.

Dabei ist es kein Techno- oder Disco-Album. Die neun Stücke verweisen auf Italo-Disco und Dance-Pop, streifen New Wave und zickigen Elektrofunk. Viele Stücke sind tanzbar, auch wenn man nach wenigen Minuten beunruhigt die Tanzfläche verlässt. Immer wieder schleicht sich ein finsterer Unterton ein. Selbst auf einem charmanten Disco-Stück wie Most Of All rasseln die Streicher wie in den Filmen Alfred Hitchcocks, während Skyblue Pink mit seinen gespenstischen Klängen Erinnerungen an die Musik aus Blade Runner weckt.

So hätte Double Night Time eine bedrückende Angelegenheit werden können, wäre Morgan Geist nicht ein unverbesserlicher Romantiker. Vielleicht wartet in der Dunkelheit ja eine Bekanntschaft, die alles verändert. Vielleicht verbirgt sich hinter einem der erleuchteten Fenster die wahre Liebe. „What if I flew to you through the sky / What would you do?“, singt Jeremy Greenspan im Lied The Shore. Das ist Kitsch – aber er macht die Melancholie, die Double Night Time durchweht, erträglicher. Und so muss man sich nach dieser Sternenfahrt um das Einschlafen keine Sorgen machen. Nach einem geschmackvolleren Schlummerlied als Lullaby wird man jedenfalls lange suchen müssen.

Zwischen Melancholie und Romantik ist das Album auch eine Hommage an die großen Zentren der Tanzmusik. Der melancholische Techno aus Detroit, der urbane Glamour New Yorks und Chicagos schwüle Euphorie – hier kommen sie alle im Schein zweier Monde zusammen. Der nokturnen Stadtrundfahrt leiht Jeremy Greenspan, der Sänger der kanadischen Band Junior Boys, seine Stimme. Er verbindet die Stücke, er gibt dem Album das rettende Fünkchen Wärme, bevor es endgültig von der Einsamkeit verschluckt wird. Auf Liedern wie Ruthless City und dem famosen Detroit klingt Greenspan wie einer, der sich auf allen Tanzböden der Welt herumgetrieben hat und sich nun müde auf die dunkle Rückbank eines Taxis flüchtet.

Im Klang seiner Stimme scheint die Nacht niemals zu enden. Doch dann tauchen am Horizont plötzlich die Lichter der Stadt auf. „Detroit…“, seufzt er erleichtert. Langsam wird es hell. Die Party geht weiter.

„Double Night Time“ von Morgan Geist ist bei Environ/Alive erschienen.

Mehr zum Album hören Sie am Donnerstag, den 25. September, von 22 bis 23 Uhr in der Sendung „60 Minutes“ auf ByteFM. Hier öffnen Sie den Livestream »

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Ein Engel fällt vom Surfbrett

Über die Jahre (41): Dennis Wilson spielte Schlagzeug bei den Beach Boys. Ende der Siebziger löste er sich mit dem Solo-Album „Pacific Ocean Blue“ aus dem Schatten seines genialen Bruders Brian

Dennis Wilson erzählte seinem Bruder Brian oft vom Strand, wenn sie gemeinsam in ihrem Zimmer saßen. Brian hörte gut zu und schrieb seiner Band kleine Lieder über Wellen, Autorennen zum Hamburgerstand und Mädchen im Bikini. Die Brüder spielten bei den Beach Boys, ohne Dennis‘ Erzählungen hätten deren Miniatur-Symphonien wohl von etwas anderem gehandelt. Er könne nicht verstehen, weshalb nicht jeder am Ozean leben wolle, sagte Dennis Wilson einmal. Wenn sein Bruder sang „Catch a wave and you’re sitting on top of the world“, dann wusste nur Dennis Wilson, was gemeint war. Er war der einzige Beach Boy, der surfen konnte. Ohne ihn wären die Strandjungs einfache Jungs geblieben.

Dennis Wilsons Schlagzeugspiel prägte den Klang der Band, als Sänger blieb er im Hintergrund. Während die glockenhellen Stimmen seiner Brüder Brian und Carl sich in komplexe Harmonien verschränkten, brummte Dennis kaum vernehmbar. Er fiel auch sonst aus der Reihe: Verkörperte der Rest der Band das amerikanische Ideal netter Jungs, trat Dennis als unangepasster Surfertyp mit Herz auf. Er war das Sexsymbol der Beach Boys. Ende der sechziger Jahre schrieb er der Band seine ersten Lieder. Gegen das Genie seines Bruders Brian konnte er nicht ankommen, dennoch waren Dennis‘ gefühlvolle Stücke Forever und Little Bird sehr beliebt. Als die Beach Boys im konventionellen Oldie-Karussell endeten, ragten einzig seine Lieder heraus.

Brian Wilson verabschiedete sich langsam aus der Realität, und auch Dennis kämpfte mit dem südkalifornischen Irrsinn: Seine Stimme ruinierte er mit Alkohol, er häufte Spielschulden an und quartierte Charles Mansons Clique bei sich ein. Während mancher Konzerte der Beach Boys rannte er nackt über die Bühne. In dieser Zeit begann er, die Lieder seines Solo-Albums zu schreiben. Ideen trug er zuhauf mit sich herum, Schmerz und Verzweiflung sowieso. Im Jahr 1977 nahm Dennis Wilson sie mit einigen der besten Studiomusiker der Westküste auf.

Pacific Ocean Blue ist eine Platte nackter Emotionen, sie hat nichts gemein mit den harmlosen Strandspielen der Beach Boys. Das Meer ist Wilson nicht mehr bloße Kulisse. Der Ozean trägt den Surfer nicht, er verschlingt ihn. Wilsons Sehnsucht, in den Wellen zu versinken, schwingt in den Stücken mit. Schon mit dem ersten Lied River Song lässt Wilson die Wellen über sich zusammenschlagen. Majestätische Gospelchöre, ein donnernder Klavierlauf, orchestrale Synthesizer: Sündhaft überladen schraubt sich die genialische Studiomucke ineinander. Nur Dennis Wilsons raue Stimme stellt sich dem kalifornischen Breitwandklang der Siebziger entgegen. Am Ende singt er „You have got to run away“ – weder schwingen sich Engelschöre auf, noch packt ihn die rettende Hand des Bruders beim Schopf. Auf Pacific Ocean Blue ist Dennis Wilson mit seiner vom Alkohol und der puren Lebenslust geschundenen Stimme ganz allein. Wie eine verrostete Boje ragt diese Stimme aus den Fluten von Klavieren, Streichern und Bläsern.

Das Morbide durchweht diese Platte, es berührt selbst strahlende Liebeslieder wie You And I und Rainbows. Und Wilson versammelt Bruchstücke: Kaum ein Stück ist zu Ende komponiert, immer wieder fließen neue Ideen ein, immer wieder bricht er eine Melodie ab, um einem weiteren Einfall Platz zu machen. Man scheint dem Engel bei seinem Fall zuzusehen. Dann erhebt sich eine Ballade wie Thoughts Of You mit solch friedvoller Klarheit, dass man glaubt, der alte Surfer packe es noch.

Doch bald kriecht über den Dünen die Dunkelheit heran. Der Hamburgerstand ist längst geschlossen, die Mädchen sind nach Hause gegangen. Wilson weint ihnen nach: „Farewell / You take the high road / I’ll take the low“, singt er. Er ist der bärtige Streuner, der es nicht geschafft hat. Er lungert die Nacht über am Strand herum, getrieben von der Sehnsucht, einfach in der blauen Tiefe zu verschwinden.

Wilson kämpft um jeden großen Moment, legt seine Traurigkeit dar und schreckt vorm Kitsch nicht zurück. Diese Hingabe macht Pacific Ocean Blue zu einem Meisterwerk. Der Erfolg blieb ihm versagt. Sein nächstes Album Bambu sollte noch deutlicher von der Selbstzerstörung zeugen. Die Platte konnte nicht fertig gestellt werden, denn im Dezember 1983 ertrank er beim Tauchen in einer Bucht bei Los Angeles. Das Meer hatte ihn wieder.

„Pacific Ocean Blue“ von Dennis Wilson ist im Jahr 1977 bei Caribou erschienen. Im Jahr 2008 wurde das Album zusammen mit den unfertigen Aufnahmen zu „Bambu“ als Doppel-CD bei Sony BMG wiederveröffentlicht.

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Wellnessgewitter auf Samui

Michael Milosh aus Kanada bringt Elektro und Folk zusammen. Sein neues Album „iii“ klingt nach Blumen, Sonne und thailändischer Entspannung.

Milosh III

Michael Milosh ist ein empfindsamer Typ. Schon als Kind brachte ihn Musik zum Weinen. »Sad, soft and beautiful«, so sollte sie damals sein. Mit seinen eigenen Liedern möchte er an diese Erinnerungen anknüpfen. Zwei Alben hat der Kanadier in den vergangenen Jahren als Milosh veröffentlicht, auf beiden mischte er elektronische Musik und intimen Folk. Er schuf Klanglandschaften, in denen es sich wunderbar auf und ab wandeln ließ – die Kompositionen waren wie verschlungene Pfade, die Töne wiesen nach hier, nach dort und kreuzten sich wieder, vom Wegesrand grüßte der Wohlklang.

Auch sein drittes Album iii gleicht einem frühmorgendlichen Spaziergang durch einen exotischen Garten. Man hört, wie die Klänge sich behutsam entblättern, wie Michael Milosh eine musikalische Blüte nach der anderen freilegt und erblühen lässt. Es gibt viele Blumen auf diesem Album: Zerbrechliche Gewächse mit vielfarbigen Schattierungen, funkelnde und erhabene Exemplare, die sich duftend in den Himmel strecken.

Komponiert und aufgenommen wurde das Album während eines einjährigen Aufenthalts auf der thailändischen Insel Koh Samui. Die Umgebung inspirierte Michael Milosh: Tatsächlich erinnern das Spannungsverhältnis zwischen Stille und Dynamik und die feingliederigen Arrangements an fernöstliche Musiktradition. Das auf Another Day gespielte Cello klingt wie ein japanisches Koto. Die Abgeschiedenheit des Komponisten und sein Einklang mit der Natur wird auf Liedern wie Warm Waters und Gentle Samui besonders deutlich: Milosh spiegelt natürliche Zustände und Vorgänge und macht sie hörbar. Er kreiert einen organisch-plastischen Klang, der sein sonisches Vokabular aus den Geräuschen der Natur schöpft.

Bei soviel Natur ist der esoterische Kitsch nicht fern: Gerade zu Beginn der Platte klingt die innere Einkehr stellenweise wie die Begleitmusik eines Wellness-Urlaubs im frisch gekachelten Spa. Mit jedem weiteren Lied werden diese Momente glücklicherweise seltener. Denn in all der empfindsamen Leichtigkeit wagt er es immer wieder, den frisch geharkten Zen-Garten gehörig durcheinander zu bringen.

Jede Blume verblüht. Und so schleicht sich auch auf iii langsam die Dunkelheit heran. Etwas Tieftrauriges umgibt die letzten Lieder der Platte. Auf Wrapped Round My Ways werfen verzerrte Gitarrensamples unheimliche Schatten, und das elektronische Schlagwerk klingt plötzlich bedrohlich kalt. Eben schien noch die Sonne, nun ziehen Gewitterwolken auf. Der Wetterumschwung erfasst bald auch Miloshs glockenhelle Stimme. Trauer schwingt mit, die Zartheit der ersten Lieder weicht der Melancholie, der blühende Garten verwandelt sich in ein düsteres Labyrinth. Hinter den gestutzten Hecken lauern die Dämonen.

Mit The World findet Milosh schließlich den Weg hinaus, das Lied klingt erfrischend wie ein lang erwarteter Sommerregen. Die Wolken reißen auf, die Sonne traut sich wieder hervor. In Momenten wie diesem ist iii ein Album von reinigender Wirkung.

„iii“ von Milosh ist bei K7/Alive erschienen.

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Moos, Kauz und Zinnen

Ganz unbekümmert beleben The Owl Service den Folk der Sechziger. Ihre Neuinterpretationen britischer Volkslieder klingen herrlich versponnen.

The Owl Service

Die Eule erweckt stets den Eindruck, als hätte sie etwas zu verbergen. Mit ihrem Ruf als arrogante Geheimniskrämerin brachte es die Nachtaktive bereits zu Ruhm in der Popkultur. Soll es ganz besonders schaurig sein, schummelt man sie gern ein in Text und Bild. So tut es auch die englische Folk-Band The Owl Service, von deren Plattenhülle uns ein besonders schlecht gelauntes Exemplar anglotzt. Ihren Namen haben The Owl Service dem gleichnamigen Fantasy-Roman Alan Garners entlehnt. In dem 1968 erschienenen Buch wird das Blumenwesen Blodeuwedd von einem Hexer in eine Eule verwandelt und muss sein weiteres Dasein in Baumkronen fristen.

Der Mann hinter der Eule ist der Multiinstrumentalist Steven Collins. Vor zwei Jahren gründete er die Formation, um im englischen Folk-Revival mitzumischen. Schließlich hatten sich amerikanische Künstler wie Devandra Benhart, The Espers oder Josephine Foster längst ausgiebig im Fundus britischer Folkmusik bedient.

Psychedelic Folk nennt man diese speziell britische Spielart des Wiedergangs, hier musiziert ein unüberschaubarer Haufen gescheiterter Tolkien-Exegeten, postmoderner Burgfräulein und klampfender Rübezahle. Englische Folkgruppen der Sechziger wie die Incredible String Band, Fairport Convention oder Pentangle erfreuen sich plötzlich ebenso großer Beliebtheit wie altertümliche Instrumente und kauzige Naturmystik. Dass dabei manchmal auch eine Spur von reaktionärer Erbauungsphilosophie zum Vorschein kommt, ist eine der unangenehmen Begleiterscheinungen des Genres. So sehr die salbungsvolle Neuinterpretation des Volksliedguts auch manchen irritieren mag, die musikalische Weltvergessenheit ist faszinierend.

So auch A Garland Of Song von The Owl Service. Das Album ist eine Sammlung traditioneller Folklieder, denen Steven Collins eine Handvoll Eigenkompositionen zur Seite stellt. Auf eine Modernisierung des Liedguts verzichtet die Band. A Garland Of Song ist eine konservative Angelegenheit, vom gelegentlichen Einsatz elektrischer Gitarren mal abgesehen. Zwölfseitige Akustikgitarren, Schellenkranz, Viola da Gamba, Glockenspiel und schwebender Frauengesang – mehr braucht dieser Ausflug in die Welt bemooster Burgen und vernebelter Zinnen nicht. Unironisch und authentisch leben Collins und seine Musiker ihre Liebe zur spätmittelalterlichen Mystik aus. Das kann man belächeln oder herrlich versponnen finden.

Die Stücke sind atmosphärisch, da können die meisten deutschen Mittelalter-Rockbands nicht mithalten. The Owl Service kennen die Tricks und Kniffe, A Garland Of Song nicht zu einem verkitschten Romanik-Pastiche verkommen zu lassen. Immer wieder ergeben sich musikalische Brüche und Spannungsmomente, die den oftmals allzu lieblichen Gesang kontrastieren. Die sechziger Jahre als historische Sehnsuchtsepoche schwingt in der psychedelischen Instrumentierung mit: Hier schleicht sich eine Sitar ein, dort erinnern schwirrende Drone-Klänge an den Acid Rock.

Steven Collins ist ein Fan britischer Horrorfilme – man schaue Psychomania und The Wicker Man – die in den siebziger Jahren okkulten Grusel und Fantasy vermischten. Eine ähnlich unheimliche Stimmung entfalten Lieder wie The Dorset Hanging Oak, in dem sich ritueller Chorgesang und eine hypnotisierende Sitarmelodie umkreisen. Die Platte endet mit der traurig-schönen Ballade Flanders Shore und dem Geräusch umschlagender Wellen.

Und die Eule glotzt noch immer. Sie wird schon wissen, warum.

»A Garland Of Song« von The Owl Service ist auf CD und LP bei Southern Records/Soulfood Music erschienen.

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Frostschock, dieses Grinsen!

„Electrolore“ ist das neue Wort für spontanes Gruseln. Auf seinem Album zeigt Alexander Marcus dem großen Publikum, wie grauenvoll und faszinierend die Welt des Schlagers ist.

Alexander Marcus Electrolore

Ein Grinsen geht um in Deutschland. Es prangt auf T-Shirts und flirrt durchs Internet. Dieses Grinsen gehört Alexander Marcus, dem neuen Star der Youtube-Generation. Wo immer er auftaucht – das Grinsen ist schon da. Das liegt auch an seiner Musik. Alexander Marcus macht Electrolore, eine selbst erdachte Mischung aus Folklore und elektronischer Musik. Wobei sich Folklore in seinem Referenzsystem auf Rex Gildo, Howard Carpendale und Jürgen Drews stützt. Seinen butterweichen Gesang unterlegt Marcus mit flotter House-Musik. Denn damit kennt er sich aus: In einem früheren Leben hieß er Felix Rennefeld und dümpelte als House-Produzent erfolglos vor sich hin. Dann erfand Rennefeld die Figur Alexander Marcus. Typ: schmieriger Heiratsschwindler in weißen Lederslippern.

Zu seinen Liedern drehte Alexander Marcus eine Handvoll bizarrer Musikvideos, die bald sehr viele Menschen kannten. Darin hüpft er über Blumenwiesen, tollt mit Kindern herum oder planscht in einem Baggersee. Und grinst. In einem eigenartigen Akt der Selbstaufgabe hat sich Rennefeld in Alexander Marcus verwandelt und hat nun endlich Erfolg. Das ist wenig überraschend: Gewisse Schlagerklänge geistern ja schon seit geraumer Zeit durch die deutschsprachige elektronische Musik. So weit wie Alexander Marcus hat sich jedoch noch niemand vorgewagt.

Um sein Album Electrolore ertragen zu können, braucht man starke Nerven. Das liegt nicht an dem kitschigen Kirmes-House, dem ekelhaften Gigologehabe und dem Hossassa-Vokabular, das er auf zwölf Stücken konsequent durchexerziert. All diese Elemente dienen ihm nur als Schablone, seine Kunstfigur Alexander Marcus bis ins Kleinste zu inszenieren. Was dem Hörer wirklich Geduld abverlangt, ist die gnadenlose Humorlosigkeit, mit der sich Alexander Marcus präsentiert.

Man gewinnt den Eindruck, dass es dem Produzenten Rennefeld gleich sei, wer sich Alexander Marcus aneignet. Ob Ballermann, FDP-Parteitag oder angesagter Technoclub – ihm ist alles recht. Er ist kein Satiriker, der uns die Abgründe der Schlagerwelt vor Augen führen will. Ironische Brechungen sucht man vergeblich. Electrolore ist wirklich vollkommen unkomisch. Und es knallt noch nicht einmal richtig. Das Album folgt einer flachen Hierarchie, nichts drängt in den Vordergrund, alles bleibt an der Oberfläche. Während sich die Schlagerprofis noch um heimelige Nestwärme bemühen, regiert auf Electrolore eine unheimliche Seelenlosigkeit. Nicht einmal hysterische Partystimmung will aufkommen angesichts der kalkulierten Nachlässigkeit, mit der die Stücke produziert sind. Es klingt, als habe sich Alexander Marcus so wenig Mühe gegeben wie möglich.

In seinen Liedern bewegt sich Alexander Marcus wie eine schockgefrostete Schaufensterpuppe durch eine erstarrte Welt. Die blumigen Bilder, die er mit klebriger Stimme besingt, gehören in der Volksmusik zum Standardvokabular. Es bedarf aber erst der Gegenüberstellung mit der emotionslosen Musik, um ihre ganze Leblosigkeit deutlich zu machen. Vor der zweckentfremdeten Schunkelmusik verflacht jedes Wort. Sie sind nur noch als funktionale Worthülsen vorhanden, deren Endungen sich reimen. Es ist kein dumpfer Nationalismus, der Alexander Marcus Textzeilen wie »Schwarzrotgold / Das sind unsere Farben / Der Wagen rollt« singen lässt. Trotzdem fühlt es sich nicht gut an, sie zu hören.

Dieser Kontrast macht Electrolore aber auch zu einem Faszinosum. Denn natürlich funktioniert das Konzept Alexander Marcus über das spontane Gruselgefühl, das einen befällt, wenn man Guten Morgen oder Ciao Ciao Bella hört. Ebendiese Faszination beschleicht einen, wenn man Florian Silbereisen zusieht. Irgendwann wird man von der leblosen Glückseligkeit schlichtweg überwältigt. Wie bei Schreckensbildern muss man immer wieder hinsehen, um sich zu vergewissern: Das ist echt. Ob es Alexander Marcus mit seinem geisterhaften Schlagerkarussell wirklich ernst meint, ist dabei völlig unerheblich.

Eines der einfältigsten Geschmacksurteile aller Zeiten lautet: »Das ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist«. Electrolore macht die Unterscheidung zwischen gut und schlecht überflüssig. Ein gutes Album ist es deswegen aber noch lange nicht.

„Electrolore“ von Alexander Marcus ist auf CD bei Kontor/Edel erschienen.

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Den Bass flach halten

Munk macht Tanzmusik von morbider Schönheit. In seinen besten Momenten klingt das Album »Cloudbuster« nach italienischer Nobeldisko und dem New Yorker Punkschuppen CBGB.

Munk Cloudbuster

»Come on, bring it on!«, flüstert eine Stimme zu Beginn. Das ist mehr als eine Aufforderung, das klingt wie ein Befehl. Ein massiger Klavierakkord springt die Tonleiter hinauf, erinnert an die besten Zeiten der Housemusik. Die Flüsterstimme ist wieder da. Diesmal verkündet sie: »Live Fast! Die Old!«. Müsste das nicht ganz anders heißen? Was ist geschehen mit dem selbstzerstörerischen Credo des Rock’n’Roll? Hier werden noch ganz andere Sachen passieren. Willkommen auf Cloudbuster, dem musikalischen Spiegelkabinett von Munk.

Munk waren mal zu zweit. Jonas Imbery und Mathias Modica krempelten mit ihrem Debütalbum Aperetivo vor drei Jahren die elektronische Tanzmusik um. Bei ihnen trafen Post-Punk, Synthesizer-Disco und Wave aufeinander. Als eine der ersten deutschen Bands verbanden Munk die Do It Yourself-Ästhetik des Punk mit dem Disco-Glitzern ihrer Wahlheimat München. Dort stand einmal die Wiege des berüchtigten Munich Sound: Giorgio Moroder schoss von hier aus seine galaktischen Disco-Weltraumabenteuer in die Erdumlaufbahn.

Mit Gomma Records erfanden Imbery und Modica im Jahr 2004 auch gleich das Label zum Klang. Dabei ist Gomma weniger eine Plattenfirma als vielmehr ein Design. Neben elektronischer Musik erscheint hier mit dem Amore Magazine eine Plakatzeitschrift. Befreundete Künstler und Modedesigner gestalten die eigene T-Shirt-Kollektion und kümmern sich um den optischen Gesamtauftritt der Firma. Zu Modeschauen von Louis Vuitton und Givenchy steuern Künstler des Labels die Begleitmusik bei. Gommas Konzept funktioniert in Galerien und Clubs gleichermaßen. Inmitten des Irrsinns fanden Imbery und Modica immer noch Zeit, als DJ-Team aufzutreten. Mittlerweile betreibt Mathias Modica das Projekt Munk allein. Jonas Imbery produziert unter dem Namen Telonious eigene Musik.

Cloudbuster ist eine Tanzplatte von morbider Schönheit geworden. Schon die Single Live Fast! Die Old! macht deutlich, dass Munk die Punk-Attitüde des Vorgängeralbums gegen den schillernden Pathos des Disco eingetauscht haben. Schwere Akkorde des ausgebildeten Klavierspielers Modica zitieren die Klassiker des Chicago House. Eine laszive Frauenstimme singt dazu mal auf Englisch, mal auf Italienisch. Sie gehört der Schauspielerin Asia Argento, der Tochter des italienischen Horror-Regisseurs Dario Argento. Sie verleiht den Stücken eine düstere Erotik.

In seinen besten Momenten klingt Cloudbuster nach italienischer Nobeldisko und dem Punkschuppen CBGB zugleich. Immer wieder verweisen die Lieder auf die kruden Anfänge der Diskomusik, den Hang zur verschwenderischen Melodie leiht sich Modica bei der Italo Disco, die Orgeln und Schlagzeugeffekte klingen nach frühen Krautrockexperimenten.

Den Bass hält Modica erstaunlich flach, richtig abheben will keines der Stücke. Cloudbuster ist keine reine Clubplatte, es gibt zu viel zu entdecken. Es ist eine Platte voller popmusikalischer Kalauer, die mit Klugheit und Charme angeschoben werden. Hier bemüht Modica alberne Soundeffekte, dort darf Asia Argento »I don’t like milk, I don’t like lemonade« über eine brummende Basslinie rappen. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie das tut, gibt No Milk etwas Absurdes. So ist die erste Hälfte des Albums überaus unterhaltsam, ein Hit jagt den nächsten. Das schunkelige The Rat Race und der lässige Groove auf You Never See Me Back Down gehören zu den Höhepunkten.

Irgendwann jedoch kippt die Stimmung. Seltsame Geräusche schleichen sich ein, die Stücke haben keine klar erkennbare Struktur mehr. Die Rhythmen schleppen sich wie lahme Monster vorüber, rätselhaft verzerrte Stimmen dringen an die Oberfläche. Direkt unheimlich klingt Cloudbuster in der zweiten Hälfte, die gute Laune ist verschwunden. Ist das überhaupt noch Disco-Musik? Tanzen möchte man dazu jedenfalls nicht.

Was zunächst als Bruch verstört, offenbart sich beim näheren Hinhören als logischer Übergang. Die Platte gewinnt nun an Atmosphäre, gleicht einer Filmmusik. Die poppige Breite der ersten Stücke weicht einer cineastischen Doppelbödigkeit. Hier zielt die Platte nur noch vordergründig auf den Tanzboden, der tatsächliche Spielraum ist das Kino im Kopf. Die vielen Verweise auf filmische Vorbilder sind gar nicht zu übersehen: Das starrende Auge auf der Plattenhülle erinnert an Luis Buñuels Stummfilm Ein andalusischer Hund, die musikalischen Themen auf Stücken wie Interludus #1 und Il Gatto könnten italienischen Giallo-Filmen entstammen. Der Titel des Stücks PsychoMagic verweist auf die dubiose Therapiemethode des Regisseurs und Tarot-Meisters Alejandro Jodorowsky. Und damit nicht genug: Den Text von The Rat Race schrieb der Filmemacher Klaus Lemke. In einem der Platte beiliegenden Pamphlet findet Lemke weise Wort: »Musik ist für die Gefühle da, die man woanders nicht unterkriegt.« Cloudbuster ist voll von diesen Gefühlen.

„Cloudbuster“ von Munk ist auf CD bei Gomma erschienen.

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Der Rüpel und die blasse Frau

Die Schauspielerin Scarlett Johansson möchte Tom Waits’ bräsigem Zirkusjazz einen Schuss Avantgarde injizieren – und scheitert. Jedem Stück auf „Anywhere I Lay My Head“ hört man ihr Bemühen an, etwas Besonderes aufzunehmen.

Scarlett Johansson Anywhere I Lay My Head

Man hatte es geahnt. Spätestens seit dieser grandiosen Szene in Sofia Coppolas Film Lost In Translation. Lässig schmachtet Scarlett Johansson da Brass In Pocket von den Pretenders ins Mikrofon. Das war Karaoke, doch wusste man: Die wird mal eine Platte machen.

Die Schauspielerin ließ sich Zeit mit ihrer zweiten Karriere, denn sie meinte es ernst. Das unkaputtbare Summertime sang sie für einen guten Zweck ein und galt als Favoritin für die Hauptrolle in Andrew Lloyd Webbers Musical The Sound Of Music. Ihre selbstbewussten Auftritte mit den Indierockern The Jesus and Mary Chain gaben Grund zur Hoffnung, sie könne erfolgreich das Fach wechseln. Nur wenigen gelingt das.

Jetzt hat sie es tatsächlich gewagt. Die Johansson hat eine ganze Platte gemacht, Anywhere I Lay My Head. Als Produzenten verpflichtete sie David Siget. Das beweist Geschmack, Siget ist nebenbei Musiker der Rockband TV On The Radio. Macht diese Frau denn alles richtig?

Dann ein erster Wehmutstropfen: Scarlett Johansson spielte keine eigenen Lieder ein, sondern ausschließlich von Tom Waits komponierte. Dass ausgerechnet der Leitwolf der verbeulten Tramps und Strauchdiebe für Johanssons Debüt herhalten muss, ist zunächst überraschend. Der grantelnde Rüpel und die blasse Frau – kann das gut gehen? Leider geht es nicht gut.

Was hätte man alles aus Johanssons Stimme herausholen können! In den guten Momenten erinnert ihre düstere Färbung an Nico. Doch die guten Momente sind selten, denn Anywhere I Lay My Head ist ein Lehrstück verschwenderischer Produktionskunst. Sitek webt Johanssons Gesang in einen Teppich aus Gitarrenrückkopplungen, Saxofonexzessen, Spieluhrmelodien und hallenden Keyboards. Früher sprach man angesichts solcher Textur anerkennend vom Wall Of Sound,
hier klingt sie prätentiös. An dieser massiven Klangwand ist die Stimme nur eine Farbe von vielen, sie geht im Allerlei der Effekte unter.

Scarlett Johansson möchte Tom Waits’ bräsigem Zirkusjazz einen Schuss verhuschter Avantgarde injizieren, aber sie scheitert. Jedem Stück hört man das Bemühen der Schauspielerin an, ja kein normales Pop-Album zu machen. Allerorten raunt es einem zu: Das hier will etwas Besonderes sein. Ununterbrochen purzeln Klangspielereien und exzentrische Geräusche aus den Lautsprechern, halten Grillengezirpe und Vogelstimmen als romantische Ornamente her.

Die zärtliche Glockenspiel-Melodie von I Wish I Was In New Orleans ertrinkt in Hall. Dabei hätte Johanssons Gesang ausgereicht, dem Stück Sehnsucht zu verleihen. Geradezu komisch ist der pompöse Einstieg des Instrumentalstücks Fawn, die Arrangements wirken, als hätte sich Bruce Springsteens Saxofonist Clarence Clemons im Bayreuther Orchestergraben verirrt. Als reichte das nicht aus, erklimmen Sitek und Johansson den Gipfel der erzwungenen Stilhuberei gemeinsam mit David Bowie, bei Falling Down und Fannin Street tritt er als Duettpartner auf. In der Kulissenhaftigkeit des Albums scheint auch er sich nicht wohlzufühlen, Orgelfluten schlagen über seiner Stimme zusammen.

Streckenweise erlahmt das Album vollkommen, schleppen sich die Stücke vorüber. Die schläfrige Melancholie, die der Titel verspricht, verkommt zur ermüdenden Geste. I Don’t Want To Grow Up ist einer von wenigen guten Momenten: Die Keyboards klingen nach Always On My Mind von den Pet Shop Boys, langsam wächst eine gelungene New-Wave-Hymne heran. Bald zieht wieder schweres Geräuschgewitter auf, zu viel Pop war dem Produzenten offenbar nicht geheuer.

Auf der Albumhülle ist Scarlett Johansson als blasse Leiche zu sehen, aufgebahrt im künstlichen Grün. Die Kamera beobachtet sie durch ein Astloch. Im Märchen käme der Prinz und errettete die Pop-Prinzessin. Auf Anywhere I Lay My Head versinkt sie in hundertjährigem Schlaf.

„Anywhere I Lay My Head“ von Scarlett Johansson ist erschienen bei Warner Music.

Lesen Sie hier, was Diedrich Diederichsen über Scarlett Johanssons Musikversuch schreibt »

Viele Schauspieler haben Musik gemacht. Manchen ist es gut gelungen, manchen nicht. Hören und sehen Sie selbst. Eine Bildergalerie »

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