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Musik ist kein Obst

Erst wurde „Love“ von Foetus falsch gepresst, dann ging diese Platte unter. Im Laden ist sie nur schwer zu finden – höchste Zeit, sie zu entdecken

Isis - Absence Of Truth

Im Spätsommer 2005 veröffentlicht Foetus das Album Love. Es gibt die üblichen Besprechungen in Musikmagazinen. Kaum stehen die ersten Exemplare in den Läden, stellt sich heraus, dass dem Presswerk ein Fehler unterlaufen ist. Statt des Albums war eine Vorabsingle mit vier Stücken vervielfältigt worden. Man ruft die gesamte Auflage zurück. In der Flut von Neuveröffentlichungen geht es unter, dass das Album einige Zeit später erneut veröffentlicht wird – dieses Mal korrekt gepresst.

So ist wohl auch zu erklären, dass Love in kaum einem Plattenladen zu finden ist. Denn vollkommen unbekannter ist der Mann, der sich mit dem Künstlernamen Foetus schmückt, nicht. Seit Anfang der Achtziger macht der Australier James George Thirlwell Musik und hat seitdem etliche Bewunderern gefunden.

Mit 18 kam er nach Europa und begann seine musikalische Karriere im Umfeld der Einstürzenden Neubauten. Er entwarf düstere Klangvisionen und veröffentlichte seine Produktionen unter unzähligen Projektnamen. Nebenbei agierte er als Remixer für die Nine Inch Nails und die Red Hot Chili Peppers. Zudem trieb er unter dem Namen Clint Ruin allerhand Schweinkram in den erotischen Kunstfilmen Richard Kerns.

Foetus’ Musik basiert auf Samples und erinnert an Filmmusik. Love ist mutig instrumentiert. Harfen treffen auf schmetternde E-Gitarren, das Waldhorn wird vom Theremin gezähmt. Das Thema des Spinetts scheint sich durch die ganze Platte zu ziehen. Hat Ennio Morricone nicht auch Mundharmonika mit Orchester kombiniert und sogar der Panflöte neues Leben eingehaucht? Thirlwell hat sich stets darauf konzentriert, seine kompositorischen Fähigkeiten auszuweiten, auch mithilfe ungewöhnlicher Instrumente.

Seine Klangvision klingt am deutlichsten aus dem Stück Don’t Want Me Anymore. Es erzählt vom Verlassenwerden und taumelt wie ein angeschlagener Boxer von einem Zustand in den nächsten. Richtig aus dem Ruder gerät es, als ein schepperndes Schlagzeug einsetzt, das nicht den Rhythmus, sondern einen Puls spielt. Das Tempo verändert sich, und der Hörer verliert die Orientierung in deliranten Klangschichtungen.

Thirlwell hat nicht die typische Stimme für so etwas, das fällt auf. Wo sonst oktavensichere Schmachtheinzeln wirken, raunt sich sein rauhes und verlebtes Organ durch den Orchestergraben. In den höheren Lagen wirkt seine Stimme gedrungen. Doch auch das passt, die Koexistenz von Schönem und Hässlichem. Sie entwickelt ihre Qualität im Ringen um Balance.

Schade, dass diese Platte verschollen ist. Aber Musik ist kein Obst — sie überlebt ihre Umstände.

„Love“ von Foetus ist erschienen bei Birdman Records/Rough Trade

Hören Sie hier „Don’t Want Me Anymore“

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Wie eine Mixkassette

Four Tet aus London bastelt seine Stücke aus Fragmenten von Folklore bis Free Jazz. Seine Musik spricht den Kopf an, und zu ihr kann man auch tanzen. Faszinierend ist sein Beitrag zur Serie „DJ Kicks“

Four Tet DJ Kicks

Vier Alben hat Kieran Hebden unter dem Pseudonym Four Tet aufgenommen, allesamt stecken sie voller unberechenbarer Musik. Er springt von Stil zu Stil, mit jeder neuen Platte macht er einen Schritt in eine neue Richtung. Als er Folk mit Elektronik mischte, erfand die Musikkritik den Begriff Folktronica. Doch da wandte er sich schon dem Free Jazz zu und tauchte als Remixer für die HipHopper Madvillain und Radiohead auf.

So ist es nur konsequent, dass er nun ein Album für die ebenso unberechenbare Serie DJ Kicks aufgenommen hat. Seit über zehn Jahren lädt das Label !K7 Musiker und DJs ein, ihre Lieblingsstücke zusammenzustellen und zu mischen. Um eine ausführliche Titelliste und Quellenverweise erweitert, machen die Alben das Tun der DJs transparent. Hier kann man ihnen auf den Plattenteller gucken, ohne sich ihren Unmut zuzuziehen.

Schnuppern wir an Four Tets buntem Strauß: Los geht es mit einer computergenerierten Improvisation von David Behrman, es folgt britischer Arbeiterfunk von Syclops. Weich landen wir bei Curtis Mayfield. Immer wieder wechselt die Stimmung. New Folk von Animal Collective trifft auf Minimal-Techno von Akufen. Dazu gesellt sich knochiger HipHop von Group Home und Showbiz & A.G., Krautiges von Gong, elektrischer Jazz von Herbie-Hancock-Mitstreiter Julian Priester und afrikanische Kalimbamusik. Ein eigenes Stück von Four Tet gibt es auch, Pockets.

Die Zusammenstellung ist etwas für Zuhause, fürs Auto oder für den Walkman. Tanzen kann man dazu auch, aber für den Club ist das Album nicht gemacht. Four Tet konzentriert sich nicht auf einen Stil, so hat man das von ihm erwartet. Sein DJ Kicks klingt wie eine Mixkassette, aufgenommen für einen guten Freund.

„DJ Kicks“ von Four Tet ist als Doppel-LP und CD erschienen bei Studio !K7

Hören Sie hier „Pockets“ von Four Tet

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Beseelt hüpfen die Schmalzringe

Der HipHopper und Produzent J Dilla starb im Februar 2006. Vom Krankenbett aus arbeitete er besessen an dem Album „Donuts“. Seine Ideen hätten für ein weiteres Leben gereicht

Cover J Dilla

James Yancey war HipHop-Produzent. Unter den Namen J Dilla und Jay Dee veränderte er mit seinen Arbeiten die Ästhetik des Genres von Grund auf. Anfang des Jahres 2006 starb er an den Folgen der Immunerkrankung Lupus.

Seine Karriere begann in den frühen neunziger Jahren, HipHop wurde gerade zum Massenprodukt. Rapper wie Master P und Sean Combs – besser bekannt als Puff Daddy beziehungsweise P. Diddy – eroberten damals diesen neuen Markt. J Dilla stand nicht für hitparadentaugliche Produkte, sondern für beseelten und ästhetischen, manchmal wütenden HipHop. Die Stars standen Schlange vor seinem Studio in Detroit, er arbeitet lieber mit Untergrund-HipHoppern wie A Tribe Called Quest und The Pharcyde und seinen Schulfreunden Frank N Dank.

J Dilla arbeitete scheinbar ohne Pause, produzierte und mischte für Künstler wie Common, The Roots und De La Soul, aber auch für die Elektronikbastler Four Tet und unzählige andere. Seine Beats sind von einer fesselnden Musikalität, seine Arbeiten stecken voller Überraschungen und Lebendigkeit. Weltweit bringen sie die Hüften zum Hüpfen. Von ihm konnte man immer auch etwas über Musik und ihre freie Form lernen. J Dilla wurde nur zweiunddreißig Jahre alt. Sein früher Tod sorgte für Ernüchterung, seine Innovationskraft und Unbestechlichkeit werden dem Genre fehlen.

Er aß für sein Leben gern Donuts. So hat er den überzogenen Schmalzringen sein letztes Album gewidmet. Bevor er die Welt verließ, versorgte er sie noch einmal mit Ideen für ein ganzes Leben: Einunddreißig Stücke in knapp vierzig Minuten. Donuts ist ein rastloses Instrumentalalbum mit aberwitzigen Brüchen und Stimmungswechseln, sanft verpackt in weiche Bässe. Man kann die CD immer wieder hören, Anfang und Ende sind verknüpft. Ein Donut als Ying-Yang-Symbol gedacht, das ist doch was.

Das Album entwickelt einen Sog. Die Stücke sind gegen den Verfall gespielt, noch im Krankenhaus arbeitete er mit Plattenspieler, Computer und Sampler an seinem Vermächtnis. Man hört die Nadel fallen und hüpfen, für den Feinschliff war keine Zeit mehr. Donuts ist eine rohe Abfolge von Ideen. Es zeigt, dass J Dilla noch viel vorhatte.

„Donuts“ von J Dilla ist erschienen bei Stones Throw/PIAS

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Donuts“

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Ich glaub, mein Stein pfeift

Lithops ist das Soloprojekt des Klangtüftlers Jan St. Werner von Mouse On Mars. Die Musik auf seinem vierten Album „Mound Magnet“ klingt nach einer Mischung aus New York und Brasília, synthetisch und organisch zugleich

Cover Lithops

Brasília ist eine künstliche Stadt, Ende der fünfziger Jahre am Reißbrett der Stadtplaner entstanden. Ihre futuristische Architektur ist beeindruckend. Man stelle sich vor, in diese Künstlichkeit dringt das Gewusel des Kulturkochtopfs New York ein. Es entsteht eine Stadt, unter deren Oberfläche es brodelt und in der Gitarren durch U-Bahnschächte schallen. Die Häuserwände spiegeln und in die Gehsteige sind Sonnenreflektoren eingebaut. Die Stadt ist aufgeräumt, kann aber im Handumdrehen in Unordnung versetzt werden. Idyllisch ist sie nicht.

Wie klingt so was?

Vielleicht wie Mound Magnet von Lithops. Ihre Musik ist synthetisch, aber nicht künstlich. Sie atmet wie ein Organismus. Rastlos zieht sie mit uns um die Häuser. Was uns dort erwartet, wissen wir nicht. Wo gerade noch ein stehender Pfeifton Unbehagen verbreitete, da lüftet nun eine Polka unsere Ohren. Schließt man die Augen, vergisst man die Umgebung. Es passiert so viel. Klangschichten ziehen einen fort, jedes Geräusch birgt eine Melodie. Bei allem Ereignisreichtum wohnt der Musik eine Ruhe inne.

Wer einen Eindruck gewinnen möchte, der höre Vortext. Es ist ein erhabenes Stück Klang, es bildet das Zentrum des Albums. Sirenen treffen auf zerhackte Rhythmen, Klänge überlagern einander. Die Brutalität und die Schönheit der modernen Stadt werden hier eingefangen.

Lithops sind eine afrikanische Pflanzenart. Weil sie von Steinen kaum zu unterscheiden sind, werden sie auch Lebender Stein genannt. Lithops nennt der Düsseldorfer Musiker Jan St. Werner sein Solo-Projekt. Seine Band Mouse On Mars ist eine der bekanntesten Elektronik-Formationen aus Deutschland. Mit ihr hat er einen Stil geprägt, der auf Lebendigkeit setzt. Seine Soloarbeit ist sperriger. Steine wird Mound Magnet nicht zum Leben erwecken, aber die Synapsen werden tanzen.

„Mound Magnet“ von Lithops erscheint als CD bei Thrill Jockey

Hören Sie hier „Vortext“

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Karaoke ohne Fisch

Die vier Japanerinnen von OOIOO spielen schrulligen Jazz. Hysterische Chöre verbinden sie mit Wohlklängen, Ruhiges mit Hektischem, Schönes mit Hässlichem. Sehr japanisch!

OOIOO-Taiga

Ich hatte mal eine Kollegin aus Japan. Jeden Monat bekam sie ein Paket von ihren Eltern. Darin befanden sich Räucherstäbchen, die nach Fisch rochen und Kekse, die nach Fisch schmeckten. Alles war aufwendig verpackt mit Schnüren, Plastikfolien und edlen Papierchen. Die Farben, die Gerüche, die Schrift – Grüße aus einem Land, das in einer anderen Welt lag.

Daran erinnert mich Taiga, das neue Album der japanischen Formation OOIOO, wenn es auch nicht nach Fisch riecht. Die Gruppe mit dem seltsamen Namen begann als Gerücht, gestreut von ihrer jetzigen Chefin Yoshimi P-We. Sie ist Mitglied der Gruppe Boredoms und in Japan als Rockstar bekannt. Die immergleichen Fragen der Journalisten langweilten sie, so erfand sie die Geschichte eines Seitenprojektes. Das Interesse war so groß, dass aus dem Ulk eine Tat wurde und sie die Gruppe tatsächlich ins Leben rief.

Yoshimi und ihre Kolleginnen Ai, Aya und Kayan sind versierte Instrumentalistinnen und zeigen das gern, manchmal erinnert ihr Spiel an den Fusion-Jazz. Doch OOIOO gniedeln nicht selbstverliebt herum, sie verbinden ihre Instrumentalakrobatik mit der Energie des Punk und japanischer Musik.

Über Trommeln, Elektronik, Trompeten, Bass und kreischendem Gesang klingt eine Gitarre, deren Melodien an den Progressive Rock der siebziger Jahre erinnern. Manchmal wähnt man sich im Jazzkeller mit dem Fred Frith Guitar Quartet. Kaum will man sich dort einrichten, geht der Flug zu den Okinawa-Inseln im Süden des Japanischen Meeres. Dort gibt es Karaokebars.

Abrupt wechseln hysterische Chöre mit Wohlklang. Das Entspannte tritt neben das Hektische, das Schöne neben das Hässliche. Und trotz der vertrackten Rhythmik scheint Taiga in sich zu ruhen. Ist das exotische Logik? Viele Europäer halten die Japaner für schrullig und sonderbar. Daran wird diese Platte wenig ändern.

„Taiga“ von OOIOO ist als LP und CD erschienen bei Thrill Jockey, Taiga ist das japanische Wort für „der große Wald“

Hören Sie hier „UMA“

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Koop: „Koop Islands“ (Compost 2006)
Soweto Kinch: „A Life In The Day Of B19: Tales Of The Tower Block“ (Dune 2006)
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Tom Waits auf Mango-Cola

Vert hatte seine neue Platte fast fertig, da stahl man ihm den Computer. Sein mutiger Neuanfang heißt „Some Beans & An Octopus“ und ist eine Revue mit Vibrafon, Orffschen Instrumentierungen, mehrstimmigem Gesang, Rap und Quietscheenten

Cover Sundet

Viele Musiker behaupten, Genrebegriffe wären nur Werkzeuge für Journalisten. Wie die Rohrzange für den Klempner. Und Elektronik kein Genre, sondern eine Herangehensweise, eben auch nur ein Werkzeug. Mit Computern und Samplern lässt sich schließlich vieles anstellen: Techno, HipHop, Tango, Rock, Klassik, wahrscheinlich gibt es sogar ein Programm, das Alphorn spielen kann.

Adam Butler hat unter dem Namen Vert drei Platten mit avantgardistischer Elektronik aufgenommen. Dann hat man ihm sein Werkzeug entwendet. Einbrecher drangen in sein Studio ein und nahmen Computer und Mischpult mit. Mit dem Computer ging die Festplatte, mit der Festplatte die Entwürfe für seine neue Platte. Was sollte er tun? Buchhalter werden?

Butler hat einen Neuanfang gewagt. Er heißt Some Beans & An Octopus und klingt überhaupt nicht nach Frust. Schon der Titel klingt phantasievoll und nach einer exotischen Mahlzeit mit Ballaststoffen, Eiweiß und Proteinen. Die Musik bestätigt die Assoziation, greifbarer ist sie geworden, organischer.
Wir hören ein Saxofon und ein Vibrafon, Orffsche Instrumentierungen, mehrstimmigen Gesang, Rap und Quietscheenten. Der Ragtime stolpert auf dem Klavier, Vert entführt uns in einen Saloon der Unterwasserwelt. Eben winkt noch der Titel-Oktopus an der Luke, da gibt es schon wieder Beutelrattenfleisch mit Bohnen. Dazu trommelt ein Elefantenmensch auf Knochen. Ach, und da drüben schlendert Tom Waits vorbei. Er ist nüchtern und hält ein Glas Mango-Cola in der Hand. In welche Schublade passt das bloß hinein?

In gar keine. Some Beans & An Octopus ist eine verschrobene Revue. Hören Sie diese CD am besten in der Badewanne, im Walkman auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst oder beim biodynamischen Gärtnern. Seufzen Sie im Chor zu October. Die Musik hat so viel Charme und Poesie, zeitweise wähnt man sich in einem tschechischen Märchenfilm.

Im Laden wird Some Beans & An Octopus wahrscheinlich dennoch bei „Elektronik“ oder gar „Techno“ zu finden sein, denn da stehen die anderen Platten der Kölner Plattenfirma Sonig.

„Some Beans & An Octopus“ von Vert ist als LP und CD erschienen bei Sonig

Hören Sie hier „Gretchen Askew“ und „October“

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The Cure: „The Head On The Door“ (Fiction/Universal 1985)
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Dillinger Girl & „Baby Face“ Nelson: „Bang!“ (Emarcy/Universal 2006)
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Ist sie die Tochter von Prince?

Gerade mal 22 Jahre alt ist die Amerikanerin Georgia Anne Muldrow, ihr Debütalbum „Olesi: Fragments Of An Earth“ hat sie ganz allein aufgenommen. Es hüpft von Funk zu Soul zu Rap, überall lauern überraschende Melodien und kuriose Einfälle

Cover Muldrow

Der Auftakt des Albums ist sperrig. Georgia Anne Muldrow singt von der Verzweiflung in New Orleans nach der Flut, von der Wut der Bürger auf die Tatenlosigkeit der amerikanischen Regierung. Rhythmisch drischt sie auf die Tasten: „There’s a mystery of the water that no one knows / There’s a history in this water that they don’t say and they don’t show.“ Aus dem furiosen Stück New Orleans tönt die Energie des Free Jazz.

Singen, spielen, programmieren, produzieren – sie hat es allein gemacht. Nun sind alle Ohren auf sie gerichtet. Gelassen trägt sie ihre Lieder vor, meist ohne laut zu werden. Die Melodien sprudeln aus ihr heraus, sie kann sich sogar den Luxus erlauben, viele Ideen nur anzureißen. Nirgendwo hält sie sich lange auf, Wiederholungen wären Zeitverschwendung.

Und warum auf einen Stil festlegen? Mutig spielt sie mal Soul, mal Rap, mal Funk. Sie öffnet viele Türen, alle nur einen Spalt breit, Neugierde scheint ihr Antrieb zu sein. Die Stücke schweben, warm und nüchtern, und selten lässt sich vorhersehen, wo sie hinführen werden. Die berstend-originelle Georgia Anne Muldrow, ist sie vielleicht eine Tochter von Prince?

Einen klassischen Hit hat das Album nicht, einen Grammy wird es kaum bekommen. Aber dem aufmerksamen Hörer vermittelt es: Dies könnte der Anfang sein von etwas Großem.

„Olesi: Fragments Of An Earth“ von Georgia Anne Muldrow ist als LP und CD erschienen bei Stones Throw/PIAS

Hören Sie hier „Leroy“

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Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (Motown 1972)
Fink (UK): „Biscuits For Breakfast“ (Ninja Tune 2006)

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Züge rumpeln durchs Zimmer

Über die Jahre (14): „Tago Mago“ zeigt die Krautrockband Can 1971 auf ihrem Höhepunkt. Der Weitblick dieser Platte ist fünfunddreißig Jahre nach ihrer Veröffentlichung erstaunlich

Cover Can

Wenige große Erfinder im Jazz und im Rock’n’Roll kamen in den Siebziger Jahren aus Deutschland. Sonst kulturell gerne vorneweg, entwickelte sich hierzulande wenig an Jugendkultur, Typen wie Peter Kraus waren Klone amerikanischer und britischer Vorbilder. Das mag an der Verstörung und kulturellen Orientierungslosigkeit liegen, die dem Zweiten Weltkrieg folgte.

Eine Ausnahme war der Krautrock. Mit ihm entstand eine dem Jazz und Rock’n’Roll zwar verwandte, aber doch unabhängige Ästhetik. Bands aus Deutschland fanden im Krautrock eine eigene Sprache. Die Improvisationslust des Jazz und die Durchschlagskraft des Rock verbanden sie mit elektronischen Klangexperimenten, die Stücke – oft Sessions genannt – wurden länger und länger. Die Psychedelik folgte dem Hippietum.

Als einflussreichste Krautrockband gelten Can. Was sie von anderen Krautrockgruppen abhob, war die Qualität ihrer Komposition und das Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Charaktere. Ihren guten Ruf verdanken sie nicht zuletzt dem Album Tago Mago von 1971. Präzise wie ein Uhrwerk treibt Jaki Liebezeit die Platte mit hypnotischer Repetition an, er ist die Rolex unter den Schlagzeugern. Holger Czukay führt mit seinem Bass sowohl den Rhythmus als auch die Melodie. Die Rhythmusarbeit auf dieser Platte nimmt viele Aspekte moderner Tanzmusik vorweg.

Gitarrist Michael Karoli und Irmin Schmidt am elektrischen Piano fügen sich in das Klangbild. Wenn sie doch einmal ein Solo spielen, dann ist es auf den Punkt. Erstmalig an den Aufnahmen beteiligt ist der japanische Sänger Damo Suzuki. Czukay und Liebezeit hatten ihn entdeckt, als er in München auf der Straße musizierte. Seine Stimme ist die perfekte Ergänzung zu den Klang- und Rhythmuskaskaden der Band.

Seite 3 des Doppelalbums, das Stück Aumgn, kann man getrost vergessen. Hier wird die Band zu sehr von ihrer Begeisterung für die Technik getrieben. Die Musik verliert sich in Hallschwaden, ohne dass sich ein Zauber einstellte.

Sei’s drum. Stücke wie das achtzehnminütige Halleluwah und Paperhouse rumpeln wie Züge durchs Zimmer und zeigen, wie sich Improvisation mit Komposition und der Detailverliebtheit des Studioschnitts verbinden lassen. Der Weitblick dieser Platte ist fünfunddreißig Jahre nach ihrer Veröffentlichung erstaunlich. Bereits das Cover ist sagenhaft. Tago Mago zeigt Can auf ihrem Höhepunkt.

„Tago Mago“ von Can ist erhältlich bei Spoon Records

Hören Sie hier „Paperhouse“

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(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Ein Raumschiff fliegt vorbei

Über die Jahre (10): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Wir schreiben das Jahr 1973, Herbie Hancock bricht mit „Sextant“ auf eine weitere Reise in die unendlichen Weiten des Elektrischen Jazz auf

Cover Sextant

Herbie Hancocks Sextant ist ein Juwel des Fusion-Jazz, eine einzigartig konsequente Verschmelzung von Jazz und frühelektronischen Klangexperimenten. Heute ist das Genre zum Synonym für selbstverliebtes Gegniedel und Gedaddel geworden. Bei Hancock ging es um Sinnlichkeit.

Der Beginn des ersten Stücks Rain Dance legt eine irreführende Spur in Richtung Studio für Elektronische Musik und Karlheinz Stockhausen. Analoge Synthesizer pluckern und tropfen einen Rhythmus. Sie klingen nach Weltraum, nicht nach Jazzkeller. Trompete, Bass und Schlagzeug kommen hinzu, alles ist wunderbar auskomponiert. Wenn Hancock schließlich mit seinem leichtfüßigen, eleganten E-Pianospiel Tupfer dazusetzt, steht das Stück in voller Blüte.

Neben Hancock wichtigster Teil des Sextetts ist Dr. Patrick Gleeson. Er bedient die ARP-Synthesizer, komplizierte Stecksysteme, die in Größe und Umfang Wohnzimmerschrankwänden in nichts nachstehen. Auf Sextant baut er Flächen und Klanglandschaften und harmoniert mit dem Rest der Band. Die Elektronik ist beim ihm kein Kunstgriff sondern integraler Bestandteil der Musik.

Das Ergebnis dieser Verschmelzung ist futuristisch. 1973 muss Sextant geklungen haben, als sei gerade ein Raumschiff vorbei geflogen. Entsprechend kritisch waren auch die Reaktionen. Dreiunddreißig Jahre später gilt das Album als Klassiker. Es ist aktuell, wegweisend und ein beeindruckendes Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn man von bestehenden Rezepten abweicht und unterschiedliche Klangquellen mutig mischt.

„Sextant“ von Herbie Hancock ist erhältlich bei Columbia/Sony BMG

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Rain Dance“

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(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Fjordlos glücklich

Was tun ein Meister des Krachs und eine Vokalakrobatin, wenn sie eine Platte aufnehmen? Sie spielen Balladen! Haha. Was wie ein abgestandener Witz klingt, ist die Geschichte von „Ballads“ der Norweger John Hegre und Maja Ratkje

Cover Hegre

Es gibt Folkballaden, Jazzballaden, Pop- und Rockballaden – warum soll es also keine Geräuschballaden geben? Ballads, das neue Album der Norweger John Hegre und Maja Ratkje könnte dieses neue Genre ins Leben rufen. Statt rührseliger Schnulzen und Zuckerschmalz hören wir Atonales: Scharren, Klacken, Sirren und Quietschen. Ein klassischer Fall von Geräuschmusik.

Was ist hier los? Führen uns die Norweger etwa auf einen Irrweg, an dessen Ende sie uns auslachen werden? Nein, Sie können die Juxkappe ruhig wieder weglegen, denn es ist eine ganz und gar ernst gemeinte Platte, eine hervorragende dazu. Zwar bewegt sie sich am äußersten Rand dessen, was man überhaupt noch Musik nennt, doch spürt man die Emotionalität, die Sentimentalität eines echten Balladenalbums.

Die Klänge nähern sich einem, sie sind trocken und real. Ratkje und Hegre kommen ohne die verhallte Walgesangs-Ästhetik aus, die so viele norwegische Produktionen beherrscht. Die Nüchternheit macht Ballads romantisch. Ich bin fjordlos glücklich vor Entzückung!

Zu Beginn Autumn Leaves: Ein Klassiker des Balladengenres, aber was wir hören, erinnert nicht im Entferntesten an das Original. Entweder haben sie dieses Stück skelettiert, oder sie haben eine eigene Komposition mit dem gleichen Namen versehen. Es ist egal, denn es geht um Atmosphäre, nicht um Erfüllung technischer Standards. Die Stille dominiert von Beginn an, das Album atmet und ermöglicht intime Momente.

Geräuschmusik funktioniert am besten, wenn sie ihren Kontext zeigt. Wenn der Klang Teil einer Geschichte wird und nicht als Objekt für sich allein steht. Hegre und Ratkje schaffen sich so einen Raum, in dem sie über sich selbst hinauswachsen. Ballads erinnert an ein verlassenes Segelschiff im Wind, dessen morsches Holz ein Lied vom Verfall knirscht.

John Hegre ist eine der umtriebigsten Gestalten der norwegischen Geräuschmusikszene. Er kommt aus dem Metal, und seine Stärke ist die Musikalität, die er selbst harschestem Krach verleiht. Maja Ratkje entstammt der musikalischen Nachbarschaft und hat sich als Komponistin und Vokalakrobatin einen Namen gemacht.

Bei Ballads hebt sie nur einmal ihre Stimme. Hammock Moods deutet Melodie an, stolpert immer wieder und ebnet den Weg aus dem Traum zurück in die Realität. Ein außergewöhnliches Stück Musik als Finale eines Albums, das Genrebegriffe überstrahlt.

„Ballads“ von John Hegre und Maja Ratkje ist als CD erschienen bei Dekorder/A-Musik

Hören Sie hier „Autumn Leaves“

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(Lado 2006)
Casiotone For The Painfully Alone: „Etiquette“ (Tomlab 2006)
Barbara Morgenstern: „The Grass Is Always Greener“ (Monika 2006)

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