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Opulenz zum Quadrat

Konstantin Gropper alias Get Well Soon hat in Mannheim Popmusikdesign studiert. Sein erstes Album ist trotzdem gut, bunt und schwelgerisch.

Rest Now Weary Head You Will Get Well Soon

Einst hatte Mannheim Goethe, Schiller und Mozart. Heute sind Jule Neigel, Joy Flemming und Xavier Naidoo geblieben. Hier fließt der Neckar in den Rhein, von der Nachbarstadt Ludwigshafen aus stinkt die BASF herüber. Die Innenstadt ist quadratisch angelegt, man wohnt in H7, Q4 oder L9.

In Mannheim kann man seit vier Jahren Musikbusiness und Popmusikdesign studieren. An der Popakademie Baden-Württemberg lehren Heinz Rudolf Kunze, der ehemalige Chef von Universal Music, Tim Renner, sowie Mitglieder der Söhne Mannheims und der Fantastischen Vier. Den großen Durchbruch hat noch keiner der Akademiker geschafft. Ist das so schlimm? Es gibt wahrlich genug Popmusik mit Design.

Konstantin Gropper ist Mitte 20 und hat kürzlich das Studium in Mannheim abgeschlossen. Ihm wünscht man den großen Erfolg. Unter dem Namen Get Well Soon hat er sein Debütalbum Rest Now, Weary Head! aufgenommen. Ein Musterstudent kann er nicht gewesen sein: Was hier zu hören ist, klingt wenig quadratisch, nicht glatt und schon gar nicht konstruiert. Die Pressemitteilung zur Platte sagt nichts über einen Bachelor-Abschluss. Hingegen raunt sie von seiner oberschwäbischen Herkunft und seinem Umzug nach Berlin, von seiner frühen Ausbildung an klassischer Gitarre und Cello.

Groppers Album lässt sich leicht ins aktuelle Popgeschehen einordnen. Die traurigen Trompeten Beiruts ertönen hier (You/Aurora/You/Seaside), der schwere Folk von Bright Eyes dort (Christmas In Adventure Parks). Wie seine Kollegen nimmt Konstantin Gropper die Lieder meist allein auf und holt sich nur für Auftritte Hilfe. Auch er trägt den Scheitel streng. Er kleidet die getragenen Melodien in opulente Gewänder aus britischem Pop. So mischt sich Leichtigkeit unter Schwermut, das Überkandidelte verschwimmt in Tränen.

Seine Kompositionen sind klar, doch nicht berechnend. Immer wieder schlägt Gropper Haken, tauscht die Mittel des Pop gegen die der klassischen Musik. Das Album beginnt mit dem Prelude und endet 60 Minuten später mit der Coda.

Und wie beim klassischen Orchester klingen auf der Platte derart viele Instrumente und Stimmen, dass es acht Leute braucht, solch ein Dröhnen auf die Bühne zu bringen. Glockenspiel, Banjo, Akkordeon, Trompete, Geige, Klavier, Gitarre, Bass und Schlagzeug – aus den Lautsprechern quillt eine wahre Lust am pastösen Farbspiel. Manchmal kippt die Opulenz in den Kitsch, Help To Prevent Forest-Fires ist weniger elegisch als schmierig, Witches! Witches! Rest Now In The Fire geht unter in süßlichen Chören und jubilierenden Streichern. Der hineingeschaukelte Walzer ist eine Strapaze.

Den Erstsemesterkurs „Texten in deutscher Sprache“ bei Herrn Naidoo hat Gropper offenbar geschwänzt, er singt Englisch, ein gutes dazu. Er erzählt davon, dass man in Alaska keine Kühlschränke brauche und davon, dass das Leben sowieso keine Zukunft habe. Alles ohne erzwungene Reime. Aus Titeln wie I Sold My Hands For Food So Please Feed Me und Ticktack! Goes My Automatic Heart sprüht ein feiner Humor.

Gerade dieses Ticktack! Goes My Automatic Heart fällt durch seine Kargheit auf. Gropper singt zur Gitarre, begleitet von seinem eigenen „Oohh-oohh-oohh-oohh“ und elektronischem Zirpen. Ebenso Born Slippy Nuxx, die Coverversion des Techno-Hits von Underworld aus dem Jahr 1996. Der verschleppte Rhythmus und das sanft gestrichene Cello müssen keine Tanzfläche füllen.

Konstantin Gropper mag Stanley Kubricks Werke, das kann man auf seiner Internetseite nachlesen. Ein bisschen so wie dessen Filmkunst ist auch Rest Now, Weary Head!. Bunt und schwelgerisch, ein Genuss, den man am besten fassen kann, wenn man den Kopf abschaltet und sich berauschen lässt.

„Rest Now, Weary Head!“ von Get Well Soon ist als LP und CD bei City Slang erschienen.

„Papa was a Musiklehrer“ – hier geht’s zu Konstantin Groppers Porträt beim ZEIT ZUENDER »

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Schluss mit Laut

Der Gitarrist Geoff Farina ist in seiner Band Karate fast taub geworden, also löste er sie auf. Sein posthumes Abschiedsgeschenk heißt „595“ und ist ein Livealbum.

Karate Live 595

Im Jahr 1993 gründete der Gitarrist Geoff Farina die Rockband Karate. Mit der Zeit taten seine Ohren weh, sie wurden immer schlechter. Als er außer Fiepsen fast nichts mehr hörte, löste er die Band auf. In zwölf Jahren hatten sie sechs Alben veröffentlicht und beinahe 700 Konzerte gespielt. Heute macht Geoff Farina ruhige Musik, Folk, Country und Blues.

Zuallererst waren Karate immer eine Rockband. Die meisten ihrer Alben nahmen sie zu dritt auf. In den frühen Jahren klangen ihre Lieder karg, jedes Klacken des Schlagzeugs, jedes Zupfen am Bass und jedes Streicheln der Gitarre sind deutlich zu hören. Geoff Farina sang dazu mit seiner hohen, weichen Stimme, er klang immer mehr wie ein Erzähler, als wie ein Sänger.

Bald wurde der Einfluss des Jazz größer, die Strukturen ihrer Lieder komplexer, die Takte origineller. Zwischen The Bed Is The Ocean aus dem Jahr 1998 und dem Doppelalbum Unsolved aus dem Jahr 2000 liegt ein Bruch. Die Gitarren wurden damals sanfter, die Leerstellen zwischen den meist ruhigen Taktschlägen noch größer. Ab und an stopfte ein Solo die Lücke, manchmal durften auch die Gitarren lauter werden. Anschlüsse an die damals explodierende Postrock-Szene Chicagos, an Künstler wie Tortoise, Jim O’Rourke und The Sea & Cake waren nicht zu überhören. Die Aufnahmen klangen immer noch roh, Karate blieb eine Rockband.

Die Gratwanderung zwischen Jazz und Rock waren reizvoll auf den Alben Unsolved und dem anschließenden Some Boots. Auf dem folgenden Album Pockets dann vergniedelten sie sich, solierten häufig, ihre Melodien waren angestrengt und flach.

Karate hatten einen ausgezeichneten Ruf als Liveband. Ihre Lieder spielten sie stets neu und improvisierten gerne. Im Sommer des Jahres 2004 bat sie das niederländische Label Konkurrent zu der Reihe In The Fishtank ins Studio. Dort experimentierten sie zwei Tage lang. Sie nahmen acht Coverversionen auf, darunter berührende Interpretationen von Bob Dylans Tears Of Rage, Billy Holidays Strange Fruit und Mark Hollis’ A New Jerusalem. Geoff Farinas Stimme trägt die Stücke. So stark wie hier war sie nie. Ein Jahr später spielten sie in Rom ihr letztes Konzert.

Die Musiker haben sich nun durch die Aufnahmen zahlreicher ihrer Konzerte gehört. Die ihres 595. Auftritts am 5. Mai 2003 im belgischen Leuven gefiel ihnen am Besten. Sie veröffentlichen ihn nun als posthumes Abschiedsgeschenk und nennen es sinnigerweise 595. Sechs der acht Stücke stammen von ihren beiden starken Alben Anfang des Jahrtausends, die beiden übrigen aus rockigeren Tagen. Wie diese Band lebt! Die Stücke strahlen vor Klarheit, die komplexen Strukturen lassen Platz für Ausreißer.

Jedes der Stücke gewinnt etwas hinzu. The Roots And The Ruins wirkt beschwingt, Airport drängend. Der Bass ist laut, Farina lässt erst seine Stimme tanzen und dann die flinken Finger auf der Gitarre. Sever kommt jazzfrei und auskomponiert daher. Mit dem zehnminütigen Caffeine Or Me endet das Konzert. Es klingt wie eine Zusammenfassung der Bandgeschichte. Das Stück beginnt melodiös und klar, nach einigen Minuten stößt man auf eine stabile Lärmwand. Am Ende in einer langen, ruhigen Improvisation fällt sie Stein für Stein wieder auseinander.

Besonders der Klang des Konzerts habe sie überzeugt, schreiben sie auf der Hülle. Auf der Vinylversion von Some Boots hatten sie ein Stück weggelassen, „due to sound quality considerations“ hieß es damals. Klang war ihnen immer wichtig. Das macht auch die Hülle von 595 deutlich: Fotografien, die Geoff Farina gemacht hat, Lichter und Wolken verschwimmen in Ahnungen, alles scheint ausgewaschen. So ungefähr wird er wohl heute hören.

„595“ von Karate ist als CD und Doppel-LP auf schwerem Vinyl bei Southern Records erschienen.

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40 Pfund für anderthalb Kilo

Die Geschichte des neuen Albums der britischen Band Radiohead dürfte bekannt sein. Aber wie klingt „In Rainbows“ eigentlich?

Radiohead In Rainbows

„Das Vertriebsgedöns war interessanter als das Album selbst“, schreibt die Spex in ihrer Jahresliste und schiebt Radioheads In Rainbows auf den letzten Platz. Den Wirbel auch musikferner Medien verantwortet wohl am wenigsten die Band: Sie hatte Anfang Oktober auf ihrer Website das Erscheinen ihres siebten Albums beinahe heimlich angekündigt. Zwei Monate lang konnte man es zu einem selbstbestimmten Preis herunterladen. Die Geschichte kennt mittlerweile jeder.

Das Geschrei über Radioheads vermeintliche Revolutionierung des Popgeschäfts wurde kürzlich abgelöst vom Vorwurf der Heuchelei und der PR-Trickserei. Das eine ist so absurd wie das andere. Seit einigen Wochen haben sie einen neuen Plattenvertrag, zwischen den Jahren erscheint In Rainbows nun auch auf traditionelle Weise. Seit dem 11. Dezember kann man das Album auch nicht mehr legal kostenfrei herunterladen. Das ist gut so. Die Qualität der MP3-Dateien war schlecht, eine Hülle für die daraus gebrannte CD musste man selbst entwerfen.

Dieser Tage wurden die sogenannten Discboxen ausgeliefert, die man seit Oktober parallel zur digitalen Version erstehen konnte. Das kleine Bild über diesem Text kann nicht wiedergeben, welchen Wälzer Radiohead nun denen ins Haus lieferten, die 40 britische Pfund auf den Tresen ihres Internetsupermarkts gelegt hatten. Ein dickwandiger Schuber, darin ein Buch in Schallplattengröße. Vorne und hinten stecken schwere Vinylscheiben. Sie sind auf 45 Umdrehungen abzuspielen, einen besseren Klang gibt es nicht. In der Mitte ist ein Textheft eingeklebt, daneben befinden sich zwei CDs. Auf der ersten ist das reguläre Album, auf der zweiten acht weitere Stücke, es heißt sie blieben exklusiv in dieser Box erhältlich. Ein kunstvolles Fotoheft in Großformat liegt auch bei, all das wiegt knappe anderthalb Kilo.

Thom Yorke hatte in einem Interview gesagt, die Stimmung von In Rainbows knüpfe an ihr zehn Jahre altes Album OK Computer an. Diesen soufflierten Zusammenhang hörten viele Rezensenten in die Musik, doch so eindeutig ist das nicht. Klangliche Bezüge finden sich zu OK Computer ebenso wie zu den elektronischeren Alben Kid A und Amnesiac sowie zu ihrem letzten Album aus dem Jahr 2003, Hail To The Thief. Allein das rockige Gebretzel ihres ersten Albums Pablo Honey sparen sie – beinahe – aus.

15 Step eröffnet das Album und legt einen flirrenden Rhythmus vor. Es ist schwer zu entscheiden, ob hier ein Schlagzeugcomputer hämmert oder ein überaus präziser Phil Selway. Darüber liegt eines dieser typischen zarten Gitarrenmuster, darunter ein drängender Bass. Es folgt das ruhelose Bodysnatchers: „I have no idea what I am talking about / I am trapped in this body and can’t get out“ jault Thom Yorke. Und später „I have no idea what you are talking about / Your mouth moves only with someone’s hand up your ass“. Ohne Textheft versteht man kein Wort, auch, da die Gitarren so röhren. Keine Angst, In Rainbows ist kein Rockalbum. In der Folge wird es ruhiger und komplexer.

Wierd Fishes/Arpeggi, Reckoner und das abschließende Videotape kommen behutsam daher, früher oder später galoppiert ein schräger Rhythmus durch die Muße oder wird eine Schaufel Lärm aufgelegt. Wirkliche Ruhe strahlen nur Nude und Faust Arp aus.

Am erstaunlichsten ist All I Need. Nicht nur der Titel des Stücks erinnert an die französische Band Air. Eine Weltraumorgel spielt die immergleichen sechs Töne, das Schlagzeug klingt schleppend. In der Liedmitte setzt ein Glockenspiel ein und hebt die Melodie in säuselige Höhen, am Ende verliert sich alles im Scheppern des Beckens. Die Lautstärke der Instrumente ist perfekt aufeinander abgestimmt, kein Ton stört, keiner fehlt. Überhaupt, klanglich ist In Rainbows ebenso überwältigend wie musikalisch.

Die Bonus-CD macht dort weiter, wo das Album aufgehört hat. Die kurze Spielerei MK 1 übernimmt die Klaviermelodie von Videotape und auch die anderen Stücke klingen weder anders noch schlechter als die zehn zuvor gehörten. Allenfalls etwas karger. Last Flower und 4 Minute Warning sind grazil und herzzerreißend, alleine Bangers & Mash ist ein bisschen zu simpel rumpelig geraten. Schiebt man die CD in den Computer kann man sich rund 120 Fotos und Zeichnungen der Band anschauen.

Vergessen wir das Gejammer der Musikindustrie und das Rauschen im Blätterwald. Ob mit oder ohne Plattenvertrag, von der schreibenden Zunft geliebt oder nicht: In Rainbows ist eigenständig und ergreifend, einfach fantastisch.

„In Rainbows“ von Radiohead erscheint am 28.12 als LP und CD bei XL Recordings/Beggars Banquet. Der freie Download ist nicht mehr möglich, Restexamplare der sogenannten Discbox sind solange der Vorrat reicht auf der Website der Band erhältlich.

Wer „In Rainbows“ über die Website erstanden hat und die Bestätigungsmail an amplive@onesevensevensix.com weiterleitet, bekommt Mitte Januar die Download-CD „Rainydayz“ geschenkt. Darauf befinden sich Remixe von einigen Stücken des Albums. Ob sich das lohnt, kann man hier entscheiden.

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Pause nach Nummer 7

The Innits aus Berlin gehen geradeaus. Ihr Debüt „Everything Is True“ braucht keine Spielereien und Schlenker. Es scheppert, klingt mitreißend und manchmal ganz wohlig.

The Innits Everything Is True

Welch ein Albumtitel! Everything Is True, alles ist wahr. Keine Spur von postmoderner Beliebigkeit. The Innits aus Berlin hauen fröhlich naiv auf ihre Pauken und Gitarren. Dreizehn Stücke sind auf ihrem Debütalbum, zumeist flott und kurz. Es scheppert und kratzt, als wär die Platte dreißig Jahre alt. Ist sie aber nicht.

Der Schlagzeuger singt. Mek Obaam heißt er, in den vergangenen Jahren stand sein Schemel auf der Bühne, wenn Barbara Morgenstern und Schneider TM auftraten. Ein Soloalbum hat er auch aufgenommen vor ein paar Jahren, darauf trommelte er viel. Nun musiziert er mit Band. Auf Konzerten steht sein Schlagzeug ein bisschen weiter vorne als bei anderen Gruppen.

Anfang des Jahres erschien ihre erste Single bei dem irischen Label Earsugar. Everything Is True erblickt nun via Sunday Service in Hamburg das Licht der Welt. In anderen Kritiken fliegen die Referenzen. Die Punker Hüsker Dü klängen an und der Sixties-Beat, The Smiths spielten auf den Instrumenten von Velvet Underground, heißt es. Und der Harmoniegesang? Beatles, früh. Aber so einfach ist das nicht.

Ja, vieles klingt wirklich alt. Einige der Referenzen sind tatsächlich auszumachen. Die musikalischen Anspielungen und Zitate sind so eng mit den Ideen der Band verwoben, dass es sinnlos ist, jeden Ton auf seinen vermeintlichen Ursprung zurückzuführen. Die Innits imitieren nicht, die Sechziger klingen aus ihren Instrumenten auch nach dem Punk der Siebziger, nach dem Pop der Achtziger und Neunziger, nach allem möglichen eben. Tortured Turkeys On The TV blickt in die Vergangenheit durch die Punk-Brille, als hätte die Beatles The Clash gekannt. Country und Calypso im Titelstück ließen sich nur halb so einfach einbauen, wenn nicht der Alternative Country der Neunziger solche Töne vollkommen unironisch rehabilitiert hätte.

Nach dem siebten Stück sollte man eine kleine Pause einzulegen. Am besten holt man sich einen schwarzen Kaffee und eine Zigarette dazu. Die Lieder danach sind ruhiger und düsterer. In die repetitiven Akkorde von Light And Sound kann man tatsächlich The Velvet Underground hineinhören, wenn man will. Und The Smiths? Da ist eine fabelhafte Melodie, da ist ein kluger Text, aber das sind die einzigen Gemeinsamkeiten mit der Band aus Manchester.

So gut sie sich in der Musikgeschichte auskennen: The Innits schaffen etwas eigenes. Everything Is True geht geradeaus. Da sind keine überflüssigen Spielereien, keine spektakulären Schlenker, stattdessen charmante Melodien, wohlige Klänge, mitreißendes Geschepper. Wem das allein zu öde ist, der mag seine Distinktion aus der Aufzählung der unzähligen ausgemachten Referenzen gewinnen. Wäre schade.

„Everything Is True“ von The Innits ist als LP und CD erschienen bei Sunday Service.

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16 kleine Schwarze auf Silber

Morr Music lädt ein zur Reise durch die Geschichte des elektronischen Independent. „A Number Of Small Things“ ist Zweitverwertung deluxe.

Ernte25 Bar25

Es ist ein Stich in das Herz eines Sammlers. Das Berliner Label Morr Music veröffentlichte in den vergangenen Jahren eine Serie von Singles, A Number Of Small Things genannt. Dreizehn kleine Vinylscheiben, jeweils auf 1.000 Stück limitiert, bespielt mit je zwei, drei Stücken verdienter Künstler des Labels. Viele sind nicht mehr erhältlich. Nun das: Auf einer Doppel-CD gesammelt erscheinen die bisher 30 Stücke nocheinmal, zusammen mit sechs neuen.

Immerhin, die Zweitverwertung hat auch ihr Gutes: Man hört die beiden CDs anders als die Singles. Das Vinyl legt man ein paar Mal auf, dann wandert es in den Plattenschrank. Die CDs hört man durch. Stück für Stück führen sie einen in die musikalische Vergangenheit des Labels, komprimieren sie auf zwei Stunden. Und machen deutlich, wie wenig homogen die Klänge sind, die bei Morr Music in den letzten sieben Jahren erschienen.

Die Reise beginnt in der Gegenwart. Drei Künstler steuern je zwei neue Stücke bei, Butcher The Bar, Seavault und Seabear. Butcher the Bar ist der 22-jährige Brite Joel Nicholson, er singt zwei sanfte Lieder und begleitet sich selbst mit Akustikgitarre, Banjo und Melodika. Elektronik braucht er kaum. Ganz anders Seavault, das Projekt Antony Ryans – eine Hälfte der britischen Bastler Isan – und Simon Scott – in den frühen Neunzigern Schlagzeuger bei Slowdive. Die beiden mischen Gitarre und Elektronisches zu gleichen Teilen. Sie interpretieren zwei recht unbekannte Stücke von Ultra Vivid Scene und Altered Images neu, melodisch und poppig.

Überhaupt: Immer wieder entstehen für die Singles bemerkenswerte Coverversionen. Seabear machen aus dem Punk-Klassiker Teenage Kicks eine spröde Ballade, Masha Qrella nimmt Roxy Musics Don’t Stop The Dance alles Glitzern, alles Blendwerk. Unter dem Pseudonym John Yoko interpretieren Lali Puna Papa Was A Rodeo von The Magnetic Fields und Morning Paper von Smog. Auch Populous wagen sich an ein Stück von Smog, Blood Red Bird. Jede Version hat ihren Charme, Unaufgeregtheit verbindet die Neuinterpretationen. Oder ist das Traurigkeit?

Die ersten fünf Singles waren 2001 und 2002 erschienen, danach legte die Serie eine zweijährige Pause ein. Die Musik aus dieser ersten Phase findet sich am Ende der zweiten CD, zehn Stücke von Lali Puna, B. Fleischmann, Teamforest, Styrofoam und Other People’s Children erinnern daran, wie stark das Label in seinen Anfangsjahren auf Elektronik ausgerichtet war. Die älteren Stücke sprechen die gleiche Sprache wie neuere Aufnahmen, allein das Vokabular scheint noch nicht so ausgeprägt. Es pliept und klackt wie auf den damals bei Morr Music erschienenen Langspielplatten.

Erst Isan brachen das im sechsten Teil der Serie auf. Sie machten ihre Single zu einem Experiment. Sorgsam erforschten sie die einhundert Jahre alten Gymnopédies des französischen Komponisten Erik Satie und verliehen ihnen ein zeitgemäßes Antlitz. Keine sieben Minuten dauern die drei Stücke zusammen, genau genommen sind es nur leicht variierte Tonfolgen auf dem Xylofon. Dennoch, sie haben etwas ungeheuer Tröstliches. Die Lust zum Experimentellen griffen nachfolgende Künstler auf – Lali Puna, auch Masha Qrella und die bereits erwähnten Populous.

Die sechs neuen Lieder werden als Teile vierzehn, fünfzehn und sechzehn auf Vinyl-Single erscheinen, Plattensammler müssen diese Kompilation also gar nicht erwerben. Allen anderen sei A Number Of Small Things ans Herz gelegt, als eine ausgiebige Reise durch die Geschichte der sogenannten Indietronics.

Die Kompilation „A Number Of Small Things“ ist erschienen bei Morr Music. Die CD ist ebenso wie manche Singles erhältlich im Webshop des Labels.

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Eins, zwei, Triangel

Ein Liebespaar musiziert: Das Berliner Duo Pupkulies & Rebecca verbindet auf „Beyond The Cage“ warmes analoges Gerät mit stumpfen elektronischen Rhythmen.

Beyond The Cage Rebacca & Pupkulies

Janosch Blaul und Rebecca Gropp leben in Berlin, gemeinsam sind sie Pupkulies & Rebecca. Er musiziert, sie singt. Im vergangenen Jahr erschien ihr Debütalbum The Way We– sie mischten darauf tanzbare Rhythmen mit Pop und HipHop. Am besten passte die Platte in die Schublade „Minimal House“.

Nun ist ihr zweites Album Beyond The Cage draußen, die Schublade ist zu eng geworden. Jedes der elf Stücke gehört in eine eigene Kategorie, denn abgesehen von Rebecca Gropps Stimme gibt es wenige Gemeinsamkeiten. Das erste Lied Windmills ist karger Pop, Save Me eine repetitive House-Nummer. Pepper ist ausgewachsener Soul, Some Gin Elektropop der Marke Peaches. Auch ein Chanson ist dabei, Madeleine. Die Stimme hält das alles zusammen und zerstreut jeden Anflug von Beliebigkeit. Am Ende überwiegt das Tanzbare.

Pupkulies & Rebecca haben ihre Wurzeln im House, oft sind nur kleine Andeutungen geblieben. Les Cages ist House im klassischen Sinn, doch der treibende Rhythmus verschwindet so weit, dass man ihn beinahe überhört. Vorne säuselt ein Keyboard hinter dem gut und gerne Stevie Wonder sitzen könnte. Auch bei Gustav ist der Rhythmus so weit gebändigt, dass man sich auf einer Kraftwerk-Platte wähnte. Wäre da nicht die Stimme.

Jedes Klack, jedes Klong erfüllt nur den Zweck, Rebecca Gropps Worten sanftes Polster zu sein, die Musik umschwärmt ihre Stimme. Sie singt und spricht auf englisch, französisch und deutsch, trägt den Hörer durch das warme Puckern der Instrumente. Beiläufig singt sie mit düsterer Stimme ihre minimalistischen Melodien. Nur wenn sie schweigt, dürfen Xylofone wirbeln und Orgeln sticheln. Die Musik tritt in den Hintergrund. Das ist eigentlich ungerecht, denn einen so flauschigen Teppich muss man erstmal weben. Ohne die kontrapunktierenden Klongs wären auch Gropps Melodien nur halb so viel wert.

Selten wird auf tanzbaren Platten so viel gesungen, selten so detailverliebt musiziert. Die Samples sind wohl gewählt, die elektronischen Spielereien so sparsam, dass sie einem auffallen können. In Windmills ist ein Bandoneon-Sample versteckt, das ruhige Pepper lebt von dem Zusammenspiel des Kontrabasses mit einem Xylofon-Sample aus den Achtzigern. Immer auf die Zwei plingt eine freundliche Triangel. Dazu der gefühlvolle Gesang und ein sanfter Rhythmus – mehr ist das nicht, mehr braucht es nicht. Und welch warme Worte: „Get a little closer to me, your words are just like cinnamon to my soul, warming me up from inside when I am feeling cold.“

Scheinbar unabhängige Teile verbinden sich auf Beyond The Cage symbiotisch: Stimme mit Instrumenten, warmes analoges Gerät mit stumpfen elektronischen Rhythmen. „Elektronisch pulsierende Chansons zum Träumen und Tanzen“, wollten die beiden aufnehmen. Das ist ihnen gelungen.

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Einfach zu merken: TMTSATHG

Sie kommen aus Nürnberg, und dies ist ihr erstes Album: The Mother The Son And The Holy Ghost. Sie machen Musik nach Art einer Rockband, roh und stellenweise stromlos.

The Mother The Son And The Holy Ghost

In diesem Namen schwingt Bedeutung: The Mother The Son And The Holy Ghost. Wie klingt das wohl, wenn die mütterliche Dreifaltigkeit musiziert? TMTSATHG – einfach zu merken – sind fünf junge Menschen aus Nürnberg, vier Männer und eine Frau. Die dreizehn Lieder ihres Debütalbums sind roh und direkt, nach Art einer Rockband: Gitarre, Schlagzeug, Bass, dazu wird gesungen.

Aber ist das nicht ein akustischer Bass, der da im Hintergrund schrummelt? Dieser offene, freundliche Nachhall, das muss ohne Strom sein. Vor bald drei Jahrzehnten vertrauten die Violent Femmes diesem ungeduldig schnarrenden Instrument, es trieb ihre Lieder voran.

Eine weitere Parallele zu den Violent Femmes: The Mother The Son And The Holy Ghost schreiben einfache Lieder, die sie energisch, manchmal inbrünstig vortragen. Thrill zum Beispiel: Ein paar rauhe Akkorde auf der unverzerrten Gitarre, ein rumpeliges Schlagzeug, mehr braucht es nicht. Und Robin van Velzen singt eine Melodie, die den Red Hot Chili Peppers Millionen einbrächte.

Die Platte wirkt roh. Eine teure Produktion hätte den Hall des Schlagzeugs gedämpft, hätte die Gitarre wärmer gestimmt und manchen Gesangsteil noch einmal aufnehmen lassen. Zum Glück ist das hier nicht geschehen. Dieses Album lebt, es klingt, als sei es von der Bühne herunter eingespielt worden. Und roh, ja, aber weder ungenau noch schludrig.

Auch andere Instrumente sind zu hören, Mundharmonika, Orgel, in manchen Liedern die Stimme von Betty Mugler.

So reduziert die Musik ist, so viele Anspielungen enthält sie. Das 52 Sekunden lange Distortion God scheint ein Tribut an Tom Waits zu sein; das Piano torkelt, das Schlagzeug scheppert, und van Velzen stellt seine Stimme ganz tief. Der The Hammer Song lehnt sich an Bruce Springsteens starke Schulter, die Melodie, die Stimme und sogar der Zungenschlag des Sängers erinnern an die guten Jahre des amerikanischen Rockstars. Das akustische Stück Sun Detective stünde selbst Bob Dylan gut. Und auch Have You Seen Love und das dröhnende Could You Be erinnern an irgendwen, man kommt nur nicht ganz so schnell drauf.

Tulip Sky am Schluss klingt weich und warm. Die Saiten der Gitarre sind gedämpft, irgendwann übernimmt das Klavier die repetitive Melodie. Es klingt, als stünde es in der marmornen Halle einer Villa. Immer weiter entfernt sich das Mikrofon, verlässt den Raum, das Haus.

Das Debütalbum von The Mother The Son And The Holy Ghost ist erschienen bei Schinderwies Productions/Broken Silence.

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Kanadische Schuhgucker

Young Galaxy aus Montréal vermengen Leichtes und Schweres. Ihr Debütalbum erinnert an den britischen Shoegazer-Pop der frühen neunziger Jahre

Young Galaxy

Zweiundzwanzig Jahre ist es her, da gründeten sich die Stone Roses in Manchester. Nach ein paar erfolglosen Singles erschien im Jahr 1989 ihr Debütalbum. Der Sänger Ian Brown und der Gitarrist John Squire waren eine magische Gemeinschaft. Ihre Musik klang wie das fehlende Stück Popmusik zwischen den Byrds und den Sex Pistols. Das Großmaul Brown sang leichte Melodien, im Hintergrund klang es nach der akustischen Version von Black Sabbath. Das Besondere an den Stone Roses war diese nie ganz greifbare Mischung aus psychedelischer Schwere und sorgloser Fröhlichkeit. Beinahe pausenlos hibbelte der Schellenkranz. „I Wanna Be Adored”, schnarzte Ian Brown, und auch die Königin bekam ihr Fett weg: „Tear me apart and boil my bones, I’ll not rest till she’s lost her throne. My aim is true my message is clear, its curtains for you, Elizabeth my dear.”

Der Vorhang fiel bald, jedoch nicht Elizabeths: Nach einem zweiten Album löste sich die Band Mitte der neunziger Jahre auf.
Viele Nachahmer versuchten, ähnlich magische Momente zu erschaffen. Eine ganze Generation britischer Musiker starrte konzertelang versunken auf den Boden. Shoegazer wurden sie genannt, Schuhgucker. Kurz darauf entfesselten Blur und Oasis den Britpop. Sie hatten von den Stone Roses gelernt.

Auch in Kanada erzählen Musiker die Geschichte des britischen Pop, als sei sie ihre eigene. Young Galaxy kommen aus Vancouver, seit einigen Jahren leben die Musiker in Montréal. Ihr Debütalbum ist reich an ergreifenden Momenten und Wiederklängen. Die Lieder sind ruhig und düster; sie klingen, als hätten sie etwas zu verbergen. Der Bass ist weit nach vorne gemischt, dahinter räkelt sich das sanfte Vibrato einer Orgel. Aus dem Dunkel stechen immer wieder überraschende Gesangslinien hervor, manchmal froh, immer harmonisch.

Auf der Albumhülle führt eine Straße zum Horizont, erst auf den zweiten Blick wird sie zu einem Fluss. Ein leichter Wind bewegt das Wasser. Das Bild ist nicht schön, aber es passt zur Musik. Lazy Religion und Swing Your Heartache fließen langsam heran, werfen im Refrain leichte Wellen und entschwinden dann in der Ferne. „It’s time for you and I to face the signs and realize that living’s a battle. For all the times we cried absorbed the lies and realized life is not a rehearsal“, singt eine Männerstimme. Die Melodie ist nicht annähernd so trist wie der Text. Im Refrain stimmt eine Frauenstimme ein, „C’mon babe, swing your heartache“, jemand prügelt auf den Schellenkranz ein.

Eine weitere Parallele zu den Stone Roses: Ein Duo treibt die Band. Stephen Ramsay spielt Gitarre, Catherine McCandles Klavier, den Platz am Mikrofon teilen sie sich. “Als wir begannen, das Album zu machen, wollten wir den großen kosmischen Klang von Spiritualized mit der emotionalen Resonanz von Fleetwood Mac verheiraten”, erklärt sie. „Es sollte klingen wie warme silberne Flammen, die aus den Lautsprechern schießen“, ergänzt er. Zehn weitere Musiker sind auf dem Album zu hören.

Come And See klingt noch, als habe Ian Brown es geschrieben, die akustische Gitarre bestimmt das Tempo, der Gesang hängt etwas nach. In vielen der flotten Stücke klingen andere Bands an. Outside The City ist eine Reminiszenz an den Post-Punk, die verträumte Solo-Gitarre in Wailing Wall klingt nach The Cure. In Embers erinnert Catherine McCandles Stimme an die von Dolores O’Riordan. An dieser Stelle erschöpft sich der Vergleich zu den Stone Roses: Niemals hätte Ian Brown eine Frau an sein Mikrofon gelassen.

Das unbetitelte Debütalbum von Young Galaxy ist als CD und LP erschienen bei Arts & Crafts

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Viereinhalb Minuten gut

Auf seiner Suche nach sich selbst traf Dave Gahan von Depeche Mode seinen Gott. Richtig gute Ideen für neue Lieder hatte der aber offenbar auch nicht.

Dave Gahan Hourglass

Kingdom erschien vor zwei Wochen als erste Single von Dave Gahans neuem Album Hourglass, ein fantastischer Stampfer, der auch seiner Band Depeche Mode gut gestanden hätte. Der Bass drängt, die elektronischen Kollegen fiepsen, schnarren und plärren, ein mutterloses Kreischen verschleppt den pfiffigen Refrain. Dave Gahan singt mit gepresster Stimme einen etwas müden Text, aber den kann man ja ignorieren. „If there’s a kingdom beyond it all, is there a God who loves us all, do we believe in love at all?“

Die Werbemaschine der Platte brüllt seit Anfang August. Jede Woche konnte man sich auf der offiziellen Website und bei Youtube ein neues kurzes Video aus dem Studio anschauen. Man sah Dave Gahan und seinen beiden Musikern dabei zu, wie sie erste Erfahrungen mit einer Videokamera sammelten. Sie grüßten die Fans, spielten mit den Möbeln und der Fernbedienung, machten schlechte Witze und blöde Gesichter. Schnipsel der Stücke Kingdom und Down waren dort zu hören, so zugerichtet, dass kein Raubkopierer irgendetwas damit anfangen konnte. Andere Hörer leider auch nicht.

Nun ist das Album da. In einem Filmchen erläutern Dave Gahan, die Musiker Christian Eigner und Andrew Phillpott und der amerikanische Journalist Ken Scrudato, weshalb es so fabelhaft geworden ist. „Hourglass ist das Album, dass Dave immer machen sollte“, erzählt der wild frisierte Ken Scrudato. „Das Album war immer in ihm, aber es konnte erst jetzt aus ihm heraus.“ Denn „er musste das durchmachen, was er durchmachte um an diesen Punkt zu kommen.“ Vor zehn Jahren war Gahan nach einer Überdosis Heroin einige Minuten lang klinisch tot. „Ich versuchte herauszufinden, wer ich bin“, sagt er. Es sei ein erwachsenes Album, sagen seine Musiker, „die philosophischen Fragen, mit denen sich Dave befasst, sind spezifisch für seinen Pfad zur Erlösung, zum Heil.“

Warum sollte das jemanden interessieren? Beim vielen Nachdenken über sich und die Erlösung traf er seinen Gott. Gute musikalische Ideen liefen ihm selten über den Weg. So wichtig das Album für die Spiritualität des Herrn Gahan sein mag, so belanglos quält es sich am Hörer vorbei. Ein Stück ist richtig gut (man höre oben). Alles andere gelangt nicht einmal in die Nähe schlechterer Lieder von Depeche Mode. Man kann es in zwei Kategorien einteilen, Deeper And Deeper und Use You sind überambitioniertes Gebrezel, die sieben restlichen sind ödes Geschmachte. Die Melodien sind austauschbar, das Gefiepe im Hintergrund kleistert nur Fragmente zusammen. „Meiner Meinung nach ist es die beste Platte, die ich machen konnte“, sagt Dave Gahan.

In dem erwähnten Film über das Album erzählt er auch davon, wie er seiner Band das Stück I Saw Something zum ersten Mal vorsang. Der Schlagzeuger Christian Eigner habe ihn bloß schweigend angeschaut. Was er wohl gedacht hat? Kommt mir irgendwie bekannt vor? 21 Days verzichtet auf eine Melodie. Miracles klingt, als hätten die beiden Musiker Eigner und Phillpott stundenlang betrunken herumgespielt und dem Sänger dann die besten fünf Minuten geschickt, damit er sie betextet. Wahrscheinlich war auch er betrunken: „I don’t believe in miracles, and they happen everyday. I dont believe in Jesus, but im praying anyway“. Halleffekte überziehen die meisten der Stücke, die sich mühevoll auf viereinhalb Minuten strecken. Endless dauert beinahe sechs Minuten. A Little Lie klingt immerhin noch einigermaßen akzeptabel, kommt aber fünfzehn Jahre zu spät. Die Simple Minds haben das Stück schon in x Variationen gesungen.

Wer also braucht Hourglass? Ken Scrudato glaubt es zu wissen: „Menschen werden Hourglass hören und Inspiration finden, die ihnen hilft, die Fragen ihres Lebens zu beantworten. Und ist es nicht genau das, was wir von Musik wollen?“

„Hourglass“ von Dave Gahan ist als CD, als CD mit Bonus-DVD und als Doppel-LP bei EMI erschienen.

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