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Whiskey, Bier und keine Füller

Auch wenn dieses Lob gegen die zehn Gebote der Musikkritik verstößt: „Wasser kommt Wasser geht“ von Captain Planet ist die beste deutsche Punkplatte seit Langem.

Vorgestern Abend in der Wunderbar, Westerstede. Mehr schlecht als recht mühen sich zwei lokale Bands auf der winzigen Bühne ab. Die eine macht Hardrock, die andere hat gar keinen Stil. Ob man die hier kenne, frage ich meinen Stehtisch-Nachbarn. Hier in der Gegend schon, sonst eher nicht. „Aber die andere Band, die noch spielt, ist ziemlich bekannt, die kommen sogar aus Hamburg oder so.“ Sogar. In der niedersächsischen Provinz steht Hamburg für Qualität.

Die andere Band heißt Captain Planet und macht Punk mit deutschen Texten. Und Bekanntheit ist relativ. Vor zwei Jahren haben sie eine Vinylsingle mit vier Liedern veröffentlicht, Unterm Pflaster der Strand. Die erste Auflage von rund 600 Stück ist mittlerweile vergriffen, es wurde eine zweite gepresst. Sie spielen in kleinen Läden, die sind meistens voll. Auch in der Wunderbar drängen sich 60, 70 Leute zwischen Bar und Bühne. Vorne wird getanzt und mitgesungen, hinten trinkt man Whiskey und Jever vom Fass. Ein einzelner Punk im Publikum entspricht dem Klischee.

Die vier Jungs auf der Bühne tun es nicht, Punk ist heute nicht mehr die Kombination aus Musik und Mode, die er in den späten Siebzigern war. Im Jahr 2007 ist man auch mit kurzen Haaren, T-Shirt, Jeans und Turnschuhen glaubwürdig. Der Schlagzeuger Sebastian Habenicht hat heute Geburtstag, die Band hat offensichtlich riesigen Spaß am Spiel und ist dem Publikum gegenüber ausgesprochen höflich. Vielleicht weil es der letzte Auftritt einer dreiwöchigen Tour durch die Republik ist, vielleicht aber auch, weil die Musiker so betrunken sind, dass sie sich überall wohlfühlen würden. Als einzige Band des Abends bringen sie wirklich Energie auf die Bühne.

Wasser kommt Wasser geht ist das erste Album von Captain Planet. Und auch, wenn dieses Lob gegen mindestens zwei der goldenen Gebote Volker Matzkes verstößt: Es ist die beste deutsche Punkplatte seit Langem. Keines der elf Stücke klingt unausgegoren oder kompromisshaft, all killer, no filler sagt man in England. Nicht dass der Deutschpunk daniederläge, viele großartige Platten entstanden in der letzten Zeit. Im Vergleich zu Wasser kommt Wasser geht haben sie aber alle ihre – kleinen – Schwächen. Captain Planets Texte sitzen besser als die von Turbostaat. Die Lieder sind noch druckvoller als Matulas fabelhaftes Debüt Kuddel, der Gesang ausgefeilter als der auf Duesenjaegers Schimmern, die Kompositionen sind feinsinniger als die von Antitainment oder Kommando Sonnenmilch. Auch die Produktion ist brillant.

Arne von Twistern schreibt und singt kluge Texte, stellenweise schreit der Gitarrist Benni Sturm im Hintergrund die zweite Stimme. Sebastian Habenicht und Marco Heckler bauen mit Schlagzeug und Bass ein stabiles Gerüst, auf dem die beiden anderen sicher turnen. Die Gitarre malt originelle Melodien, immer wieder gibt es Tempowechsel und Brüche. Arne von Twisterns Worte sitzen, das ist das Besondere. Keine Zeile wird verschleppt, nirgendwo holpert der Vers. Gereimt wird ohnehin nicht. „Heute Nacht hab’ ich die Welt verstanden“, ruft der Sänger, „und sie mich“. Seine Texte stecken voller Erinnerungen an vergangene Sommer, ans Unterwegssein, an Menschen und Orte. Er singt vom „Kopfkissen meiner Erinnerung“, das ist keine Metapher, sondern sehr greifbar.

Das Stück Ohne Worte trägt eine Beziehungskrise in den Wilden Westen: „Zwölf Uhr mittags, am Ende der Straße scheint der Mond.“ Statt der Pistole umklammert seine linke Hand eine Bierflasche. Sie schweigen sich an: „Sieben Minuten ohne Worte, tausend Kilometer von deinem Mund zu meinem Ohr.“ Einen Gewinner gibt es nicht.

Bei Hols Stöckchen bitte klingt die gesungene Melodie ein bisschen nach Nena: „Jetzt suchen sie schon mit dem Hubschrauber nach dir, jeder Lichtkegel am Himmel, der gilt dir.“ Aber das geht in Ordnung, denn wenn Nena ein Talent hat, dann sind es schließlich die Melodien.

Viele Texte entfalten etwas Poetisches, wenn man sie einfach nur mitliest …

„Zwischen Himmel und Alster
Ein schäumendes Meer
Ein Fußballplatz im Hinterhof
Das Geld in deiner Tasche
So gut behütet und dann doch gestohlen
Im falschen Moment das Richtige getan
Und umgekehrt
Ich geh nicht mehr nach draußen
Wenn es regnet.“

… heißt es in Auftauchen um Luft zu holen.

Ein Motiv zieht sich durch beinahe alle Lieder: Wasser kommt und geht, aber meistens ist es da. In Wespenstich rieselt der Regen durch das löchrige Dach, in Ohne Worte haben die Autos Tropfen auf den Scheiben. Auch in den meisten anderen Stücken regnet es. Immerhin zweimal scheint die Sonne, so ist das in Hamburg.

„Wasser kommt Wasser geht“ von Captain Planet ist als LP und CD erschienen bei Unterm Durchschnitt.

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Traumberuf: Polizeitaucher

Nick Talbot zeichnet deftige Comics und schreibt ein böses Weblog. Doch wenn er für seine Band Gravenhurst die Gitarre in die Hand nimmt, wird er sanftmütig und rührend.

Gravenhurst The Western Lands

Der Engländer Nick Talbot zeichnet Comics. Im Magazin Ultraskull veröffentlicht er Bildfolgen über männliche Geschlechtsteile, explodierende Köpfe und umherfliegende Gliedmaßen. Sein Spott gilt Konservativen und Polizisten. Die Zeichnungen sind sarkastisch, wirklich komisch ist nur die Geschichte des besserwisserischen Mr. Shellac. Der Leser erfährt, welche Musik die Redaktion – die nur aus Nick Talbot besteht – gern hört, wie man jemanden gleich beim ersten Versuch richtig ersticht und Ähnliches. Nicht ohne Stolz wird auf der Website des Magazins berichtet, The Spectator fände das alles „liederlich“, der Salisbury Review nenne es „infantil“ und The American Conservative empfinde es als „beispielhaft für den moralischen Verfall unserer Zeit“. Vielleicht hat sich die Redaktion das aber auch nur ausgedacht.

Nick Talbot unterhält auch das Weblog The Police Diver’s Notebook. Regelmäßig kommentiert er die Arbeitsmarkt- und Drogenpolitik in Großbritannien, amerikanische Konservative, Bücher und Filme und Entwicklungen im Fall Lady Di. In einem aktuellen Beitrag widmet er sich kenntnisreich den Planungen einer nationalen DNS-Datenbank und der Einführung biometrischer Ausweise. Von Beruf sei er, so steht es in seinem Profil, Polizeitaucher. Sehr witzig.

Denn eigentlich ist er Musiker, unter dem Namen Gravenhurst hat er bislang vier Alben veröffentlicht. In seiner Musik offenbart sich die andere Seite des Nick Talbot. Wenn er die Gitarre in die Hand nimmt, scheint kaum mehr Sarkasmus übrig zu sein. Er singt über das entfremdete Individuum und unmögliche Beziehungen. Auf dem letzten Album hieß es im Song From Under The Arches: „I’ve seen bad things in bad places / What did I learn? Wallow in grime / Tonight we’ll drink the sewers dry / We can’t function outside of these dreams of suicide.“

Die erste Platte von Gravenhurst hieß Internal Travels und erschien im Jahr 2001. Heute ist sie nicht mehr erhältlich, Nick Talbot stört das kaum, er mag sie nicht. Wie auch das zweite Album Flashlight Seasons nahm er es alleine mit der akustischen Gitarre auf. Er sang folkige Lieder mit weicher Stimme, oft erinnerte das an Simon & Garfunkel – ohne Bombast, Streicher und anderen Kleister. Das Elektronik-Label Warp nahm ihn 2004 unter Vertrag und veröffentlichte Flashlight Seasons erneut, ohne Erfolg.

Den brachte erst die Single The Velvet Cell. Drei Monate zuvor hatte Warp Maxïmo Parks Debütalbum veröffentlicht und so auch seinen anderen nichtelektronischen Künstlern Aufmerksamkeit verschafft. MTV platzierte das Video zur Single zwischen Kaugummipop und Gangsta-Rap, eine beklemmende Animation begleitete die Worte „I had always thought the desire to kill was a disease you caught. But it’s dormant in the hearts of everyone, waiting for a spark, an emotion.“ The Velvet Cell und das anschließende Album Fires In Distant Buildings verkauften sich respektabel.

Zum ersten Mal spielte Nick Talbot nicht alle Instrumente selbst, Dave Collingwood steuerte die Schlagzeugklänge bei. Und zum ersten Mal waren elektrische Gitarren zu vernehmen. Statt dreiminütiger Folk-Kleinode schaukelten nun lange, behäbige Rocker. Die Stücke waren komplexer und lauter, Simon & Garfunkel wichen dem progressiven Rock der Siebziger. Am Ende stand eine neunminütige Coverversion des Stücks See My Friends von den Kinks. Die Grundstimmung bei Gravenhurst blieb sinister, aus Nick Talbots Stimme sprach Sanftmut. Seit zwei Jahren spielt er nebenher bei Bronnt Industries Kapital. Sie klängen, als beschalle der englische Poet Wilfred Owen die Tanzfläche eines Kerkers mit Diskomusik, schreibt die Band über sich.

Muss man das alles wissen, um Gravenhursts neue Platte zu mögen? Es hilft, sie zu verstehen. Mit The Western Lands hat Nick Talbot den Klang seiner Band weiter verändert. Von den Siebzigern bewegt er sich nun klanglich zu Anti-Folk und Post-Rock, die erste Single Trust könnte auch von Yo La Tengo sein, der lange Instrumentalteil in She Dances erinnert an The Notwist. Wieder hat er, abgesehen vom Schlagzeug, alle Instrumente selbst eingespielt. Er geht behutsamer zu Werk als auf Fires In Distant Buildings, ohne zur Zerbrechlichkeit der ersten beiden Alben zurückzukehren. Die meisten Stücke sind ruhig, immer mal wieder fahren eine Gitarre oder ein Klavier dazwischen, im furiosen Finale von She Dances sogar beide. The Western Lands klingt warm und kompakt. Seine Kompositionen sind fabelhaft.

Verstreut über die Stücke finden sich kulturelle Bezüge, die zweite Single Hollow Men spielt auf T. S. Eliots The Hollow Men an, das Motto der Platte zitiert er nach Oscar Wilde: „Give a man a mask and he will tell you the truth.“ Der Song Among The Pine klingt nach einer Fortführung des bereits angesprochenen Song From Under The Arches. Und mit Farewell, Farewell covert er diesmal die britischen Folkrocker Fairport Convention.

Die Menschen in seinen Liedern leben in der Welt, die er in seinem Blog täglich kommentiert. Ihnen wurde die Freiheit genommen, wie dem Mädchen in She Dances. „’I need new clothes‘, she thinks, ’new skin; a mind I can bear to live in‘.“ Dass er in seiner Musik dieser Welt ohne Zynismus begegnet, macht das Album berührend.

„The Western Lands“ von Gravenhurst ist als CD und LP bei Warp Records erschienen.

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So klingt ein Röntgenbild

Mit kratzender Stimme erzählt der amerikanische Folksänger Vic Chesnutt Geschichten voller Menschlichkeit. Sein Album „North Star Deserter“ strahlt eine unheimliche Ruhe aus.

Vic Chesnutt North Star Deserter

Vic Chesnutts Alben stecken voller Geschichten. Er ist ein begnadeter Erzähler alltäglicher Dramen, auch seiner eigenen. North Star Deserter heißt sein elftes Album.

Er wurde in Florida geboren, heute lebt er einen Bundesstaat weiter nördlich, in Georgia. 43 Jahre ist er alt und an den Rollstuhl gefesselt. Im Jahr 1983 hatte er einen Autounfall, seitdem ist seine untere Körperhälfte gelähmt. Er war betrunken von der Straße abgekommen.

Mitte der Neunziger widmete ihm die karitative Organisation Sweet Relief ein Benefiz-Album. Eine illustre Musikerschar sang seine Stücke nach, R.E.M. waren dabei und die Smashing Pumpkins, Madonna, Soul Asylum und Garbage. Da rockten und fiepten seine kargen Lieder plötzlich, das klang nicht immer gut.

Viele Fotos zeigen Vic Chesnutt mit seiner Gitarre auf den Knien. Zynisch kommentiert er seinen Rollstuhl, wenn er auf der Bühne ist. Dann lacht er über sich selbst, keine Spur der Verbitterung. Aus seinen Texten spricht Menschlichkeit. Sie sind direkt, nur selten bemüht er Metaphern. Viele seiner Worte klingen, als dichte er über sich selbst, doch seine Offenheit ist nie aufdringlich.

Warm ist der erste Titel auf seinem neuen Album. Zu den sparsamen Tönen der Gitarre singt er von der Wärme des Körpers, vom Zucken der Muskeln, vom Leben mit einer schlechten Nachricht. „What is the message on those gamma rays that are a’penetrating you? Do they say that the end it is a’coming soon? Or do they say ‚Forget the sun, worship the moon‘? But whatever it is, our pinhole perspective cannot a’translate sufficiently“, dichtet er. Mit der Krankheit macht sich die Angst und das Ungewisse im Alltag breit. „Anyway, A or B, you know, it’s alright with me“, schließt er. Was soll man auch tun?

In der schlicht instrumentierten Strophe von You Are Never Alone erzählt er von Abtreibung, Bypass-Operationen, von den Medikamenten Valtrex, Prilosec und Vioxx. Das sei alles schlimm, aber in Ordnung, schließlich müsse es weitergehen. Das versichert auch ein Chor im schunkeligen Refrain.

Vic Chesnutts nasale Stimme kratzt und ächzt. Sie steht im Mittelpunkt der Stücke und verleiht ihnen eine unheimliche Ruhe. Nur bei Everything I Say und Debriefing bricht die Oberfläche auf, und die Band wird richtig laut.

Welche Band eigentlich? Die meisten seiner bisherigen Alben hat Vic Chesnutt auf seiner Gitarre eingespielt, brüchige Folkstücke ohne Schmalz. Diesmal huschte eine ganze Schar befreundeter Musiker durch das Studio in Montreal. Die zwölfköpfige Truppe setzte sich zusammen aus Mitgliedern von Thee Silver Mt. Zion Memorial Orchestra & Tra-La-La Band, Frankie Sparo, Hangedup und Godspeed You! Black Emperor, allesamt Hausbands des kanadischen Labels Constellation Records. Guy Picciotto von der amerikanischen Punkband Fugazi brachte seine Stimme und sein Gitarrenspiel ein. Auch die Geister des Poeten W. H. Auden, des Malers Philip Guston und der Sängerin Nina Simone seien eingeladen gewesen, schreibt der Produzent des Albums, der Filmemacher Jem Cohen.

Den Geist Nina Simones meint man sogar zu hören. Wenn Chesnutt ihr Stück Fodder On Her Wings interpretiert, klingt ihre tieftraurige Stimme mit. Die Taube, die die Hülle von Chesnutts Albums ziert, ist wohl diesem Lied entflogen. „A bird fell to earth / Reincarnated from her birth / She had fodder in her wings / She had dust inside her brains“, heißt es darin. „She watched the people how they lived / They’d forgotten how to give / They had fodder in their brains / They had dust inside their wings.“ So sind sie eben, die Menschen, würde Chesnutt wohl schließen. Nina Simone sang: „Oh, how sad, how sad“.

„North Star Deserter“ von Vic Chesnutt ist als CD und Doppel-LP bei Constellation Records erschienen


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New Order steht ihnen gut

Düstere Lyrik und fröhliche Melodien – The Bravery bedienen sich bei vielen Gruppen der Rockgeschichte, und das macht Spaß. Spätpubertäre Mädchen werden zum neuen Album der amerikanischen Band durch die Indiedisko hüpfen.

Animal Collective Strawberry Jam

Im vergangenen Jahr spielten The Bravery im Vorprogramm von Depeche Mode, das war eine undankbare Aufgabe. Der Klang in der Hamburger Arena war mies, nur ab und an erhoben sich erkennbare Melodiebögen aus dem Gewaber. Nicht einmal ihr erster und bislang einziger Hit Honest Mistake war erkennbar, alles dröhnte und schepperte. Ob es an der Halle lag oder an den mangelnden Fähigkeiten der Musiker, ließ sich nicht entscheiden. Bei Depeche Mode später saß jeder Ton.

Auch auf dem Hurricane Festival in diesem Sommer spielten The Bravery als eine Art Vorband. Zur Mittagszeit schickten sie der grellen Sonne ihre düsteren Töne entgegen. Der Wind zerbürstete manchen Keyboardteppich, sonst klang es gut. Die Musiker beherrschten ihre Instrumente und ihre Kompositionen. Sie spielten viele Stücke, die damals niemand kannte – gute Stücke. Auf dem zweiten Album The Sun And The Moon kann man sie nun hören.

The Bravery klingen nicht neu, nicht originell, nicht gewagt. Tausende Bands machen ähnliche Musik. Die meisten Basslinien sind von New Order geklaut. Die Keyboards gemahnen an diverse Elektronikbands der Achtziger, die Gitarren an den Garagenrock der späten Neunziger. Die Basstrommel im Hintergrund stampft oft arg stupide. Aber: Wenn man keine überbordende Experimentierfreude erwartet, macht die Platte großen Spaß. Die Melodien sind feinsinnig, das Drängende von New Order steht ihnen gut.

Die Bässe sind laut, mal stehen sie alleine, mal gesellen sich flirrende Keyboards hinzu und singende Gitarren. Das rumpelige Believe macht den Anfang. Es folgt This Is Not The End, ein formvollendetes Zitat: Der Sänger Sam Endicott imitiert Julian Casablancas von den Strokes perfekt. Der Tonfall stimmt, die Stimme ist leicht verzerrt, Melodieführung und Liedstruktur sind, na ja, so was von geklaut. Die Gitarre setzt mit einem Clash-Gedengel ein und schwenkt dann hinüber zum lässigen Stil der Strokes. Selbst der Titel des Stücks und Zeilen wie „I am not a scientist, I must believe in more than this“ könnten von den amerikanischen Rockern stammen.

Die Lyrik Sam Endicotts ist wenig lebensfroh. Der Sänger nennt sich einen „hoffnungsvollen Menschenfeind“. Seine besten Tage habe er im Fernsehen gesehen, das Leben beschäme ihn, gestrandet sei er mit einer Hure namens Hoffnung. Er singt: „Jedes deiner Worte ist ein Messer in meinem Ohr, jeder Gedanke in deinem Kopf ist Gift.“ Das Lied Every Word Is A Knife In My Ear schrieb er für seine Ex-Freundin. Die verließ ihn wegen eines anderen und kam nach ein paar Wochen zurück, sie war an einen brutalen Schläger geraten. Kurz darauf verließ sie Sam Endicott erneut wegen desselben Mannes. Wieder kam sie zurück, tat Buße und schwor ewige Treue. Kurze Zeit später heiratete sie – den Schlägertypen. Wie sollte er angesichts solcher Erlebnisse zum Menschenfreund werden?

In Bad Sun pfeifen sich The Bravery einen – im Chor. Darf man das noch, nach Wind Of Change? Sie scheren sich nicht drum. Das Stück ist richtig fröhlich, spätpubertäre Mädchen werden dazu bald durch die Indiedisko hüpfen. Time Won’t Let Me Go klingt nach The Cure, nicht nur dank der Akustikgitarre und der betrüblichen Kiekser. Nach dem Refrain jault die Gitarre eine klagende Tonfolge. Würde die nicht auch Roland Kaiser gut stehen?

Nein, das geht zu weit.

„The Sun And The Moon“ von The Bravery ist als CD und LP bei Islands Records erschienen.

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Hee, Hoo, Haa, Hülsen

Die erste Platte der Engländer Hard-Fi war eine pfiffige Mixtur aus Rock, Dub, mehrstimmigem Gejohle und luftigen Melodien. Nun plätschert das zweite Album hinterher.

Hard-Fi Once Upon A Time In The West

Vor zwei Jahren erschien das Debütalbum Stars Of CCTV von Hard-Fi. Frecher britischer Rock steckte in den elf Liedern und eine gehörige Portion Dub, mehrstimmiger Gesang machte die meisten Stücke zu Hymnen. Vor allem die Singles Hard To Beat und Cash Machine glänzten. Es war auch manch Füllsel auf dem Album, aber das fiel kaum auf. Sechs Stücke von Stars Of CCTV wurden in Großbritannien als Single veröffentlicht. Den Dub kehrten Hard-Fi im vergangenen Jahr auf der Remix-Platte In Operation noch deutlicher heraus, daneben erschien eine Live-DVD. Bei soviel Mehrfachverwertung konnte die Band sich Zeit lassen mit dem zweiten Album.

Vielleicht hatten sie zuviel Zeit für Once Upon A Time In The West. Die Platte kann die Versprechen der ersten nicht halten. Sie klingt bemüht, stellenweise dünn. Wo sind die luftigen Melodien hin? Der Sänger Richard Archer gibt sich größte Mühe, seine Worte so lässig anzubringen wie vor zwei Jahren. Leider hört man das. Die Strophen klingen oft noch ganz gut, aber die Refrains verhaut er fast immer. I Close My Eyes rumpelt hymnisch aber ideenlos, der Sänger kämpft. Schließlich ist da eine Melodie, doch – oh, weh – was für eine!

Die mehrstimmigen Gesänge, die das erste Album so charmant machten, sind jetzt nervtötend. Sie wirken wie leere Hülsen für fehlende Worte und fehlende Ideen. „Heeeeeeee, Hoooooooo, Haaaaaaaa, Heeeeeee“ schmettert es in Suburban Knights, „Ooooooo, Aaaaaaa, Eeeeeeee“ in Tonight, „Uuuuuuu, Uuuuuuuu“ in Watch Me Fall Apart. Da wirkt das „Na na na na na na, na na na na na na“ in I Close My Eyes schon wie eine originelle Variation.

Auch musikalisch ist das Album flach. Zu oft drängeln sich rockige Gitarren in den Vordergrund, der Dub ist ganz verschwunden. Akustische Gitarren werden mit Schlagzeugcomputer und weichgespülten Refrains der Marke „Help me please, I’m in need“ kombiniert – „pliiihihihiiis“ mit ganz lang gezogenen Vokalen. Andere Stücke gehen in synthetischer Orchestersoße unter. Es dauert ein bisschen, bis man den Schock des ersten Hörens überwunden hat.

Beim zweiten Durchlauf macht die Platte an einigen Stellen sogar Spaß. We Need Love ist ein feines Stück, einfach und funktional. Richard Archer singt: „In Liverpool, in Glasgow und in London, was wir jetzt brauchen, ist Liebe.“ In Washington und San Salvador übrigens auch. Und am Ende johlen alle: „Whoooooa, whooooa.“ In Can’t Get Along klingen ein Ska-Rhythmus und Bläser durch, das ist sehr kraftvoll. Television fängt gut an, da sind Tanzrhythmen zu hören. Im Refrain bricht das Stück auseinander, es wird rockig und platt. „Television, new religion, let everyone sing Hallelujah. Politicians, don’t wanna listen, they only wanna make money out of you. Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah!“ Uff. So ist das überall, jede gute Idee wird früher oder später zugekleistert.

Die an Oasis erinnernde Melodie des letzten Stücks The King mag man gar nicht mehr so recht genießen. Im Hintergrund dröppelt ein künstliches Schlagzeug, darüber schmiegt sich eine Pudding-Schicht aus Geigengesäusel und Akustikgitarre. Zu allem Überfluss brezeln unsägliche Gitarren hinein. The King ist so zerfahren wie das gesamte Album.

Auf der sonnengelben Hülle steht in weißen Lettern „No Cover Art“. Die erste Single Suburban Knights ist ähnlich aufgemacht, „Expensive Black & White Photo of Band. Not Available“. Wenn die Lieder von Hard-Fi nur immer noch so gut wären wie ihre Witze.

„Once Upon A Time In The West“ von Hard-Fi ist als CD bei Warner Music erschienen.

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Da bibbert das PVC

Oliver Jones aus London nennt sich Skream und macht Dubstep. Auf Vinyl veröffentlicht er in der Reihe „Skreamizm“ dunkle elektronische Musik mit gaaanz tiefen Bässen.

Skream Skreamizm

Kürzlich spielten Skream beim Sziget Festival in Budapest. Sie standen dort spät in der Nacht auf der Meduza-Bühne, einem Zelt ohne Dach. Es war unfassbar laut, die Bässe brachten die herabhängenden PVC-Bahnen zum Bibbern, auf der Theke der Cocktailbar hüpften die Gläser.

Bei tiefen Bässen denkt manch einer an Prince und Amy Winehouse, an Dub und House. Skreams Bässe waren so tiiieeef, kurz darunter fielen sie wohl aus dem hörbaren Bereich.

Skream heißt eigentlich Oliver Jones, ein Londoner DJ Anfang zwanzig. Sein Dubstep ist dunkle elektronische Musik, meist instrumental. Auf der Bühne in Budapest begleiteten ihn ein Rapper, zwei Videokünstler und ein weiterer DJ. Der Rapper improvisierte flotte Reime, die beiden Künstler legten hektische Bilder unter die Musik. Der zweite DJ durfte Oliver Jones die Platten reichen und mit ihm scherzen, auch das sind wichtige Aufgaben.

Dubstep entstand um die Jahrtausendwende in London, meistens erscheint er auf Vinyl-Maxis. In den vergangenen zwei Jahren wurde das Genre populär, mittlerweile läuft die Musik im britischen Radio. Auch der englische Durchschnittshörer wollte nun eine Dubstep-Scheibe im Auto haben. Oliver Jones stellte die populärsten seiner Stücke zusammen, ergänzte sie um ein paar alternative Versionen und eingängige neue Nummern und veröffentlichte die CD Skream!. Die klang etwas halbgar, beinahe anbiedernd. Vielen Verehrern seiner Kunst waren die meisten der dreizehn Stücke zu reggaelastig, zu fröhlich. Der Klub-Hit Midnight Request Line war in einer vierminütigen Radiofassung auf der CD; aus dem alten Stück Rottan wurde das neue Rutten, die Melodie des Keyboards nun von einer Panflöte interpretiert. Das war zu viel.

Stimmiger sind seine Doppel-Maxis Skreamizm, Teil 1 bis 3. Die ersten beiden erschienen im Jahr 2006, noch vor dem Album, der dritte Teil in diesem Jahr. Je vier bis sechs Stücke sind auf den Platten. Düster geht es zu, die Rhythmen sind karg, die Bässe dumpf und treibend. Oft werden Schläge ausgelassen, dann wieder werden sie gedoppelt – so richtig entspannt tanzen kann man dazu eigentlich nicht. Beim Sziget Festival standen die Menschen zusammengedrängt, die Masse hatte einen gemeinsamen Rhythmus, der manchmal auch gegen den Takt der Musik lief. Die Tanzenden wiegten sich, betäubt von der Lautstärke. Über den Bässen und Rhythmen schraubten sich immer wieder Keyboardflächen in luftige Höhen, da hoben die Menschen die Arme und flogen davon.

Jede der drei Doppel-Maxis hat ihre Höhepunkte. Auf Skreamizm Vol. 1 stechen das polternde Monstrum Lightning und das aufreizend entschleunigte Rottan heraus. Hier hört man, woher der Dubstep kommt – manches klingt, als hätte man eine Drum’n’Bass-Platte in der falschen Geschwindigkeit aufgelegt. Auf Teil 2 reißt vor allem der 0800 Dub den Hörer mit, eine schwerfüßige Version von Midnight Request Line. Auch der Morning Blues ist prima, da umfließen ein paar lockere Gitarrentöne das Dröhnen. Teil 3 fällt ein bisschen ab, Chest Boxing und Make Me ragen hervor, die beiden anderen Stücke sind leider nicht ganz so gut.

Leise oder auf schlechten Boxen gehört ist Dubstep übrigens unerträglich.

Die drei Doppel-Maxis „Skreamizm“ von Skream sind erschienen bei Tempa

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Unter dem Doppeldeckerbus

Über die Jahre (25): Vor 20 Jahren lösten sich The Smiths auf. Vier Studioalben veröffentlichten sie, „The Queen Is Dead“ aus dem Jahr 1986 ist das schönste.

The Smiths The Queen Is Dead

Ich lernte The Smiths kennen, als es sie schon vier Jahre nicht mehr gab. Ich war 15, da erstand ich 1991 auf dem Flohmarkt eine Sammlung mit dem tönenden Namen Subrock. Am meisten liebte ich ein Stück namens How Soon Is Now? von The Smiths aus Manchester. Ich nahm es elf mal hintereinander auf eine 60er-Kassette auf, hörte sie jeden Tag und sang den geratenen Text auf dem Weg zur Schule, nach Hause, einfach überall. Nach vier Wochen fraß mein Walkman das Band. Ich kaufte mir zwei Best-of-CDs und schließlich auch ihre vier Studioalben.

Wenn ich ihre Musik hörte, befiel mich stets das Gefühl, dass ich zu spät kam. Ich konnte nicht behaupten, dass mich 1983 ihre erste Single Hand in Glove ergriffen hatte, weil ich damals noch Jennifer Rush liebte und De doo doo doo de da da da von The Police mitsummte. Morrissey, der Sänger von The Smiths, konnte mir nicht aus dem Herzen singen, denn das gehörte noch ganz anderen. Ich fühlte auch nicht den Schmerz eines Fans, als der Gitarrist Johnny Marr im August 1987 die Band verließ und sie sich auflöste. Denn zu der Zeit hörte ich die Pet Shop Boys, Queen und U2. Ich halte auf Partys den Mund, wenn andere über die erste selbst gekaufte Platte reden.

Und doch sind The Smiths im Nachhinein ein Teil meiner früheren Jugend geworden. Teil meiner Erinnerung daran, wie es war, erwachsen zu werden. Ich habe das Gefühl, sie wären immer da gewesen. Heute fiele es mir leicht, ein Märchen zu erzählen. Etwa so: The Smiths war meine erste Lieblingsplatte, ich war elf damals und hatte keine Ahnung, worum es in den Texten ging. Ich war berührt von Titeln wie What Difference Does It Make und fand die Musik aufregend, wegen ihrer außergewöhnlichen Melodien und der Stimme des Sängers. Ich klagte und witzelte mit Morrissey über die Ungerechtigkeit des Lebens. Wie er wollte ich nie arbeiten. Jede wichtige Phase in meinem Leben war verbunden mit einer Smiths-Platte, die Stimmung ihrer Alben verstärkte jedes Mal meine eigene. Mein politisches Bewusstsein kam mit Meat Is Murder, der erste Kuss in irgendeiner Mannheimer Industriebrache am Hafen mit The Queen Is Dead und die spätpubertäre Renitenz mit Schlägereien und Schule schwänzen zu Strangeways Here We Come. So hätte es sein können, warum nicht?

Jede der vier Smiths-Platten wird verehrt und gleichzeitig kritisiert dafür, nicht perfekt gewesen zu sein. Genauso traf mein erster Kuss die Falsche, verfiel ich irgendwann wieder den Glutamatausdünstungen der Burgerketten und war auch die Renitenz nur ein Anrennen gegen Mauern. Wie sich das alles angefühlt haben muss, daran erinnere ich mich eigentlich nur, weil Morrissey es heute für mich singt – auf diesen alten Platten, die gar nicht alt klingen. Wie sich die Welt der Erwachsenen gegen die verschwor, die ich mir vorstellte; wie erhebend sich Sehnsucht anfühlen kann. Enttäuscht aber stolz, erniedrigt aber wütend. Und immer zynisch genug, nichts ernst zu nehmen, nichts an sich heran zu lassen. Man fühlt sich „miserable“. Morrissey singt dieses Wort oft.

Meine Lieblingsplatte der Smiths war immer The Queen Is Dead. Das grummelnde Titelstück ist ein schönes Beispiel dafür, wie melodiös sie Melancholie vertonten. „Life is very long, when you’re lonely“ schließt es. Vicar In A Tutu und Frankly, Mr. Shankly sind zwei typische Zweiminüter, flott runtergesungen und voller Zynismus. Auf der zweiten Seite des Albums finden sich die beiden fabelhaften Singles Bigmouth Strikes Again und The Boy With The Thorn In His Side. Die schönsten Stücke waren damals keine Singles, Cemetry Gates, Some Girls Are Bigger Than Others und There Is A Light That Never Goes Out, leichte Kompositionen. Wer nicht auf die Worte hört, der läuft Gefahr, The Smiths zu unterschätzen.

Wenn ich mich heute frage, wie sich pubertärer Liebeskummer wohl anfühlt, dann lande ich bei irgendeiner Liedzeile von diesem Album, meist bei There Is A Light That Never Goes Out: „And if a double-decker bus / Crashes into us / To die by your side / Is such a heavenly way to die.“ Das finde ich noch heute romantisch.

„The Queen Is Dead“ von The Smiths ist im Jahr 1986 bei WEA/Warner erschienen.

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(24) Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (1980)
(23) Sister Sledge: „We Are Family“ (1979)
(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
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(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
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(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Die Platte springt nicht

Die Lieder von The Sea & Cake sind glatt und elegant, ein bisschen fröhlich und ein bisschen melancholisch. So könnte Musik klingen, wenn immer und überall Musik wäre.

The Sea And Cake Everybody

In dem deutschen Spielfilm Absolute Giganten wünscht sich die Hauptfigur Floyd an einer Stelle, „Es müsste immer Musik da sein, bei allem, was du machst.“ Im Hintergrund leiert Reprise, ein melancholisches Instrumentalstück der Band Sophia. „Und an der Stelle, wo es am allerschönsten ist, müsste die Platte springen und du hörst immer nur diesen einen Moment“, fährt Floyd fort. Doch die Platte springt nicht, das Stück ist nach anderthalb Minuten vorbei.

Die Musik von The Sea & Cake aus Chicago hätte gut an diese Stelle gepasst. Ihre Lieder sind elegant, ein bisschen fröhlich und melancholisch. Die Töne und Rhythmen fließen, sie passen immer. Sie können einfach nebenbei säuseln, zum Spülen oder Aufräumen. Man kann ihnen genausogut aufmerksam zuhören, abends im Bett, bei einer Flasche Rotwein, mit Kopfhörern. So könnte es klingen, wenn immer und überall Musik wäre.

Vor einigen Jahren war die Musikszene Chicagos plötzlich in aller Munde. Die Musik von Bands wie Tortoise, Isotope 217, Pullman, dem Chicago Underground Orchestra und eben The Sea & Cake wurde unter der Bezeichnung Post-Rock bekannt. Sie spielten Rock- und Popmusik, stark beeinflusst vom Jazz, von Minimal-Music und manchmal von Folk und HipHop. Bei WOM in Hamburg wurde ein eigenes Fach „Chicago“ eröffnet. Auch viele deutsche und britische Bands fanden sich dort.

Damals waren The Sea & Cake mit Tortoise auf Tour, das waren seltsame Konzerte. Hier die Kompositionen der Instrumentalkünstler von Tortoise, lauter ausgefallene Takte und Instrumente, zerbröselte Rhythmen und Melodien. Und dort die feinsinningen The Sea & Cake, ihre lockerflockigen Gesangslinien und Gitarrenmuster. Tortoise spielten keinen Takt zweimal, The Sea & Cake den einen Takt immer wieder. Der Schlagzeuger John McEntire stand jeden Abend zweimal auf der Bühne.

The Sea & Cake gibt es seit 1993, Everybody ist ihre siebte Platte. Auf der letzten, One Bedroom, hatten sie vor vier Jahren die Glattheit ein wenig übertrieben. Ihre Lieder klangen seelenlos, das Album gipfelte in einer schillernden Coverversion von David Bowies Sound And Vision. Danach nahm der Sänger Sam Prekop ein Soloalbum auf und reiste als Fotograf durch die Welt, der Schlagzeuger John McEntire nahm mit seiner anderen Band Tortoise und Bonnie „Prince“ Billy ein rumpeliges Coveralbum auf.

Everybody klingt so, als spiele die Band wieder zusammen. Die Kompositionen stehen im Mittelpunkt, nicht die verspielte Instrumentierung. Die Lieder klingen direkter, große Teile des Albums wurden live aufgenommen, Overdubs kommen selten zum Einsatz. Zum ersten Mal wurde ein Album der Band nicht von John McEntire produziert.

Man ist versucht, diese Musik in Metaphern zu beschreiben. Übertreiben wir mal ein bisschen: Wie Eisblumen am Fenster entfalten sich die von Sam Prekop mit wachsweicher Kopfstimme gehauchten Melodien. Wie Schönwetterwolken ziehen die Gitarrenmuster am hellblauen Himmel. Wie Lava brodelt der Bass. Und das Schlagzeug… Ach, lassen wir das.

„Everybody“ von The Sea & Cake ist als CD und LP bei Thrill Jockey erschienen.

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1 Stück = 22 Minuten

Die deutsche Gruppe Von Spar wurde mit Punk bekannt. Auf ihrem zweiten Album erprobt sie die große Misch-Form.

Von Spar Xaxapoya

Es dröhnt aus dem Orchestergraben, satte zweieinhalb Minuten lang werden die Instrumente gestimmt. Der Dirigent schlägt ein paarmal auf sein Pult, er mag den Rhythmus. Die Tasteninstrumente werden lauter, bald schreien sie in den höchsten Tönen. Nach fünf Minuten tritt die Basstrommel auf, kurz darauf ruft jemand unverständliche Worte. Nach sieben Minuten ist aus dem Stimmen der Instrumente ein Inferno geworden. Die Pauken werden gedroschen, dem Vokalisten droht die Heiserkeit. Eine Gitarre beginnt kleine Muster in die Klangmauer zu meißeln, hier und dort bricht auch eines der Keyboards aus der Repetition aus und entwirft eine süße Melodie. Neun Minuten sind vorüber.

Zwei weitere Minuten vergehen, die Gitarren schwingen sich in metallische Höhen. Sie quietschen und jaulen, als wären Iron Maiden oder Judas Priest am Werk. Der Sänger gibt’s auf, er röchelt noch leise im Hintergrund. Nach und nach verschwinden der Lärm, verstummen die Instrumente, sogar das Klöppeln des Taktstocks. Am Ende bleibt nur ein flauschiger Teppich aus Keyboardsäuseln, eine Minute lang liegt er da zur Erholung.

Von Minute dreizehn an kommen die Musiker aus der Pause zurück. Erst die Keyboards, sie sind jetzt melodiöser. Dann ein nervöses Pluckern, stammt das von einer Gitarre? Und ein sirenenartiges Geräusch. Nach fünfzehneinhalb Minuten setzt ein geradliniges Schlagzeug ein, auch der Sänger hat sich erholt und erzählt, in den Siebzigern geboren worden zu sein: Er suche nach Schönheit. Plötzlich wird aus dem wilden Lärmen ein richtiges Lied. Es klingt nach dem New Wave der frühen achtziger Jahre, elektronisch und treibend. Es bleibt aber verspielt, hier wird ein Chor gesampelt, dort scheint jemand im Hintergrund zu husten, hier heult eine Sirene, dort stimmt das Orchester die Instrumente aufs Neue. Nach weiteren vier Minuten wird sehr langsam ausgeblendet.

Xaxapoya heißt dieses Monstrum, es ist zweiundzwanzig Minuten lang. Es ist das erste Stück – oder die erste Seite – des neuen Albums der deutschen Band Von Spar. Das zweite Stück – oder die Rückseite – heißt Dead Voices In The Temple Of Error und dauert achtzehn Minuten. Mit Die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative waren Von Spar vor einigen Jahren überaus erfolgreich. In Stücken, die so ähnlich klangen wie die letzten vier Minuten von Xaxapoya, brachten sie ihre Energie auf den Punkt. Ihre Texte waren deutsch und politisch, das hektische Organ von Thomas Mahmoud das Markenzeichen ihrer Musik.

Auch beim zweiten Stück Dead Voices In The Temple Of Error nehmen sich Von Spar Zeit, lassen sich von einer Idee zur nächsten treiben, von einem Genre ins andere. Sie beginnen mit einer Mischung aus Hörspiel und knisternder Elektronika (Minute 1 bis 4), schwingen sich dann langsam ein (Minute 4 bis 7), wandern durch die siebziger Jahre (Minute 7 bis 12 ) und den Death-Metal (Minute 12 bis 15) hin zu nervösen Klangexperimenten, die an Mike Patton erinnern (Minute 15 bis 18).

Was hat sie wohl bewogen, eine solche Platte aufzunehmen? Sie ist ausufernd und uneindeutig. Der Sänger hat kaum etwas zu singen. Ist es der Versuch, Erwartungen zu unterlaufen? Der Ausdruck gelebten Künstlertums?

Schwer zu sagen. Aber interessant ist das.

„Xaxapoya/Dead Voices In The Temple Of Error“ von der Band Von Spar ist als LP und CD erschienen bei Tomlab

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Verlieren ist nicht sexy

Tocotronic erzählen auf „Kapitulation“ vom Scheitern. Sie haben ihr Konzept ernst genommen und schnoddern eine Platte hin, die so langweilig ist, dass sie kaum jemanden vom Hocker reißen wird.

Wer über Musik schreibt, ist immer auch Fan. In manchen Fällen ist er Fan dessen, worüber er schreibt. Tocotronic lernte ich kennen, als ihr Album Digital Ist Besser 1995 in den Jahreslisten vieler Musikmagazine weit oben stand. „Welch ein Titel!“, dachte ich, „aber ich interessiere mich nicht für Techno.“ Später sah ich die CD im Laden. Mit diesem verwackelten Polaroid vorne drauf, das war mir klar, machen die niemals Technomusik. Zum Fan wurde ich erst, als ich mir die Platte sehr oft angehört hatte.

Es hat mir lange Zeit große Freude bereitet, Tocotronic bei ihren Abgrenzungsversuchen zu beobachten. Wie sie immer bemüht waren, Erwartungen nicht zu erfüllen. In Interviews hofft man auf druckreifes Schlagwortgeplapper, den Fragenden wird es meist verweigert. Rezensenten neigen zur Überinterpretation und finden auf ihrer philosophischen Spurensuche einen ganzen Haufen semantischer Querverweise in von Lowtzows Texten. Bei der letzten Platte Pure Vernunft Darf Niemals Siegen erkannten plötzlich alle den Einfluss Theodor W. Adornos. Diesmal erfreut man sich, begriffen zu haben, dass hinter den Stücken des Albums ein Konzept steht. Wahnsinn.

Dem Fan in mir fällt es schwer, die bereits verkündeten Superlative zum neuen Album von Tocotronic zu wiederholen. Kapitulation langweilt mich. Manchmal geht es mir sogar auf die Nerven, das gilt für die Musik und die Texte.

Das eigentlich Spannende an dieser Platte ist die Rezeption derer, die – mit exklusiven Vorabkopien ausgestattet – herunterbeten, wie originell das Konzept der Platte ist. Manche tun das auch ohne Vorab-Exemplar. Das Verhältnis zwischen schreibender Zunft und Band erscheint fetischistisch, teilweise masochistisch. Die Tocotronic’schen Vokabeln kapitulieren, verlieren und aufgeben werden immer wieder mit sexy, cool und lustvoll übersetzt. Ganz so, als warteten wir alle lange schon auf jemanden, der uns erklärt, warum das Verlieren eigentlich viel besser ist als das Gewinnen. Verlieren, der neue Trend?

Immer wieder denke ich beim Hören an Franz Beckenbauer. „Ja, ist denn heut‘ schon Weihnachten“ heißt bei Tocotronic „Kommt alle mit zu mir nach Hause“, „Schaumermal“ übersetzen sie mit „Mehr ist mehr“, „Du musst nie wieder in die Schule gehen“ ist die Verweigerungsversion von „Ja, bin ich schon drin?“ Das war Boris Becker. Aber ist das besser?

Über viele Textzeilen kann ich nur den Kopf schütteln. „Dein Schlecht ist mein Schlecht, dein Schlimm ist mein Schlimm, dein Schlimm ist mein ganz Schlimm“, „Es sind die Qualen, die mich quälen“, „Ja, ich habe heute nichts gemacht, ja, meine Arbeit ist vollbracht“. Schon immer produzierten Tocotronic solche Satzfetzen für den Smalltalk unter Akademikern. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ und „Gitarrenhändler, ich verachte euch“, das sind oft gehörte Textzeilen. Studentenparty, ick hör dir trapsen. „Und jetzt weiter im Text, neue Fehler warten, Steine liegen auf dem Weg, ich leg sie rüber in den Garten“. Das Versmaß stimmt, der Reim auch. Immerhin.

Musikalisch waren sie schon weiter. Kapitulation sei rauer geworden als die vorangegangenen Platten, heißt es. Und – natürlich – reifer, erwachsener, direkter, tätärätätä. In meinen Ohren klingt es einfallsloser als das letzte Album und als das vorletzte Album Tocotronic allemal. Beim Gitarrenlauf von Verschwör‘ Dich Gegen Dich muss ich sogar an Heinz Rudolf Kunze denken. So simple und platte Akkorde gab es bei Tocotronic noch nie zuvor.

Nun, das Meiste ist selbstverständlich besser als alles, was Herr Kunze je in ein Mikrofon spielte. Aber für Tocotronic ist das eben nicht gut genug. Oder halten sie ihr Konzept des Scheiterns einfach nur konsequent durch und rotzen eine Platte hin, die nie und nimmer irgendjemanden vom Hocker reißen wird? Und ich bin drauf reingefallen?

Diesmal haben Tocotronic meine Erwartung nicht erfüllt, geschieht mir ja recht. Aber: Ich freue mich für jeden, der das Album mag.

„Kapitulation“ von Tocotronic ist als CD erschienen bei Universal, als LP bei Buback

Thomas Groß mag die Platte. Hier lesen Sie seine Meinung »

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