Lesezeichen
‹ Alle Einträge

So rechtsextrem war 2020

 

Das schicksalhafte 2020 hat Neonazis Aufwind gegeben: Sie haben Corona für Propaganda missbraucht. Zugleich stand das Jahr im Zeichen großer Rechtsextremismusprozesse.

Teilnehmende einer Demonstration stürmen im August die Treppe des Reichstags.
© Reuters/Christian Mang

Die Corona-Pandemie hat das Jahr 2020 bestimmt. Für die rechtsextreme Szene gilt das genauso. Versammlungsverbote und Maskenpflicht verlitten ihnen erst große, aufmerksamkeitsstarke Aufmärsche – dann gaben die Maßnahmen ihnen Aufwind: Seite an Seite mit Verschwörungstheoretikern verbreiteten sie auf teils riesigen Demos staatsfeindliche Parolen, spannten auch Anhängerinnen anderer Ideologien für ihre Zwecke ein.

Zugleich ist der Staat rechten Aggressoren selbstbewusst gegenübergetreten: Zwei wichtige Prozesse um Terrorangriffe mit neonazistischer Motivation haben in diesem Jahr begonnen. Vor Gericht mussten sich der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke und der mutmaßliche Attentäter von Halle verantworten. Es sind Fälle, die in Erinnerung rufen: Die Bedrohung durch Neonazis ist allgegenwärtig. Wie sehr, das zeigt unser Rückblick auf 2020 hier im Rechtsextremismus-Watchblog Störungsmelder.

Januar: Seehofer verbietet Combat 18

Das Jahr beginnt mit einem empfindlichen Schlag gegen organisierte Neonazis: Innenminister Horst Seehofer verbietet Ende Januar die militante Neonazigruppe Combat 18. Die Vereinigung galt als bewaffneter Arm des Neonazinetzwerks Blood and Honour. Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan E., soll in Kontakt zu dem Netzwerk gestanden haben. „Mit seiner Strahlkraft hat der Verein unter Rechtsextremisten eine Vorbildfunktion inne und wird als Symbol des gewaltbereiten Rechtsextremismus verehrt“, heißt es in der Verbotsverfügung. Beobachter halten das Verbot für den richtigen Schritt – der jedoch zu spät gekommen sei.

Februar: Anschlag in Hanau

Fotos erinnern auf dem Hanauer Marktplatz an die Opfer des Anschlags.
© dpa/Christine Schultze

Am 19. Februar wird die hessische Stadt Hanau von einem offenkundig rassistisch motivierten Anschlag erschüttert: Der Täter Tobias R. erschießt zunächst neun Opfer in zwei Shisha-Bars, in der elterlichen Wohnung tötet er dann seine Mutter und sich selbst. R. hat ein Manifest hinterlassen – eine Mischung aus Rassismus und Vernichtungsfantasien, Verschwörungstheorien und persönlichen Wahnvorstellungen. Angehörige der Opfer beklagen anschließend, die Aufklärung der Tat gehe nicht schnell genug vonstatten. AfD-Anhänger machen im Anschluss Stimmung gegen die Opfer, stempeln einen der Getöteten mit fadenscheinigen Belegen zum Islamisten ab.

März: Hetzen mit der Pandemie

Im März beginnen Bund und Länder, strenge Maßregeln zur Kontrolle der Pandemie durchzusetzen. Rechtsextreme müssen geplante Großdemonstrationen absagen oder verschieben. Zugleich lässt die Szene eine Diffamierungskampagne anlaufen. Die NPD schreibt auf ihrer Website: „Corona beweist: Globalisierung ist brandgefährlich!“ Unter einem Facebook-Post von AfD-Chef Jörg Meuthen, der einen „historischen Dammbruch in Sachen illegaler Massenmigration“ prophezeit, postet ein Neonazi ein Video, in dem eine Pistole abgefeuert wird. Die Staatsanwaltschaft prüft den Fall.

April: Rechte halten Corona-Demos ab

Polizisten führen einen Teilnehmer der verbotenen Demonstration in Chemnitz ab.
© dpa/Peter Endig

Systematisch entwickeln Rechtsextreme die Pandemie zu einem Mittel ihrer Propaganda. In Thüringen etwa wirbt die Neonazikleinstpartei Der Dritte Weg mit sogenannten Nachbarschaftshilfen um Sympathien, fordert „Solidarität für Deutsche“. Zudem verbreiten sie Verschwörungstheorien: Demnach ist das Virus mal Teil einer „jüdischen Weltverschwörung“, mal dazu da, die Deutschen auszurotten oder die Wirtschaft lahmzulegen. In Sachsen organisiert ein Polizist und AfD-Kreisrat eine Demonstration gegen die Schutzmaßnahmen – weil er den Protest nicht angemeldet hat, eröffnet die Polizei ein Disziplinarverfahren gegen ihn. Eine ähnliche Veranstaltung organisieren Rechtsextreme in Chemnitz. Und in Thüringen verkauft der Neonazi Tommy Frenck Kapuzenpullover mit der Maske des rassistischen Ku-Klux-Klans.

Mai: Rechte radikalisieren sich im Demochat

Nach und nach werden die Strukturen hinter den Corona-Protesten mit rechter Beteiligung sichtbar. Material, das ZEIT ONLINE vorliegt, zeigt: Die Versammlungen wurden von Beginn an über ein Netzwerk von Chatgruppen koordiniert, in denen rechtsextreme Inhalte dominieren. In einer sächsischen Gruppe etwa kursiert Anfang Mai das Video einer Rede von Adolf Hitler, in der ein Stimmenimitator die Corona-Maßnahmen verkündet. Wer sich gegen Neonazis in den eigenen Reihen stellt, wird als Spalter geächtet, verfassungsfeindliche und antisemitische Aussagen bleiben stehen. Der rechte YouTuber Hans-Joachim Müller streut zudem Antisemitismus und die QAnon-Ideologie in die Szene, der Verein Ein Prozent gibt extremistischen Stimmen in seinem Corona-Podcast eine Bühne.

Juni: Prozess zum Mord an Walter Lübcke beginnt

Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan E. (Mitte), beim Prozessauftakt vor dem Oberlandesgericht Frankfurt © dpa/Thomas Lohnes

Am 16. Juni beginnt in Frankfurt das Verfahren gegen den mutmaßlichen Mörder des CDU-Politikers Walter Lübcke. Der Kasseler Regierungspräsident war in der Nacht auf den 2. Juni 2019 auf seiner Terrasse erschossen worden. Verantworten müssen sich der Hauptangeklagte Stephan E. und sein mutmaßlicher Helfer Markus H. Stephan E. äußert sich im Prozess zunächst nicht, gesteht Anfang August dann doch, Lübcke getötet zu haben. Die Bundesanwaltschaft fordert lebenslange Haft.

Im Störungsmelder berichten wir außerdem über Terrordrohungen im neuen Album des rechten Rappers Chris Ares und über einen erfolglosen Versuch, die Neonaziszene beim Tag der deutschen Zukunft zusammenzuschweißen.

Juli: Mutmaßlicher Attentäter von Halle vor Gericht

Im Juli beginnt ein weiterer Prozess um rechtsextremen Terrorismus: Der Mann, der bei einem Anschlag am 9. Oktober 2019 im sachsen-anhaltischen Halle zwei Menschen getötet haben soll, steht in Magdeburg vor Gericht. Der Angeklagte Stephan B. gesteht gleich am ersten Tag – und gibt dabei unverhohlen seine antisemitische und rechtsextreme Gesinnung preis. „Menschenverachtung“ nennen Anwälte der Opfer sein Verhalten. Am 21. Dezember wird er zu lebenslanger Haft verurteilt.

Im Störungsmelder ist außerdem von einem Versuch der AfD zu lesen, Rechtsextremen Zugang zur Lokalpolitik zu verschaffen, zudem von einem verhinderten Anschlag Brandenburger Neonazis auf eine Moschee.

August: Rechte stürmen Reichstagstreppe

Demonstranten auf der Treppe vor dem Parlamentsgebäude © Reuters/Christian Mang

Wie sich rechte Akteure im Widerstand gegen die Corona-Politik mit Aktivistinnen anderer Spektren mischen, wird auf einer Großdemonstration der Bewegung Querdenken am 29. August in Berlin deutlich: 38.000 Menschen protestieren gegen die Maßnahmen – viele besonnen und friedlich, andere wirr und extremistisch. Anhänger der Reichsbürgerbewegung wollen eine neue Verfassung schreiben und so die Regierung stürzen. Mehrere Hundert Demonstranten greifen zu handfesten Methoden und stürmen über Absperrungen auf die Treppe vor dem Reichstag. Recherchen des Störungsmelders belegen: Viele von ihnen sind Reichsbürger, radikalisiert in vorigen Protesten.

September: Rechtsextreme Polizeichatgruppe fliegt auf

Im nordrhein-westfälischen Essen fliegt Mitte September eine Chatgruppe auf, in der Polizisten rassistische Inhalte geteilt haben sollen – darunter Fotos von Adolf Hitler, aber auch zum Beispiel die fiktive Darstellung eines Flüchtlings in einer Gaskammer. 29 Beamte sollen sich an den menschenverachtenden Konversationen beteiligt haben. Der Störungsmelder belegt anhand zahlreicher Vorgänge aus der Vergangenheit: Die Polizei in der Ruhrgebietsstadt hat ein lange zurückreichendes Problem mit Rassismus. Im Oktober gelangen ähnliche Fälle bei der Berliner Polizei an die Öffentlichkeit, darunter auch eine Gruppe von Studenten.

Oktober: Die AfD auf Influencer-Suche

Die AfD kämpft 2020 mit einem Bedeutungsverlust: Viele Anhänger des rechtskonservativen Spektrums folgen Verschwörungstheoretikern, während die Partei mit ihren Thesen immer weniger Gehör findet. Mitte Oktober will sie auf ihrer sogenannten Medienkonferenz in Berlin Influencerinnen für sich gewinnen. Zu den Hoffnungsträgern gehören junge Social-Media-Aktivisten, die dem rechtsextremen Spektrum nahestehen. Ausgeladen wird hingegen der Blogger und Rechtspopulist David Berger, der die stellvertretende Parteichefin Alice Weidel kritisiert hatte.

November: Neonazis machen den Weg frei

Nach der Demonstration in Leipzig stehen Teilnehmer Polizisten gegenüber.
© dpa/Sebastian Willnow

Spätestens zum November hat sich die Rolle von Rechtsextremisten auf den von Querdenken mitveranstalteten Demonstrationen gewandelt: Hatten sie die Proteste zuvor als Bühne genutzt, werden sie bei einem Aufmarsch am 7. November in Leipzig zu den Vollstreckern der Corona-Leugner. Rechtsextreme und Hooligans durchbrechen eine Polizeikette, um den Demonstrantinnen und Demonstranten einen Weg in die Innenstadt zu bahnen. So verschafft eine gewalttätige Phalanx den Querdenkern die Bilder, mit denen sich das Bündnis schmücken will: eine Masse an Protestierenden, die revolutionsartig durch Leipzig zieht.

Im November berichtet der Störungsmelder zudem über eine bedenkliche Entwicklung im Bereich der braunen Esoterik: Anhänger der Anastasia-Bewegung stehen einer Lehre aus rassistischen, antisemitischen und verschwörungsideologischen Aussagen nahe – einer von ihnen betreibt einen Biobauernhof im Allgäu.

Dezember: Innenministerium verbietet rechtsextreme Gruppe

Innenminister Horst Seehofer verbietet am 1. Dezember die rechtsextreme Gruppe Sturmbrigade 44. Bereits im vergangenen Jahr hatten Ermittlerinnen Wohnungen von sechs Verdächtigen durchsucht, die eine gewaltbereite Organisation gebildet haben sollen. Deren Ziel: das „Wiedererstarken eines freien Vaterlandes“ nach dem „germanischen Sittengesetz“.

In Düsseldorf sorgen am Nikolaustag erneut Rechtsextreme für Aufsehen auf einer Querdenken-Demo: Anhänger der rechtsextremen Organisation Hooligans gegen Salafisten stürmen auf eine Kundgebung, Neonazis in den Reihen der Protestteilnehmerinnen laufen auf die Gruppe zu. Erst im letzten Moment bemerken sie, dass sie ihresgleichen gegenüberstehen. Von den Rechten distanzieren sich die Veranstalter nur oberflächlich. Der Streit darum steht symbolisch für die Heterogenität in der Bewegung von Pandemieleugnern – und für ihren Unwillen, sich vom rechten Rand zu distanzieren.

Und 2021? Wird die Corona-Pandemie das Leben der Menschen weiter beeinflussen – und Rechtsextremen damit Ansätze für ihre Propaganda bieten? Der „Störungsmelder“ und seine Autoren werden das Handeln von Feinden der Demokratie weiter dokumentieren.