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Warum nicht jeder so?

Vor dem Frühstück texten, danach ins Studio, mittags Alben bewerben und verschicken, nachmittags ein Video drehen, am Abend zur eigenen Musik zeichnen: Norman Palm macht fast alles selbst – und gut

Das Musikgeschäft ist ungerecht. Wer seine Aufnahmen bei einer kleinen Plattenfirma unterbringt, hat noch lange nicht gewonnen, denn der Schlüssel zum Erfolg ist der Vertrieb. Der sorgt dafür, dass die Aufnahmen im Plattenkaufhaus und bei Netzhökern zu erstehen sind. Sieht man seine eigene Platte dann im Laden stehen, hat man dennoch nichts gewonnen, denn sie fällt niemandem auf. Also muss eine findige Werbeagentur ran. Unterwegs haben schließlich so viele ein paar Euro verdient, dass der Musiker sich mit wenigen Cent zufrieden geben muss. Um daraus wiederum ein paar Euro zu machen muss er ziemlich viele Platten verkaufen.

Theoretische Alternativen gibt es natürlich, vor allem das Internet gilt vielen als Heilmittel gegen all die Wehwehchen des Geschäfts, als Garant der Chancengleichheit. Und tatsächlich: Ein, zwei mal im Jahr lassen MySpace und YouTube neue Sternchen aufblitzen. Doch wer wollte sich auf diesen Zufall verlassen?

Norman Palms Rezept ist ein anderes, es geht ungefähr so: Drei mal täglich vor und nach den Mahlzeiten alles selber machen. Seine ersten Lieder stellte er nicht einfach hoffnungsvoll ins Netz, sondern er ließ sie in Vinyl drücken und schickte die Singles eigenhändig an eine erkleckliche Zahl von Musikjournalisten. Zwei entzückende Coverversionen waren drauf, Girls Just Wanna Have Fun von Cindy Lauper und Boys Don’t Cry von The Cure.

Sein Debütalbum Songs bringt nun Ratio Records raus, ganz ohne Vertrieb. Das Label betreibt er mit drei Freunden. Und man kann Songs kaum übersehen: Es ist nicht wie normale Werbesilberlinge in ein karges Papphüllchen gewandet, auch nicht in die sonst übliche schäbige Plastikkiste. Nein, Norman Palm verschickt sein Album als Beilage eines dicken Buchs. Das fällt nicht nur auf, weil es jeden CD-Stapel zum Einsturz bringt. Das sieht auch verdammt hübsch aus und will gehört werden.

Es wird gehört: Zwölf leichtfüßige Lieder singt er und macht auch hier fast alles selbst. Mehr als die Gitarre und seine schwere, amerikanische Zunge ist meist nicht zu hören. Manchmal singt er mit sich selbst im Chor und spielt eine Maultrommel. Und ganz selten darf mal jemand anderes den Klang von Schlagzeug, Klavier oder Teekisten-Bass beisteuern.

Zu Beginn erzählt er, was er alles nicht könne: Tanzen und Reiten etwa, oder einen Refrain schreiben, Singen. Doch gleich das zweite Stück Bitterness And Aftertaste widerlegt seine Selbsteinschätzung: Eine charmante Melodie, ein paar Zupfer an der Akustischen – mehr braucht es nicht zum liebenswerten Poplied. So geht es weiter, meist luftig, manchmal getragen, immer melodiös. Vierzig Minuten später krabbeln zwölf wuselige Ohrwürmer durchs Zimmer. Wahrscheinlich kann Norman Palm auch Reiten und Tanzen.

Was in seiner Biografie wohl erlogen ist, entscheide jeder selbst: Er wuchs in Norddeutschland auf, früh lernte er mehrere Instrumente spielen. Nach der Schule wollte er Rechtsanwalt werden, doch seine Eltern überredeten ihn, auf die Kunsthochschule nach Berlin zu gehen. Dort gefiel es ihm, er schrieb viele Lieder und begann diese während eines Aufenthalts in Paris in das Mikrofon seinen Laptops zu singen. Er gestaltete ein kleines Büchlein, in dem er seine Lieder illustrierte. Bald durfte er sie in Galerien und auf Festivals spielen. Da es ihm nicht gefiel, dass die Leute ihn anstarrten, ließ er bei Auftritten jemanden sein Buch durchblättern und projizierte es an die Wand. Heute pendelt er zwischen Mexico City und Berlin.

Songs sind die Lieder aus Paris und ein kleines Buch. Das unterhaltsame an seinen zweihundert Seiten ist die Formenvielfalt. Jedem Stück ist ein Kapitel gewidmet. Oft sind die Liedtexte typografisch gestaltet, mal in Leuchtschrift, mal in seiner Handschrift. Daneben stehen mal versierte, mal krakelige Zeichnungen von Sperma, Krokodilen und abgeschnittenen Zungen. Oh, Elisa zieren scheinbar zufällige Momentaufnahmen aus Paris, Berlin, London und Mexico City, den Middletown Blues begleiten ein Dutzend Polaroids voll typischer Kleinstadttristesse, zu Boys Don’t Cry schauen ein paar geschminkte Jungs in die Kamera.

Bild und Ton ergänzen sich, nach mehrfachem Durchblättern und -hören mag man gar nicht mehr entscheiden, was zuerst da war. Warum macht das nicht jeder so? Ach, ja richtig, das Geschäft. Ein solches Album würde mit der gängigen Anzahl von Mitverdienern wohl gut 30 Euro kosten.

„Songs“ von Norman Palm ist als Buch plus CD bei Ratio Records erschienen. Erhältlich ist das Album in dieser Form nur in einem Plattenladen in Berlin, im Webshop des Labels und bei A.N.O.S.T.

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Zäh wie Bitumen

Vielleicht hätten The Cure auf ihr 13. Album verzichten sollen. Außer großer Zahlensymbolik hat es nicht viel zu bieten.

Der dunkle Zauber warf seinen Schatten voraus: Ende vergangenen Jahres verkündeten The Cure, dreißig neue Lieder aufgenommen zu haben. Am 13. September 2008 solle das 13. Album der Band erscheinen. Vier Monate im Voraus begann die Gruppe damit, jeweils eine Single mit zwei neuen Stücken zu veröffentlichen. Die Lieder – angefangen mit The Only One im Mai – erschienen jeweils am Monatsdreizehnten.

Selbst als die Veröffentlichung des Albums um sechs Wochen verschoben wurde, folgten The Cure einem Notfallplan, der die Symbolik der 13 aufrechterhielt: Sie veröffentlichten ein Minialbum mit fünf Remixen der Singles. Vier mal zwei plus fünf? Genau, 13. Das Album heißt – für alle, die es ganz explizit wollen – 4:13 Dream, es sind 13 Stücke drauf. Wozu diese überbetonte Symbolik? Sind die Lieder so schwach?

4:13 Dream ist ein zerrissenes Album. The Cure wildern in ihrer eigenen Vergangenheit. Underneath The Stars ist aus dem selben Garn gewebt wie der düstere Klangteppich Disintegration, nur ein bisschen ausgewaschen. The Only One und The Perfect Boy sind fröhliche Poplieder, wie die Band sie Mitte der Achtziger sang. Sirensong erinnert an Wish und Sleep When I’m Dead hätte auf Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me nicht gestört, Freakshow ist ähnlich exzentrisch wie viele Stücke auf dem schlechten Wild Mood Swings.

Nur: Die zitierten Werke waren stark innerhalb der stimmungsvollen Dramaturgie der jeweiligen Alben. 4:13 Dream hingegen klingt wie ein Gemischtwarenladen.

Die Zerrissenheit wäre vielleicht sogar unerheblich – oder zumindest weniger auffällig – wenn die Lieder nicht so belanglos wären. Stücke wie It’s Over und Switch mühen sich redlich, nach The Cure zu klingen, haben melodiös aber kaum etwas zu bieten.

Auf früheren Alben ist es der Band so oft gelungen, der Schwere eine betörend leichte Melodie entgegenzusetzen, da durchbrach ein Kieksen Robert Smiths weinerlichen Tonfall. Nun hört man, wie The Cure versuchen, Schwermut und Schmunzeln in die Waage zu bringen – und wie es immer wieder misslingt. Vor allem, wenn Porl Thompson eine Schippe grobes Gitarrenkorn auflegt, ist die Einfallslosigkeit frappant!

Besser sind die Lieder, in denen die Band behutsam zu Werke geht. In The Only One etwa. Es überragt alle anderen Stücke und ist das einzig richtig gute. Zwei, drei andere Lieder sind immerhin in Ordnung. Größere Inseln im aufgewühlten Meer des Gitarrenkreischens gibt es leider nicht.

Manches Stück – etwa Sleep When I’m Dead – wäre wohl gar nicht so unerträglich, wenn das Album ordentlich produziert wäre. 4:13 Dream klingt furchtbar breiig – wie schon die letzten drei Alben der Band. Vor allem dem Bass fehlt der pointierte Plopp, zäh wie Bitumen breitet sich sein dumpfes Grollen über allem aus.

Vielleicht sind die Ohren des Herrn Smith einfach schlecht geworden über die Jahre? Er ist ja auch schon beinahe 50 und ließ seine Trommelfelle an unzähligen Abenden vom eigenen Krach durchwalken. Es heißt, er betrachte die Band als seinen Besitz, er habe auch auch diesmal an den Reglern gedreht, gemeinsam mit dem Hitparadenfüller Keith Uddin.

Im Volksmund ist die 13 das „Dutzend des Teufels“, in vielen Hochhäusern gibt es keinen 13. Stock. In Flugzeugen folgt Reihe 14 auf Reihe 12, selbst die Angst vor der 13 hat einen Namen: Triskaidekaphobie. Vielleicht hätten auch The Cure auf ihr 13. Album verzichten sollen? Noch vor seinem 50. Geburtstag am 21. April 2009 solle das 14. erscheinen, kündigte Robert Smith bereits an.

„4:13 Dream“ von The Cure ist auf CD und LP bei Geffen/Universal erschienen.

Hier geht’s zur klingenden Diskografie aller bisherigen Alben von The Cure »

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Whiskey zu Wasser

Über die Jahre (44): Das Debütalbum der Tindersticks bewies es im Jahr 1993 ein für allemal: Die unglücklichen Menschen schreiben die aufregendsten Lieder

Im Sommer 1992 packen die erfolglosen Musiker Stuart Staples und David Boulter ihre Habseligkeiten in einen Ford Transit und verlassen Nottingham. Sie steuern die M1 hinunter nach London. Mit einigen alten und einigen neuen Freunden mieten sie ein Haus im Stadtteil Kilburn, in der Küche richten sie ein Studio ein.

Nach der Arbeit und an Feiertagen schreiben sie Lieder und spielen sie in ein altes Aufnahmegerät. Zwei Stücke pressen sie auf eine Single und veröffentlichen sie unter dem Namen Tindersticks. Kurz darauf mieten sie ein Studio und nehmen 23 Stücke auf, das winzige Label This Way Up zahlt die Rechnung. Das Debütalbum der Tindersticks erscheint dort im Herbst 1993. Eine dürre Frau im rotwallenden Kleid ziert die Hülle, sie tanzt.

Die unglücklichen Menschen schreiben die besten Lieder. Die Tindersticks scheinen damals sehr unglücklich gewesen zu sein. Wie schwere Regentropfen auf Kopfsteinpflaster plumpsen die Klaviertöne in eine kuschelige Orgeldecke, verwunschene Klöppeleien auf dem Vibrafon wirbeln wie aufgeschlagene Daunen durch den Raum. Der Schlagzeuger kämpft gegen den Sekundenschlaf, der Gitarrist hat vergessen, sein Instrument zu stimmen. Über all das legt sich die Stimme von Stuart Staples. Doch von vorn:

Mit Nectar beginnt die Platte, das lullt sich ins Ohr. Bis der Sänger erklingt, verheißt das Stück Fröhlichkeit, die Gitarre jauchzt, die Schellen hüpfen. Nach – Moment – elf Sekunden erhebt Stuart Staples seine Stimme, oder besser: er versenkt sie. So tief, so zart, so unsicher klingt er. Er lässt sich nass regnen, die Daunen kleben an ihm. Nur im Refrain reißen die Streicher nach oben aus. Das folgende Tyed schleppt sich, steigert sich, vereint schräge Streicher und schrille Trompeten in schließlich überraschender Harmonie, steigt immer weiter an, fällt plötzlich ab und endet in einem See aus Klang.

Tyed ist ein Spiegel der ganzen Platte. „Turn my whiskey into water“, singt Staples und schenkt großzügig von beidem ein, Whiskey und Wasser. Die Tindersticks wägen nicht ab, immer wollen sie alles zur selben Zeit: Tempo und Langsamkeit, Geduld, Behutsamkeit und aufreibende Hektik, Harmonie und schräge Töne, ja, Harmonie aus schrägen Tönen. Sie orchestrieren das Chaos. Auf die schwermütige Grundierung tragen sie mit euphorischem Pinselstrich tausend Farben auf, sie wirbeln im Affekt.

In den seltenen Momenten der Ruhe wartet der Hörer ungeduldig auf den nächsten Ausbruch. Stuart Staples erzählt derweil von einem Dutzend gescheiterter Beziehungen, immer wieder von Neuem klagt er sein Leid: „Was there once something so pure that left me whole and precious? But now, broken, wondering. Everything I crave I become, everything I left forgotten, everything I love I become. Cos that’s what happens when you reach the bottom.“ Puh.

Das Album folgt einer genialen Dramaturgie. Nach einer Stunde kulminiert es in Her. Einem enervierenden Gitarrengedaddel folgt ein zweieinhalbminütiger Vulkanausbruch. Alles klagt, die Stimme, die Instrumente, und doch ist da eine Kraft, die Pompeji glatt ein zweites Mal verschütten könnte.

Die Tragik eines ganzen Lebens strahlt hier in einem einzigen Lied. Ein Zittern, dann greift Stuart Staples tief in die Textkiste des Existenzialisten: „Scared of my shadow, afraid of myself. Never thought I could be so shallow, resort to playing a man.“ Mariachi-Bläser verlegen das Drama nach Guadalajara, eine atonal schrillende Gitarre zerrt die Geschichte zurück nach England.

Ein kurzes Durchatmen, dann bäumt die Band sich wieder auf. Drunk Tank entfesselt einen Sturm, erst jetzt sind wir über den Berg. Ein ganzes Orchester vermag man zu hören, es schallt von überall. Was soll nun noch kommen? Die gelungene Abwicklung: Paco De Renaldo’s Dream ist chaotisch, zu monotonen Folgen des Klaviers erzählt Stuart Staples einen Traum, zum ersten Mal mit sicherer Stimme. Und The Not Knowing ist der Epilog, verträumte Oboen und Klarinetten lösen die Spannung. „The not knowing is easy“, singt Staples.

So prätentiös es klingen mag: Dieser Platte muss man Raum schaffen, ihre ganze Größe entfaltet sie bei einem Glas Rotwein im Kerzenschein. Schön waren die Tindersticks auch später noch, auch euphorisch, traurig und kraftvoll. Aber nie wieder klang das alles so zusammen wie auf dieser ersten Platte, der mit der dürren Tänzerin.

Das unbetitelte Debütalbum der Tindersticks ist im Jahr 1993 auf CD und Doppel-LP bei This Way Up erschienen und im Jahr 2004 auf Doppel-CD bei Island/Universal wiederveröffentlicht worden – erweitert um zwölf der in der WG-Küche entstandenen Demoaufnahmen.

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(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)
(39) GAS: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)

Eine vollständige Liste der bisher in dieser Rubrik besprochenen Platten finden Sie hier.

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Episch heult der Adler

Ein Klöppel in der linken Kralle, ein Bündel Saiten in der rechten und im Schnabel ein Band mit den Worten E pluribus unum, aus vielen Eines: Mogwai sind der Greif unter den Instrumentalkombos

Mogwai The Hawk Is Howling

Der Weißkopfseeadler ist der größte Greifvogel Nordamerikas. Seine Flügel umspannen im Flug zweieinhalb Meter Luft, im Sitzen ist er so groß wie ein Erstklässler. Der Mensch hat ihn durch das Insektizid DDT in den Fünfzigern fast ausgerottet, heute lebt der Vogel vor allem in Alaska, Florida und Kanada. Er ziert das Wappen der Vereinigten Staaten – einen Olivenzweig in der linken Kralle, ein Bündel Pfeile in der rechten und im Schnabel ein Band mit den Worten E pluribus unum, aus vielen Eines. Bald Eagle heißt er übrigens auf englisch, kahler Adler.

Mogwai kommen aus Glasgow, sie spielen Rock. Ein Weißkopfseeadler ist auf die Hülle ihres neuen Albums The Hawk Is Howling gemalt. Ein rätselhafter Titel, schließlich ist ein Hawk ja ein Falke und kein Adler. Und heulen Falken? Heulen Adler? Das Rätsel muss Rätsel bleiben, denn Mogwai spielen ihren Rock ohne Worte. Und irgendwie passt der Adler doch, das majestätische Gleiten eines Riesengreifs kann man sich zu ihrer hymnischen Musik wirklich gut vorstellen.

Federvieh steckt auch hinter dem Namen der Band, eine unansehnliche Kreatur in dem Film Gremlins trug ihn im Jahr 1984. Mogwai ist außerdem das kantonesische Wort für Geist. Das habe alles gar keine Bedeutung, sagte der Gitarrist Stuart Braithwaite einmal, der Band sei einfach kein besserer Name eingefallen. Die Musiker hätten sich vorgenommen, irgendwann einen besseren Namen zu suchen, seien aber bislang nicht dazu gekommen.

Das ergäbe nun wohl auch keinen Sinn mehr, schließlich haben Mogwai bereits sechs, sieben Alben aufgenommen und es zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Außer Prince kann sich wohl niemand spontane Umbenennungen leisten.

Auch das ist rätselhaft: Wie kommt man eigentlich auf einen Titel, wenn man nicht singt? Das erste Stück auf The Hawk Is Howling heißt I’m Jim Morrison, I’m Dead. Warum I am? Und klar, Morrison ist tot. Hat die Band hier die Autobiografie des Sängers vertont? 27 Jahre in 6 Minuten 46? Zu Beginn klimpern ein paar verträumte Klavierklänge (Morrisons Kindheit), dann scheppert das Schlagzeug einen verschlafenen Takt (der im Alter von 4 Jahren beobachtete Autounfall), schließlich mischen ein paar handfeste Gitarrenakkorde mit (Studium der Filmwissenschaft). Im Mittelteil wird es hymnisch und stetig lauter (Liebe, Drogenerfahrungen und Vietnamkrieg), das Ende des Stücks zerquietscht kurz und heftig (Ruhm und Tod). Man kann sich in der Deutung der Zusammenhänge von Titel und Klängen einiges einfallen lassen. Mogwai werden den Teufel tun und sich dazu äußern.

Zwei andere Stücke heißen The Sun Smells Too Loud und Thank You Space Expert. Wie bitte? Die Mogwai in der Stimmung ähnliche amerikanische Band Tortoise taufte eines ihrer Instrumentalstücke vor Jahren A Simple Way To Go Faster Than Light That Does Not Work. Bedeuten die Titel also eigentlich – gar nichts?

Das letzte Album von Mogwai war eine Filmmusik, da war die Entschlüsselung einfacher. In Zidane: Un Portrait Du 21e Siècle richtet die Kamera ihren Blick für 90 Minuten auf Zinedine Zidanes Weg über das Fußballfeld in einem völlig unbedeutenden Spiel. Mogwai unterlegten die Bilder mit epischen Klängen – ohne die Musik wäre der Film langweilig, mit ihnen ist er hübsch.

Episch geht es auf The Hawk Is Howling zwar doch meist, aber nicht immer zu. Die Single Batcat etwa ist ein massiver Brecher von schlecht gelauntem Gitarrenhin- und hergekoppel. Und angesichts der poppigen Melodie von The Sun Smells Too Loud gackert eher ein Perlhuhn, als dass ein Adler gleitet. [Das von einem Fan geschnittene Musikvideo ist einen Blick wert, es passt wirklich gut.] Aus vielen Eines ist gar keine schlechte Beschreibung der Musik von Mogwai auf dieser Platte.

Vor einem Jahr wurde übrigens der Weißkopfseeadler von der Liste der gefährdeten Tiere gestrichen.

„The Hawk Is Howling“ von Mogwai ist als CD und Doppel-LP bei Wall Of Sound/Rough Trade erschienen.

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Vom Orkus zum Krokus

Über die Jahre (43): Ein Tipp zum Herbstanfang: Im Jahr 1985 nahmen die Sisters Of Mercy „First And Last And Always“ auf – eine Platte, die das lange Warten auf den Frühling noch heute erträglich macht

Der Sommer ist vorbei. Immer häufiger schielen wir in Richtung Heizung, schütten Rum in den Kakao – und auch die Musik, die wir noch neulich mochten, gefällt uns heute nicht mehr. Der melodieverliebte Pop des Sommers klingt nun aufgesetzt, die Leichtfüßigkeit Brian Wilsons steht diesen Tagen ebenso schlecht zu Gesicht wie die Aggressivität Metallicas. Heute beginnt der Herbst, es ist Zeit für andere Platten, für Schwere und Regression. Es ist mal wieder Zeit für First And Last And Always, das erste Album der Sisters Of Mercy.

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass die Platte erschien, aber der Schwermut des Sängers Andrew Eldritch klingt kein bisschen abgenutzt. Das Album ist ein Dokument des Rückzugs. Das passt durchaus in die Zeit, in der es erschien, in den Post-Punk, der dem Expressiven des Punk ein Gegengewicht sein wollte. Und doch waren andere frühe Düsterrocker wie Bauhaus und The Cure immer mehr Rocker oder Popper, als dass sie es mit dem Fürsten der Finsternis Andrew Eldritch aufnehmen konnten.

Anfang der Achtziger hatten die Sisters Of Mercy einige Singles veröffentlicht. Stücke wie Body Electric, Alice oder Temple Of Love waren im Tempo und den Harmonien noch nah am Punk, auch die rumpelige Coverversion von 1969 der Stooges passte gut ins Bild. Nur diese tiefe – oft kieksende – Stimme des Sängers und der viele Hall klangen ganz und gar nicht nach Punk. Die Sisters Of Mercy wirkten selbst noch unschlüssig, wohin die musikalische Reise gehen sollte. John Peel fand das unerhört genug, sie zu zwei Sessions einzuladen.

Mit First And Last And Always sagten sie dem Punk ade und fanden einen eigenen künstlerischen Ausdruck. Sie schalteten einen Gang zurück und drehten den Hall weiter auf. Andrew Eldritch sang nun noch tiefer. Die Gitarre spielte dezidierte Töne, im Vergleich zu den kraftvollen Akkorden heutiger Gotikrocker mutet ihr Gedengel naiv an. Schlagzeuger sind Andrew Eldritch generell zu unbeherrscht und eigensinnig, deshalb hämmert im Hintergrund Doktor Avalanche, ein Computer. Der galoppierende Rhythmus des Titelstücks und der Sirtaki in Marian klingen erstaunlich – so würde heute niemand mehr Sehnsucht oder Trauer verschlüsseln. Die seit fünfzehn Jahren im Genre obligatorischen Frauenstimmen muss man hier nicht ertragen, die meisten Chöre bestehen aus der mehrfach aufgenommenen Stimme des Sängers. Das Album sei recht dünn produziert, heißt es heute oft. Vielleicht ist es gerade deshalb so gut?

Die Texte sind düster, doch weder nihilistisch noch martialisch. Eldritch singt von den unterschiedlichen Stadien des Scheiterns einer Beziehung, von beginnender Wortlosigkeit, von Verletzungen, der misslingenden Rettung aus den Untiefen der Melancholie – und von den Amphetaminen, die das Leid auch kaum zügeln können. Das Album gipfelt in Some Kind Of Stranger, da geht die Beziehung ins Metaphysische über, die schließlich doch zärtliche Berührung geht aus von einem Engel.

First And Last And Always war stilbildend. Keinem der Nachgänger gelang es, das Album zu übertreffen. Nicht einmal den Sisters Of Mercy selbst. Im Jahr 1987 nahm Eldritch mit Hilfe der Sängerin Patricia Morrison und Meat Loafs Produzenten Jim Steinman das furchtbar pathetische Floodland auf, vier Jahre danach – mit wiederum anderen Musikern – das krachige Rockalbum Vision Thing. Eldritch trug nun immer dicker auf, zuletzt auf einer neuen Version von Temple Of Love und dem letzten auf Platte erschienenen Stück Under The Gun, das ist fünfzehn Jahre her. Seitdem hat die Band nichts mehr veröffentlicht: Zuerst verweigerte Eldritch sich seiner Plattenfirma East West Records. Als der Vertrag nach jahrelangen Streitigkeiten gelöst wurde, fand er keine neue. Es heißt, er verlange drei Millionen Dollar Vorschuss und volle künstlerische Freiheit.

Auch ohne Platte sind die Sisters Of Mercy in ständig wechselnder Besetzung regelmäßig auf Tour. Schaut man sich die Live-Mitschnitte neuer Stücke an, so mag es einen traurig stimmen, dass es keine neuen Alben gibt.

So unanhörlich aktuelle Gotikrockplatten oft sind: Mit First And Last And Always kann der Herbst gerne kommen, die meisten norddeutschen Winter übersteht man damit auch. Künden dann die Schneeglöckchen und Krokusse vom Frühling, wandert die Platte wieder in die Kiste.

„First And Last And Always“ von The Sisters Of Mercy ist im Jahr 1985 auf CD und LP bei WEA erschienen und im Jahr 2006 auf CD bei Warner Music mit einigen Bonusliedern wiederveröffentlicht worden.

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Verstecken Sie Miss Saigon!

Früher war Damon Albarn Sänger der Band Blur. Heute macht er, was er will. Sein letzter Streich ist die chinesische Oper „Monkey – Journey To The West“, die doch ganz nach Pop klingt.

Monkey Journey To The West

Vier goldenen Regeln sollte der Popstar folgen: Lass, erstens, die Finger von der Weltmusik. Nimm, zweitens, kein Soloalbum auf, es sei denn, du kannst es groß vermarkten. Gründe, drittens, niemals eine Supergruppe. Und bleib, viertens, um Himmels Willen bei deinen Leisten.

In seinem ersten Leben war Damon Albarn Sänger der Band Blur, ein Popstar also. In seinem zweiten Leben bricht er nun die Regeln. Er wagt Ausflüge in die musikalische Ferne, nahm etwa in Mali und Nigeria auf – nie trat er als Gutmensch auf, nie klang das Ergebnis betulich oder gar kolonialistisch. Er zog sich während einer Tour mit Blur ins Hotelzimmer zurück und veröffentlichte hernach Democrazy: Zwei Dutzend glasknochiger Liedfragmente, nachzuhören nur auf Schallplatte. Er gründete mit drei namhaften Musikern die Gruppe The Good, The Bad & The Queen. Statt mit Streit und Skandalen erfreute sie die Öffentlichkeit mit einem fabelhaft gelassenen Album.

Nun bricht er auch die vierte Regel, er wechselt das Fach. Gemeinsam mit dem Zeichner Jamie Hewlett – mit dem er bereits die virtuelle Band Gorillaz ersann – und dem chinesischen Regisseur Chen Shi-Zheng schuf er eine Oper, Monkey – Journey To The West. In den vergangenen zwölf Monaten bestaunten beinahe 100.000 Menschen das Ergebnis in Manchester, Paris und London. Rund einhundert Artisten turnten über die Bühne, begleitet von Hewletts Zeichentrickfilmen. Die Geschichte stammt aus dem 16. Jahrhundert, gesungen wird auf Mandarin. Nun erscheinen 22 der Stücke des Spektakels auf einer CD, die man im Laden zwischen Blur, Gorillaz und Mali Music in der Pop-Abteilung finden wird.

Schon spannend, wie der Kontext die Wahrnehmung verändert. Der Münchner Folk-Musiker Andi Stäbler alias G.Rag etwa nahm gerade mit den Landlergschwistern ein ganzes Album mit Polkas, Landlern und Wirtshausklassikern auf, ungeschliffen aber doch ganz und gar volkstümlich. Das Album erscheint bei dem Indielabel Gutfeeling und wird meist wohlwollend rezensiert, es dürfte auch in dem ein oder anderen des Volkstümlichen unverdächtigen Haushalt laut erklingen.

Oder Alexander Marcus: Seine Mischung aus minimalem Techno und geistlosem Schlager ist dem musikalischen Ausfluss der Flippers nicht fern, dennoch sitzen seine Anhänger nicht in Altersheimen und auf Ohrensesseln, sondern im Hörsaal und auf Designersofas. Bei den Indie-Festivals des Sommers jubelten ihm Massen schräggescheitelter Jugendlicher zu. Die Plattenfirma und seine Stilberater verkaufen Marcus als Indie-Star. So schlucken nun viele die bittere Pille Schlager, ohne mit der Wimper zu zucken. Oder Madlib: Auf mehreren Platen durchmischte der respektierte HipHop-Produzent Klangfetzen aus Bollywood-Filmen mit seinen flirrenden Rhythmen und breiten Basstrommeln. Damit füttern selbst Menschen ihre Autolautsprecher, denen der Anblick von Shahrukh Khan Unwohlsein bereitet.

Und Monkey? Albarn fröhnt einer ganz erstaunlichen Art der Opulenz. Die Gesten sind groß, wie sich das für eine Oper gehört, aber sie erklingen aus analogen Synthesizern, Schlagzeugcomputern und den Ondes Martenot. Oft füllen die überkandidelten Spielhöllen-Klänge der Gorillaz die Zwischenräume. Die meisten Lieder sind kürzer als zwei Minuten, das hält den Überschwang sowieso in Grenzen. Und, das ist entscheidend, Albarn meint seinen Ausflug in die Oper nicht ironisch. Er komponierte die Musik nach einer volkstümlichen chinesischen pentatonischen Skala, und doch trägt jedes Stück seine Handschrift – das gelang ihm bislang bei jedem Projekt. Die Schwere ist seine Sache nicht, überall schwingt eine leichtfüßige Melancholie mit. Auch ohne Bilder klingt Monkey – Journey To The West an vielen Stellen wie ein Popalbum.

Zu welchen Gelegenheiten man so eine Platte hört? Keine Ahnung. Aber man kann sie immerhin neben der Stereoanlage liegen lassen, wenn Freunde kommen. Versuchen Sie das mal mit der CD von Miss Saigon!

„Monkey – Journey To The West“ ist als CD bei XL Recordings/Beggars Banquet erschienen. Eine unfassbar teure Vinyl-Ausgabe ist erhältlich bei The Vinyl Factory

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Kanonenkugel ins Herz

Seit 28 Jahren hat Larry Jon Wilson keine Platte mehr aufgenommen. Jetzt setzte er sich in Florida ans Fenster und zupfte ergreifende Lieder, als sei kein Tag vergangen.

Larry Jon Wilson

Der sanftgebügelte Klang der Fiedel umfängt die Zuhörer, ein schunkelnder Rhythmus fordert sie zum Mitklatschen auf. Das ist eine Sensation, heute Abend und hier in Nashville stehen drei Legenden auf einer Bühne: Billy Ray Cyrus, Shania Twain und Garth Brooks. Sie haben die elektrischen Gitarren umgeschnallt und schicken geschliffene Akkorde ins dankbare Publikum. Keine fünf Minuten hält Kris das aus, »Country kann so abgeschmackt sein«, denkt er sich, »die Neunziger ätzen mich an«. Er geht hinaus…

… geht fünfzehn Jahre zurück. Ein paar Straßen weiter biegt Kris links ab, in eine dunkle Gasse. Dann wieder links, einmal halbrechts, ein paar hundert Meter geradeaus und rechts eine halbe Treppe hinab. Hier haben er und seine Freunde Nashville neu aufgebaut, hier versammeln sich die Country Outlaws in einem winzigen, gemütlichen Kellerstübchen. Johnny Cash ist da und Waylon Jennings, selbst Willie Nelson. Kris lässt sich nieder.

Auf der Bühne steht sein Freund Larry, Larry Jon Wilson. Er hat gerade begonnen zu spielen, allein mit seiner Gitarre und seiner Stimme erfüllt er den Raum und die Menschen mit Leben. Im Bariton grummelt er beseelte Geschichten, banale und dramatische. Sein Country ist nicht glatt, nein, hier schwingen Soul und Blues mit, seine Akkorde sind rau. Am Ende steht das Publikum und applaudiert, vier-, fünfmal muss Wilson auf die Bühne zurückkehren, einige Lieder spielt er doppelt, weil er keine neuen mehr kennt. Alle sind gerührt, der Sänger nicht weniger als sein Publikum. »Dieser Teufelskerl«, flüstert Kris seinem Nebenmann zu, »er bricht dein Herz mit der Stimme einer Kanonkugel«.

Sein Freund steht noch immer auf der Bühne und bedeutet den Jubelnden, dass er noch etwas zu sagen habe. »Freunde… und ich weiß, dass alle, die heute Abend hier sind, meine Freunde sind… Das fällt mir jetzt nicht leicht. Es ist gar nicht lange her, zehn Jahre, da habe ich zum ersten Mal eine Gitarre in der Hand gehalten, nicht hier in Nashville, sondern in Langley, South Carolina. Was ist alles passiert seither? Ich habe gelernt, sie zu spielen, habe meinen Job als Chemiker aufgegeben, habe mit der Hilfe vieler von Euch – Townes, Mickey… – ein paar Alben aufgenommen.« – »Und keine Schlechten, Mister Wilson!«, ruft ein sehr junger Mann dazwischen, viele im Publikum signalisieren lautstark ihre Zustimmung. »Mag sein«, fährt Wilson lächelnd fort, »gekauft hat sie trotzdem niemand, oder? Ich mache es kurz. Vielen Dank für alles, Freunde. Es war mir ein großes Vergnügen, Nashville mit euch gemeinsam hier neu aufzubauen, Stein für Stein! Es war eine schöne Zeit. Macht’s gut.«

»Du verdammter Dickkopf«, ruft Kris ihm hinterher, aber er weiß, das wird nichts ändern.

Achtundzwanzig Jahre später in Florida. Kris lehnt grinsend im Türrahmen und traut seinen Augen nicht. Da sitzt sein Freund Larry Jon Wilson am offenen Fenster – draußen rauscht der Atlantik. Er sitzt da mit seiner Gitarre, nur seiner Gitarre. In der Ecke steht ein Aufnahmegerät, es läuft die ganze Zeit. Wilson öffnet eine Dose Bier und wärmt seine Hände in der warmen Brise. Er stimmt Willie Nelsons Heartland an:

»There’s a home place under fire tonight in the heartland
And the bankers are taking my home and my land from me
There’s a big achin‘ hole in my chest now where my heart was
And a hole in the sky where God used to be
My American dream fell apart at the seams
You tell me what it means, you tell me what it means.«

»Warum ausgerechnet jetzt? Und warum hast du 28 Jahre gebraucht, diese fantastischen Lieder endlich aufzunehmen?« – »Ach weißt du, Kris. Ich wollte es einfach noch einmal versuchen, egal wie stümperhaft das klingt. Was meinst du?« Kris schnappt nach Luft, er kann es einfach nicht fassen.

Eine Woche lang nimmt Larry Jon Wilson auf, was ihm einfällt, die meisten Lieder komponiert er selbst. Freunde kommen vorbei und lauschen, reden. Die Erinnerungen verwandeln sich in Lieder, aus Liedern werden neue Erinnerungen. Er nimmt jedes Lied nur einmal auf, kein Produzent legt Hand an. Ein paar Mal spielt eine kaum hörbare Geige im Hintergrund, als käme sie aus dem Nebenzimmer. Wilson stört sich nicht an schiefen Tönen, entzupft seiner Gitarre ein paar intuitive Country- und Bluesakkorde und erzählt, was ihm einfällt. Er ergeht sich in Selbstmitleid: »I’d miss you, if I knew what I was missing«, singt er in der bewegenden Losers Trilogy – und rechnet ab. Er berichtet von düsteren Träumen und gescheiterter Liebe, aber seine warme Stimme gibt einem das Gefühl, das Leiden sei gar nicht so schlimm.

Ein paar Wochen darauf: Will Oldham eilt Nashvilles Hilsboro Road hinunter und stolpert ins Bluebird Café. Stolz wedelt er mit einer selbstgebrannten CD, die der Country-Haudegen Kris Kristofferson ihm gerade geschickt hat. »Liebe Leute, kauft euch diese Platte, bitte. Das hier sind zwölf Lieder, denen man anhört, dass sie aus der Tiefe kommen. Dagegen klingt selbst Johnny Cash überladen.«

Das unbetitelte fünfte Album von Larry Jon Wilson ist als CD bei 1965 Records/Alive erschienen. Die vier Alben, die er in den Jahren 1975 bis 1979 aufnahm, sind derzeit unverständlicherweise nicht erhältlich.

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Platte, die siebenundvierzigste

Vor 30 Jahren gelang es Wire, die Kraft des Punk aufzusaugen und sie in etwas Neues umzusetzen. Heute spielen sie essenziellen Rock und legen ein Album der Superlative vor.

Wire Object 47

Es ist offenbar das Jahr der Rückkehr der britischen Post-Punker. Im Herbst kommt ein neues Album von The Cure. Nach 13 Jahren erschien kürzlich ein neues Album von Siouxsie, allerdings ohne ihre Band The Banshees. 25 Jahre nach ihrem letzten Studioalbum brachten Bauhaus im Mai Go Away White heraus. Und 28 Jahre nach Closer sprachen nun sogar alle über Joy Division, obschon die Band nichts Neues veröffentlicht hatte. Ein Superlativ jagt den anderen.

Fünf Jahre sind vergangen seit dem letzten Album von Wire, einer weiteren einflussreichen Post-Punk-Band. Siebzehn seit ihrem vorletzten. Object 47 nennen sie ihr neues Werk. Die Hülle ziert die Fotografie eines – ja, was ist das eigentlich? Ein Wasserturm? So ist das immer mit Wire. Nie weiß man genau, woran man ist, was als nächstes kommt. Doch was auch immer passiert, sie haben sich etwas dabei gedacht. Der Albumtitel etwa: Zehn Studio- und sechs Livealben, sieben Kompilationen und 23 Singles standen bislang zu Buche, Object 47 ist der 47. Eintrag in der Diskografie.

Wire gründeten sich im Oktober 1976 in London, dann und dort brach gerade der Punk aus. Ihre erste Platte Pink Flag erschien zwölf Monate später – sie zehrte auch vom Punk, war musikalisch und textlich aber weiter entwickelt und besser informiert. Das folgende Chairs Missing sollte ihr Opus summum werden und bleiben, daran ändert auch Object 47 nichts.

Die weitere Geschichte der Band ähnelt dem Stop and Go auf britischen Autobahnen zur Sommerferienzeit: Nach drei Alben bzw. Jahren lösten sie sich auf. Mitte der Achtziger fanden sie erneut zusammen, zwischen 1987 und 1991 veröffentlichten sie eine Handvoll Platten. Das letzte davon, The First Letter spielten sie als Wir ein – den Buchstaben e hatten sie gestrichen, da der Schlagzeuger Robert Grey für ein paar Monate ausgestiegen war. Er fand seinen Einsatz angesichts der zunehmenden Verwendung von Schlagzeugcomputern überflüssig. Als zwölf Jahre darauf das nächste Album Send erschien, war er wieder dabei.

Die Versuche im Elektronischen hatte Send beendet, auch auf Object 47 hält sich das Synthetische in Grenzen. Robert Grey lässt sein Schlagzeug ganz organisch rumpeln. Dominiert aber werden die neun neuen Stücke –

[Ja, nur neun Lieder in 35 Minuten. Auf ihrem Debütalbum brachten sie in derselben Zeit 21 Stücke unter.]

– dominiert werden sie vom Bass. Verschwand er früher im Elektrowust oder hinter der Gitarre, steht er heute deutlich im Vordergrund. Der Bass reißt die Melodien an, die Colin Newman mit seiner schnarrenden Stimme übernimmt. Oft treiben sich Schlagzeug und Bass voreinander her, die Gitarre setzt dann nur dezente Tupfer oder doppelt den Bass.

Es mag am Fortgang des Gitarristen Bruce Gilbert liegen. Vor den Aufnahmen zu Object 47 verließ er die Band. So sehr sein dezidierter Anschlag den frühen Platten der Band Energie verlieh, so enervierend waren seine kreischigen Akkorde auf Send. Überhaupt, das war kein gutes Album, einfallsloser Rock ohne Pfiff. Aber welches Album der Band im vergangenen Vierteljahrhundert war schon richtig gut? The Ideal Copy vielleicht, aber das ist auch schon 21 Jahre her. Und an die ersten drei Jahre konnte es nicht anknüpfen.

Object 47 kann das, wenn Wire heute auch vollkommen anders klingen als damals. Sie machen nun eher Rock als Punk, das damals standesgemäß Verzerrte weicht der Klarheit. Manche der Stücke sind sofort liebenswert – das stampfende Eröffnungsstück One Of Us und Mekon Headman etwa. Die meisten anderen brauchen mehrere Durchläufe. Gibt man dem Album Zeit, dann wachsen schließlich auch das anfangs zu leichtfüßige Four Long Years und das träge Patient Flees so weit, dass Object 47 als großes Ganzes erklingt.

Vor dreißig Jahren gelang es Wire, die Kraft des Punk aufzusaugen und sie in etwas Neues umzusetzen – heute machen sie eine Rockplatte, die vom Rock nur noch die Energie besitzt. So erhebt also auch Object 47 seine Stimme im Orchester der Superlative: Es ist Wires erstes wirklich großartiges Album seit 29 Jahren.

»Object 47« von Wire ist als CD bei Pink Flag/Cargo erschienen, eine LP soll folgen.

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Den Keller voller Geräte

Matmos aus San Francisco sind emsige Klangforscher. Nun haben sie unzählige Synthesizer geschultert und stapfen mit ihrem neuen Album »Supreme Balloon« in Richtung Club.

Matmos Supreme Balloon

Platte oder CD? Gute Frage. Als die CD eingeführt wurde, lockten viele Künstler mit Bonusstücken, die den Kauf des teureren Silberlings attraktiv machen sollten. Der Schallplatte drohte das Ende, als Anfang der Neunziger viele Alben nur noch auf CD erschienen. Es blieb ein kleiner Liebhabermarkt. Seit einiger Zeit nun produzieren selbst die großen Plattenfirmen wieder Schallplatten ihrer namhaften Popkünstler, Madonnas Hard Candy erscheint ebenso auf LP, wie das neue Alben von Coldplay. Mancher Plattenhülle liegen die digitalen Versionen der Lieder bei, anderen ein Schlüssel, mit Hilfe dessen man sie ganz umsonst aus dem Netz ziehen kann. Derweil soll der Absatz der CD wiederum durch limitierte Auflagen mit geschenkten DVD-Beilegern angekurbelt werden. Doch wie viel Bonus braucht der Mensch, um sich für die jeweilige CD oder LP zu entscheiden? Ein Musikvideo? Einen Film über die Band? Zwei, drei Lieder?

Das amerikanische Elektro-Duo Matmos macht dem Hörer die Entscheidung leicht. Sind auf der silbernen Version ihres neuen Werks Supreme Balloon sieben Stücke zu hören, schallen aus den schwarzen Rillen der Doppel-LP derer elf. Unter den vier vinyl-exklusiven Stücken sind einige der besten des Albums, auf einem davon, Hashish Master, improvisierte der Minimal-Musiker Terry Riley auf den Tasten. Die schweren Scheiben sind in stabilen Karton gebettet, die abstrakten Computerzeichnungen auf der Hülle der CD kaum zu erkennen – geschweige denn oben links in diesem Artikel. Wer die Platte kauft, kann sich alle elf Stücke von der Internetseite der Plattenfirma Matador in guter Qualität herunterladen. Da lohnt sich der Plattenkauf selbst für Menschen, die gar keinen Plattenspieler besitzen. Und er lohnt sich nicht nur, weil er dem Besitzer das Gefühl gibt, reich beschenkt worden zu sein. Er ist auch musikalisch durchaus sinnvoll.

Martin Schmidt und Drew Daniel sind Matmos, sie kommen aus San Francisco. Ihre bisher sechs Alben folgten jeweils einem experimentellen klanglichen Konzept. Auf The Civil War setzten sich Matmos im Jahr 2003 klanglich und inhaltlich mit dem britischem und dem amerikanischen Bürgerkrieg auseinander. Zwei Jahre zuvor fügten sie A Chance To Cut Is A Chance To Cure aus Klangschnipseln medizinischer Gerätschaften zusammen. Die Rhythmen bastelten sie aus den Geräuschen brechender Knochen und schneidender Skalpelle, Fettabsauger und chirurgische Laser spendeten minimalistische Melodien. Stellenweise klang das nach harmlosem Techno-Pop. Allein das ihrer Ratte gewidmete To Felix (And All The Rats) spielten sie auf dem Käfig des verstorbenen Tieres.

Die Vorgabe für das neue Album Supreme Balloon ist dagegen recht banal. Matmos versichern, man höre hier ausschließlich Synthesizer und kein einziges Mikrofon. Eine Elektronikband nimmt ein rein elektronisches Album auf, ist das wirklich etwas Besonderes? Bei Matmos schon, schließlich mussten sie nun ohne die vielen Klangfetzen ihrer Umwelt auskommen, ohne Küchengeräte, elektrische Zahnbürsten und Rattenkäfige. Klingen durfte nur, was im Synthesizer schon drin war.

Und was hier alles klingt!

Auf ihrer Internetseite erläutern die beiden Musiker recht genau, welche elektronischen Schätze und musikalischen Einflüsse zu hören sind und wo die verwendeten Instrumente bereits früher zu vernehmen waren. Hier ein modularer Doepfer Synthesizer, ein Korg MS-20 und ein ARP 2600, dort ein Dubreq Stylophone, ein Coupigny Synthesizer und ein Electro Comp 100. Man liest all diese Namen, ohne sie wirklich zu verstehen. Aber eines ist klar: Martin Schmidt und Drew Daniel haben den Keller voller Klangmacher – und sie sind vollkommen durchgedreht.

Und wie es klingt!

So abschreckend die Worte Experiment und Konzept wirken, so leicht man Kühle assoziiert, hört man Elektronik: Supreme Balloon strahlt eine heimelige Wärme aus, es lebt. Manch einer der Synthesizer ist beinahe 50 Jahre alt, viele Töne umgibt ein analoges Flirren. Rainbow Flag kokettiert mit einem lateinamerikanischen Rhythmus. Die torkelnde Melodie kommt aus dem Stylophone, einem kleinen Synthesizer, den man in der Hand hält und dessen winzige Tasten man mit einem Metallstab bedient. Zu Zeiten des Manchester Rave Ende der Achtziger tönte diese Taschenorgel in vielen Tanzkrachern.

Oder Polychords: Der Rhythmus stapft in Richtung Club, irgendein sicher namhafter Synthesizer schiebt harmonische Flächen hinterher. Zwischendurch brodelt und knarzt es kurz, wir tanzen auf der Stelle. Dann geht es steten Schrittes weiter, nach dreieinhalb Minuten sind wir angekommen, es ging viel zu schnell. Zemoi funktioniert ähnlich, kombiniert harte Rhythmen mit Hymnischem. Les Folies Francaises und Cloudhoppers sind expressionistische Spielereien ganz ohne Taktschlag. Ganz anders Mister Mouth und Exciter Lamp And The Variable Band, hier betreiben Matmos weniger leicht konsumierbare Rhythmusexperimente. Doch selbst aus dem Abstrakten schälen sich hier und da greifbare Melodien. Komplex klingen vor allem Hashish Master und das Titelstück, in ihnen kommt alles Vorhergenannte zusammen. Supreme Balloon nimmt die Seite D des Albums vollkommen ein und führt den Hörer vierundzwanzig Minuten lang durch die Höhen und Tiefen der Klangerforschung.

Supreme Ballroom wäre ein viel besserer Titel für dieses berauschende Album gewesen. Matmos bringen das elektronische Experiment zum Tanzen. Sie selbst nennen das: »Traditionelle synthetische Küche, serviert in ungezwungener Atmosphäre«. Da ist man gern zu Gast.

»Supreme Balloon« von Matmos ist auf CD und Doppel-LP bei Matador/Beggars Banquet erschienen.

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Alles Island-Klischees?

Sigur Rós zeigen auf der Hülle ihres neuen Albums ganz ungeniert ihre vier blonden Popos. Sie spielen Musik, die nach Wildbächen, Elfen und freier Liebe klingt. Und manchmal rumpelt es ganz gehörig.

Sigur Ros Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust

Schön ist es im Island von Sigur Rós. Kürzlich luden sie das Publikum mit dem Film Heima ein zu einer Reise über die dünn besiedelte Insel. Die Band spielte ihre getragenen Lieder nicht in großen Hallen sondern in den Häusern der Menschen, auf ihren Weiden, sie traten auf am Fuß eines Gletschers und in einer Ruine.

Vielleicht lag es an den warmen Farben der Bilder, vielleicht an den entspannten Inselbewohnern, dass Heima wirkte wie der heimliche Blick in die Zimmer einer großen Wohngemeinschaft. Isländer lieben nicht die Nation oder den Staat, sie lieben die Natur. Der Film legt nahe, dass das mehr ist als ein Klischee.

Kein Wunder also, dass die Beschreibungen der Musik von Sigur Rós, von Björk und vielen anderen Isländern so leicht abschweifen und die Naturverbundenheit der Lieder ausmalen. Die für mitteleuropäische Ohren unverständliche Sprache und die ungewöhnlichen Schriftzeichen weben das geheimnisvolle Tuch nur dichter.

Ob es ein Spiel mit Stereotypen ist? Von der Hülle des Albums Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust blitzen die vier blonden Popos der Musiker. Natürlich rennen die Jungs von Sigur Rós, weil sie sonst frieren, dort im ewigen Eis Islands. Nur die Leitplanke im Vordergrund stört die Idylle.

Assoziationen an Wildbäche, Elfen, freie Liebe und sphärische Klänge werden wach, das ganze Programm. Doch dann klingt das Album gar nicht wie erwartet. Besonders die ersten beiden Stücke Gobbledigook und Inní Mér Syngur Vitleysingur sind rhythmischer geraten als alle Stücke ihrer bisher vier Langspieler. Beinahe rumpelig geht es zu, alle kloppen gemeinsam auf die Eins. Dann plötzlich bricht der Rhythmus – ist das nun ein Vierviertel- oder ein Dreiviertel-Takt?

Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust ist das erste Album der Band, das außerhalb Islands aufgenommen wurde. Zwei Stücke tragen englische Titel. Ist nun alles anders, ziehen Sigur Rós weg vom Klang Islands zum Klang Englands? Glücklicherweise: Großbritannien interessiert sie nicht mehr als zuvor. Und singen sie da überhaupt englisch? Weder im Lied Festival noch in All Alright ist verständlich, was vorgetragen wird.

Nach den ersten beiden Stücken kommen Sigur Rós ein wenig zur Ruhe. Festival ist eine anfangs typisch sphärische, später kraftvolle Hymne mit viel uuuuhuuuuhuuuu und juuuuhuuuuhuuuu. In dem Stück Við spilum endalaust klingen sie wie Coldplay – und zwar wie Coldplay zu der Zeit, als sie noch nicht nach U2 klangen, U2 aber bereits wie der Papst. (Das ist durchaus ein Lob.) Sigur Rós schwelgen ohne Hall, Kjartan Sveinsson haut eine schnörkellose Melodie in die Tasten, Jón Þór Birgisson schwingt sich im Refrain auf ins Falsett.

Stellenweise klingt das Ganze überladen, kein Wunder, hat doch der Produzent der Platte auch schon im Dienste von U2 und den Smashing Pumpkins Gitarrenschicht um Keyboardschicht auf das Magnetband geschmiert. Wenn der Bass laut brummt, Schlagzeug und Klavier scheppern, die Keyboards säuseln, im Hintergrund eine Gitarre jammert und vier Stimmen die Tonleiter heraufsteigen, braucht es dann auch noch ein Glockenspiel?

Dem Kleister geben sich Sigur Rós zum Glück nur selten hin. Und sie wissen jeweils, dem Dichten mit dem nächsten Stück etwas Karges entgegenzusetzen. Við Spilum Endalaust endet im Fortissimo, das anschließende Festival spendet fünf Minuten Erholung, bevor ein Basslauf einsetzt, dem man stundenlang folgen möchte.

Die zweite Hälfte der Platte klingt wieder ruhiger, getragen und hymnisch, mit viel Klavier und wenig Schlagzeug. Immerhin haben Sigur Rós auch in diesen Stücken an dem Hall gespart, der auf früheren Alben manchmal so störte. Das finale All Alright ist so karg vorgetragen, als sei es ein Schlaflied.

Am Ende steht die Einsicht: Das eigentlich Aufregende an Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust ist die erste Hälfte. Die zweite ist immerhin gewohnt hübsch, entlockt dem Klangkosmos der Band allerdings kaum Neues.

»Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust« von Sigur Rós ist als CD bei EMI erschienen.

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