Lesezeichen
 

Den Keller voller Geräte

Matmos aus San Francisco sind emsige Klangforscher. Nun haben sie unzählige Synthesizer geschultert und stapfen mit ihrem neuen Album »Supreme Balloon« in Richtung Club.

Matmos Supreme Balloon

Platte oder CD? Gute Frage. Als die CD eingeführt wurde, lockten viele Künstler mit Bonusstücken, die den Kauf des teureren Silberlings attraktiv machen sollten. Der Schallplatte drohte das Ende, als Anfang der Neunziger viele Alben nur noch auf CD erschienen. Es blieb ein kleiner Liebhabermarkt. Seit einiger Zeit nun produzieren selbst die großen Plattenfirmen wieder Schallplatten ihrer namhaften Popkünstler, Madonnas Hard Candy erscheint ebenso auf LP, wie das neue Alben von Coldplay. Mancher Plattenhülle liegen die digitalen Versionen der Lieder bei, anderen ein Schlüssel, mit Hilfe dessen man sie ganz umsonst aus dem Netz ziehen kann. Derweil soll der Absatz der CD wiederum durch limitierte Auflagen mit geschenkten DVD-Beilegern angekurbelt werden. Doch wie viel Bonus braucht der Mensch, um sich für die jeweilige CD oder LP zu entscheiden? Ein Musikvideo? Einen Film über die Band? Zwei, drei Lieder?

Das amerikanische Elektro-Duo Matmos macht dem Hörer die Entscheidung leicht. Sind auf der silbernen Version ihres neuen Werks Supreme Balloon sieben Stücke zu hören, schallen aus den schwarzen Rillen der Doppel-LP derer elf. Unter den vier vinyl-exklusiven Stücken sind einige der besten des Albums, auf einem davon, Hashish Master, improvisierte der Minimal-Musiker Terry Riley auf den Tasten. Die schweren Scheiben sind in stabilen Karton gebettet, die abstrakten Computerzeichnungen auf der Hülle der CD kaum zu erkennen – geschweige denn oben links in diesem Artikel. Wer die Platte kauft, kann sich alle elf Stücke von der Internetseite der Plattenfirma Matador in guter Qualität herunterladen. Da lohnt sich der Plattenkauf selbst für Menschen, die gar keinen Plattenspieler besitzen. Und er lohnt sich nicht nur, weil er dem Besitzer das Gefühl gibt, reich beschenkt worden zu sein. Er ist auch musikalisch durchaus sinnvoll.

Martin Schmidt und Drew Daniel sind Matmos, sie kommen aus San Francisco. Ihre bisher sechs Alben folgten jeweils einem experimentellen klanglichen Konzept. Auf The Civil War setzten sich Matmos im Jahr 2003 klanglich und inhaltlich mit dem britischem und dem amerikanischen Bürgerkrieg auseinander. Zwei Jahre zuvor fügten sie A Chance To Cut Is A Chance To Cure aus Klangschnipseln medizinischer Gerätschaften zusammen. Die Rhythmen bastelten sie aus den Geräuschen brechender Knochen und schneidender Skalpelle, Fettabsauger und chirurgische Laser spendeten minimalistische Melodien. Stellenweise klang das nach harmlosem Techno-Pop. Allein das ihrer Ratte gewidmete To Felix (And All The Rats) spielten sie auf dem Käfig des verstorbenen Tieres.

Die Vorgabe für das neue Album Supreme Balloon ist dagegen recht banal. Matmos versichern, man höre hier ausschließlich Synthesizer und kein einziges Mikrofon. Eine Elektronikband nimmt ein rein elektronisches Album auf, ist das wirklich etwas Besonderes? Bei Matmos schon, schließlich mussten sie nun ohne die vielen Klangfetzen ihrer Umwelt auskommen, ohne Küchengeräte, elektrische Zahnbürsten und Rattenkäfige. Klingen durfte nur, was im Synthesizer schon drin war.

Und was hier alles klingt!

Auf ihrer Internetseite erläutern die beiden Musiker recht genau, welche elektronischen Schätze und musikalischen Einflüsse zu hören sind und wo die verwendeten Instrumente bereits früher zu vernehmen waren. Hier ein modularer Doepfer Synthesizer, ein Korg MS-20 und ein ARP 2600, dort ein Dubreq Stylophone, ein Coupigny Synthesizer und ein Electro Comp 100. Man liest all diese Namen, ohne sie wirklich zu verstehen. Aber eines ist klar: Martin Schmidt und Drew Daniel haben den Keller voller Klangmacher – und sie sind vollkommen durchgedreht.

Und wie es klingt!

So abschreckend die Worte Experiment und Konzept wirken, so leicht man Kühle assoziiert, hört man Elektronik: Supreme Balloon strahlt eine heimelige Wärme aus, es lebt. Manch einer der Synthesizer ist beinahe 50 Jahre alt, viele Töne umgibt ein analoges Flirren. Rainbow Flag kokettiert mit einem lateinamerikanischen Rhythmus. Die torkelnde Melodie kommt aus dem Stylophone, einem kleinen Synthesizer, den man in der Hand hält und dessen winzige Tasten man mit einem Metallstab bedient. Zu Zeiten des Manchester Rave Ende der Achtziger tönte diese Taschenorgel in vielen Tanzkrachern.

Oder Polychords: Der Rhythmus stapft in Richtung Club, irgendein sicher namhafter Synthesizer schiebt harmonische Flächen hinterher. Zwischendurch brodelt und knarzt es kurz, wir tanzen auf der Stelle. Dann geht es steten Schrittes weiter, nach dreieinhalb Minuten sind wir angekommen, es ging viel zu schnell. Zemoi funktioniert ähnlich, kombiniert harte Rhythmen mit Hymnischem. Les Folies Francaises und Cloudhoppers sind expressionistische Spielereien ganz ohne Taktschlag. Ganz anders Mister Mouth und Exciter Lamp And The Variable Band, hier betreiben Matmos weniger leicht konsumierbare Rhythmusexperimente. Doch selbst aus dem Abstrakten schälen sich hier und da greifbare Melodien. Komplex klingen vor allem Hashish Master und das Titelstück, in ihnen kommt alles Vorhergenannte zusammen. Supreme Balloon nimmt die Seite D des Albums vollkommen ein und führt den Hörer vierundzwanzig Minuten lang durch die Höhen und Tiefen der Klangerforschung.

Supreme Ballroom wäre ein viel besserer Titel für dieses berauschende Album gewesen. Matmos bringen das elektronische Experiment zum Tanzen. Sie selbst nennen das: »Traditionelle synthetische Küche, serviert in ungezwungener Atmosphäre«. Da ist man gern zu Gast.

»Supreme Balloon« von Matmos ist auf CD und Doppel-LP bei Matador/Beggars Banquet erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
Kelley Polar: »I Need You To Hold On While The Sky Is Falling« (Environ/Alive 2008)
Munk: »Cloudbuster« (Gomma 2008)
Gustav: »Verlass die Stadt« (Chicks On Speed Records 2008)
Mark Stewart: »Edit« (Crippled Dick Hot Wax 2008)
Bishi: »Night At The Circus« (Gryphon 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Hunde im Porzellanladen

Der amerikanische Gitarrist Marc Ribot sorgt immer wieder für Überraschungen. Mit dem neuen Trio Ceramic Dog hat er nun sein bisher bestes Album aufgenommen: »Party Intellectuals«.

Marc Ribot's Ceramic Dog

Marc Ribot (sprich: Ree-bow) hasst Klischees. Er möchte nicht als zorniger Gitarrist gelten, der seinen Protest in verzerrten Tönen ausdrückt. Im vergangenen Jahr trat er auf beim Konzert gegen die Schließung der letzten größeren Bühne für experimentelle Musik in Manhattan – und wurde anschließend verhaftet. Er hatte den Standard The Nearness of You gespielt. Solch subtile Kritik wirke oft stark, sagt Ribot. Seine deutlichen Worte gegen den Krieg verpackt er in ein Westernstück, Bury Me Not On The Lone Prairie.

Er kann auch anders. Ribots neue CD Party Intellectuals beginnt mit einer punkigen Version eines Klassikers der Doors, Break On Through, das stiftet Verwirrung. Es hieß, seine neue Band Ceramic Dog klinge nach dem Disco-Soul der späten Siebziger, damit hat das wenig zu tun. Auch Never Better und Digital Handshake kommen geräuschvoll und wild entschlossen daher, das Titelstück der CD ist Punk mit Moog-Synthesizer.

Es gibt auch Zugänglicheres: Das bezaubernde Todo El Mundo Es Kitch lebt von absurden Reimen wie »In Barcelona we view for Gaudí, in Frankfurt we drove in an Audi«. In When We Were Young And We Were Freaks ist der Titel auch die Botschaft, Girlfriend thematisiert die Gentrifizierung der Lower East Side und das Verschwinden der New Yorker Avantgarde aus dem Stadtteil.

Vor 20 Jahren erfand Ribot den Klang von Rain Dogs und führte Tom Waits an den Pop heran. Durch die Arbeit mit ihm habe er gelernt, wie man Platten mache, sagt Ribot heute. Tatsächlich hörten sich die besten Stücke seiner vergangenen Platten immer ein bisschen so an, als fehle Tom Waits’ Stimme. Auf Party Intellectuals gibt Ribot den Waits, in den Trichter singt er jetzt selbst. Und erschiene die CD bei einer großen Firma, würde For Malena zum Sommerhit.

Die Ästhetik der Massenware interessierte Ribot nie, seine Musik spielt an den Rändern der Gesellschaft. Die Aufnahmen seines mit Moog, Gitarre, Bass, Elektronik und Perkussion ausgestatteten Trios sind in Avant-Rock verpackte Sozialkritik mit manch kontemplativem Moment. Ceramic Dog ist Ribots beste Band seit Jahren, Party Intellectuals eines seiner besten Alben.

»Party Intellectuals« von Marc Ribot’s Ceramic Dog ist bei Yellowbird/Soulfood Music erschienen.

Die Band stellt das Album am 13. Juli im Berliner Haus der Kulturen der Welt vor.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Tricky: »Knowle West Boy« (Domino Records/Indigo 2008)
The Kills: »Midnight Boom« (Domino Records/Indigo 2008)
The Charlatans: »You Cross My Path« (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
18th Dye: »Amorine Queen« (Crunchy Frog/Cargo 2008)
These New Puritans: »Beat Pyramide« (Domino Records/Indigo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wasser in die Glut

Mit Massive Attack und Portishead kam Mitte der Neunziger auch der Rapper Tricky zu Ruhm. Nun erscheint sein neues Album »Knowle West Boy« – ein dröhnendes Manifest der Unzufriedenheit.

Tricky West Knowle Boy

Der Journalismus gerät oft in die Zwickmühle verschiedener Interessen. Das ist in der Politik und der Mode nicht anders als in der Musik.

Was hat das mit Tricky zu tun? Vorfreudig bestellt der Journalist ein Vorabexemplar von Trickys neuem Album Knowle West Boy. Von dessen Plattenfirma erhält er eine prompte Antwort: Man habe Rezensionen des Autoren gelesen, da seien ja manche Platten nicht so gut weggekommen. Obwohl diese zwar von anderen Firmen veröffentlicht wurden und mit Tricky nichts zu tun hatten, sehe man doch von einer Bemusterung ab. Das Album solle Schreibern zukommen, die sich »auch wirklich freuen«, nur ungern würde man »Verrisse riskieren«.

Moment mal: Werden Journalisten nach ihrer Willfährigkeit und Kritikunfähigkeit ausgewählt? Oder steht die Plattenfirma nicht zu ihrer Produktion?

Zu Musik kann man tanzen, weinen und trinken. Man kann über sie streiten und von ihr schwärmen. Man kann sie lieben und auch hassen, denn Musik vermittelt Identität. Die Musikindustrie ist ins Straucheln geraten, sie sollte nicht den Fehler begehen, den Journalismus als verlängerten Arm ihres Marketings anzusehen. Das wäre schlimm, es läse sich wohl etwa so: »Die TripHop-Legende Tricky ist zurück mit dem Album des Jahres.« Weder dem Leser noch der Musik wäre ein Dienst erwiesen.

Musik wirft Fragen auf. Und man kann sie sich von Freunden ausleihen. Mittlerweile ist die Vorfreude des Rezensenten zwar erloschen, aber die war ja auch schon ein Vorurteil. Fangen wir also bei Null an.

Knowle West Boy nimmt dem Kritiker die Lust auf Bewertung. So ist das mit Trickys Alben. In seiner Musik wohnen das Seltsame und das schwer Fassbare, er hantiert mit dem Abgedroschenen. Sie ist gespalten – zwischen Uninspiriertem und Überwältigendem.

Die Materialien auf Trickys Baustelle kommen aus dem Punk, dem HipHop, dem Industrial – und unzähligen weiteren Spielarten. Anderer Musiker Leichtigkeit verwandelt Tricky in Schwere. Ähnlich wie seine Mentoren Mark Stewart und Adrian Sherwood: Sie heizten dem sonnigen Reggae solange ein, bis er zu einem flammenden Inferno wurde. Tricky kippt Wasser in die Glut. Wo es eben loderte, hängen nun Eiszapfen.

Von der Blues-Bar zum Rap der Straße sind es in Bristols Stadtteil Knowle West nur ein paar Meter. Man muss nur eben durch den Nebel, die esoterischen Schwaden durchstreifen. Das Richtungslose gehört zu Tricky wie ein Kaktus in die Wüste. Er hat das Launische in seine Musik integriert, es bietet ihm Schutz und spendet Kraft. Und nur wenn auch seine Hörer richtig unzufrieden sind, kann er granteln. Seine Musik strebt nicht nach dem Glück. In den guten Momenten des Albums steht die Zeit. In den schlechten drischt ein harter Rhythmus auf die Ohren ein. Bässe pumpen in der Magengegend. Tricky tätowiert Musik. Und das piekt auch mal.

Jemand, der dermaßen unberechenbar handelt und musiziert, kann kein Karrieremusiker sein. Nie schlachtet er seinen Ruhm aus, nie reproduziert er das Errungene. Immerneue Versatzstücke baut er in seine Lieder ein. Nur eines bleibt auch mit Knowle West Boy beim Alten: Tricky krächzt, eine Frau singt. Es ist vollkommen egal, wie lange er kein Album gemacht hat. Mit Zeit hat er nichts zu schaffen.

»Knowle West Boy« von Tricky ist als CD und LP bei Domino Records/Indigo erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
The Kills: »Midnight Boom« (Domino Records/Indigo 2008)
The Charlatans: »You Cross My Path« (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
18th Dye: »Amorine Queen« (Crunchy Frog/Cargo 2008)
These New Puritans: »Beat Pyramide« (Domino Records/Indigo 2008)
Kettcar: »Sylt« (Grand Hotel van Cleef/Indigo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Alles Island-Klischees?

Sigur Rós zeigen auf der Hülle ihres neuen Albums ganz ungeniert ihre vier blonden Popos. Sie spielen Musik, die nach Wildbächen, Elfen und freier Liebe klingt. Und manchmal rumpelt es ganz gehörig.

Sigur Ros Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust

Schön ist es im Island von Sigur Rós. Kürzlich luden sie das Publikum mit dem Film Heima ein zu einer Reise über die dünn besiedelte Insel. Die Band spielte ihre getragenen Lieder nicht in großen Hallen sondern in den Häusern der Menschen, auf ihren Weiden, sie traten auf am Fuß eines Gletschers und in einer Ruine.

Vielleicht lag es an den warmen Farben der Bilder, vielleicht an den entspannten Inselbewohnern, dass Heima wirkte wie der heimliche Blick in die Zimmer einer großen Wohngemeinschaft. Isländer lieben nicht die Nation oder den Staat, sie lieben die Natur. Der Film legt nahe, dass das mehr ist als ein Klischee.

Kein Wunder also, dass die Beschreibungen der Musik von Sigur Rós, von Björk und vielen anderen Isländern so leicht abschweifen und die Naturverbundenheit der Lieder ausmalen. Die für mitteleuropäische Ohren unverständliche Sprache und die ungewöhnlichen Schriftzeichen weben das geheimnisvolle Tuch nur dichter.

Ob es ein Spiel mit Stereotypen ist? Von der Hülle des Albums Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust blitzen die vier blonden Popos der Musiker. Natürlich rennen die Jungs von Sigur Rós, weil sie sonst frieren, dort im ewigen Eis Islands. Nur die Leitplanke im Vordergrund stört die Idylle.

Assoziationen an Wildbäche, Elfen, freie Liebe und sphärische Klänge werden wach, das ganze Programm. Doch dann klingt das Album gar nicht wie erwartet. Besonders die ersten beiden Stücke Gobbledigook und Inní Mér Syngur Vitleysingur sind rhythmischer geraten als alle Stücke ihrer bisher vier Langspieler. Beinahe rumpelig geht es zu, alle kloppen gemeinsam auf die Eins. Dann plötzlich bricht der Rhythmus – ist das nun ein Vierviertel- oder ein Dreiviertel-Takt?

Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust ist das erste Album der Band, das außerhalb Islands aufgenommen wurde. Zwei Stücke tragen englische Titel. Ist nun alles anders, ziehen Sigur Rós weg vom Klang Islands zum Klang Englands? Glücklicherweise: Großbritannien interessiert sie nicht mehr als zuvor. Und singen sie da überhaupt englisch? Weder im Lied Festival noch in All Alright ist verständlich, was vorgetragen wird.

Nach den ersten beiden Stücken kommen Sigur Rós ein wenig zur Ruhe. Festival ist eine anfangs typisch sphärische, später kraftvolle Hymne mit viel uuuuhuuuuhuuuu und juuuuhuuuuhuuuu. In dem Stück Við spilum endalaust klingen sie wie Coldplay – und zwar wie Coldplay zu der Zeit, als sie noch nicht nach U2 klangen, U2 aber bereits wie der Papst. (Das ist durchaus ein Lob.) Sigur Rós schwelgen ohne Hall, Kjartan Sveinsson haut eine schnörkellose Melodie in die Tasten, Jón Þór Birgisson schwingt sich im Refrain auf ins Falsett.

Stellenweise klingt das Ganze überladen, kein Wunder, hat doch der Produzent der Platte auch schon im Dienste von U2 und den Smashing Pumpkins Gitarrenschicht um Keyboardschicht auf das Magnetband geschmiert. Wenn der Bass laut brummt, Schlagzeug und Klavier scheppern, die Keyboards säuseln, im Hintergrund eine Gitarre jammert und vier Stimmen die Tonleiter heraufsteigen, braucht es dann auch noch ein Glockenspiel?

Dem Kleister geben sich Sigur Rós zum Glück nur selten hin. Und sie wissen jeweils, dem Dichten mit dem nächsten Stück etwas Karges entgegenzusetzen. Við Spilum Endalaust endet im Fortissimo, das anschließende Festival spendet fünf Minuten Erholung, bevor ein Basslauf einsetzt, dem man stundenlang folgen möchte.

Die zweite Hälfte der Platte klingt wieder ruhiger, getragen und hymnisch, mit viel Klavier und wenig Schlagzeug. Immerhin haben Sigur Rós auch in diesen Stücken an dem Hall gespart, der auf früheren Alben manchmal so störte. Das finale All Alright ist so karg vorgetragen, als sei es ein Schlaflied.

Am Ende steht die Einsicht: Das eigentlich Aufregende an Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust ist die erste Hälfte. Die zweite ist immerhin gewohnt hübsch, entlockt dem Klangkosmos der Band allerdings kaum Neues.

»Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust« von Sigur Rós ist als CD bei EMI erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Bobby & Blumm: »Everybody Loves« (Morr Music 2008)
Santogold: »s/t« (Lizard King/Rough Trade 2008)
Death Cab For Cutie: »Narrow Stairs« (Atlantic/Warner Music 2008)
Bernadette La Hengst: »Machinette« (Trikont/Ritchie Records 2008)
The Notwist: »The Devil, You + Me« (City Slang 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Aus Liebe zum Bein

Über die Jahre (38): Die New Yorker Band Liquid Liquid nahm Anfang der Achtziger großartige Lieder auf, dann zerbrach sie. Beinahe ihr gesamtes Werk ist nun auf »Slip In And Out Of Phenomenon« nachzuhören.

Liquid Liquid Slip In And Out Of Phenomenon

In der Geschichte der Musik gibt es Gruppen, die immensen Einfluss auf das Nachfolgende ausüben. Und es gibt Gruppen, die verschwinden, bevor sie überhaupt jemand bemerkt hat. Auf das New Yorker Quartett Liquid Liquid trifft beides zu. Wenige Lieder haben sie hinterlassen, doch deren Ruhm überragt den schmalen Korpus. Die Band wird zitiert, kopiert und verehrt. Einer der besten europäischen Clubs, Optimo in Glasgow, hat sich nach einem ihrer Lieder benannt.

Auf den Fotos von früher sieht man vier weiße Jungs in engen Hosen und ranzigen T-Shirts. Sie schauen aus wie großstädtische Künstler, könnten aber ebenso gut Bohrmaschinenvertreter aus New Jersey sein. Was haben diese unlässigen Typen zu tun mit HipHop, Punk und Disco? Alles und nichts. Ihre Rhythmen treiben, scheppernde Kuhglocken erinnern an den Samba, der Bass an den Funk. Der Gesang klingt in keiner Abspielgeschwindigkeit richtig, auf 33 Umdrehungen scheint die Platte zu langsam, auf 45 zu schnell.

Die Beine sagen: »Das ist Disco, Mann! Wir müssen uns bewegen, da rinnt schon Schweiß von den Haaren.« Etwas Unterhalb der Haare meldet sich das Gehirn zu Wort: »Nee, das ist Kunst! Höre auf den Puls dieser seltsamen Klänge. Was wird hier zusammengerührt? Hybrider kann Musik kaum klingen, da ist alles drin. Von Afrika bis Eurasien. Wie der Bass die Melodie führt, das ist purer Krautrock. Und die Melodica? Dub Reggae! Das ist der Schmelztigel New York. Sogar Elliott Sharp spielt bei einem Stück mit. Das ist Avantgarde!« – »Hören wir auf, dies hier in Schubladen zu versenken, tanzen wir!«, fordern die Beine. Und so geschieht es.

Anfang der Achtziger erschienen vier EPs von Liquid Liquid auf dem kleinen Label 99 Records. Die drei ersten werden nun um ein paar unveröffentlichte Lieder angereichert bei Domino Records wiederveröffentlicht, Slip In And Out Of Phenomenon nennt sich die Sammlung. Die im Büchlein zur CD abgedruckten Flugblätter zeigen, dass die Musikszene im New York der frühen Achtziger eng zusammengerückt war. Liquid Liquid spielten mit Sonic Youth, aber auch mit Pionieren des HipHop und des Electro, mit Afrika Bambaataa, den Treacherous Three und Afrika Islam. Das erklärt die Uneindeutigkeit, ja Unverfrorenheit ihres Klangs.

Warum wurde die vierte EP nicht berücksichtigt? Die Band war nicht zufrieden mit den Liedern. Und warum haben sie nie ein ganzes Album aufgenommen? Weshalb erschienen ihre Lieder in diesem Zwischenformat EP? Waren das nur Bestandsaufnahmen, die den Weg in eine jeweils andere Richtung freimachen sollten? Ein Mythos wird zum Mythos, weil er Fragen offenlässt.

Ausgerechnet ihr bekanntestes Stück wurde Liquid Liquid zum Verhängnis: Cavern wurde auf zweifelhaftem Weg vom Disco-Knüller zum Welthit. Der Rapper Grandmaster Flash und seine Furious Five ließen für ihr White Lines das Stück Cavern nachspielen und rappten dazu. An den Einnahmen wollte Flashs Plattenfirma Sugarhill weder Liquid Liquid noch 99 Records beteiligen. Deren Besitzer Ed Bahlman protestierte, wurde bedroht und prozessierte schließlich. Vor Gericht war das eine klare Sache – 99 Records gewann. Doch Sugarhill war bankrott, sie hatten das Geld längst verprasst. Die hohen Anwaltskosten und die Enttäuschung gaben Bahlman den Rest: Sein Label ging pleite und die Band zerbrach.

Im Jahr 1997 veröffentlichten die Firmen Mo’ Wax und Grand Royal Liquid Liquids Platten erneut. Bald darauf meldeten sie Konkurs an. Als läge ein Fluch auf den Platten der Band, wer sie unter die Leute bringt, geht pleite. Nun arbeitet das britische Label Domino Records liebevoll das Werk der Band auf, das ist mutig. In der CD-Version gelingt zwar die Dokumentation des Schaffens, doch gibt es wenig, was darüber hinausweist. Die LP-Ausgabe ist ganz anders angelegt, sie frönt dem Objektfetisch. In einem Schuber stecken die drei EPs in Originalhüllen, dem liegen eine CD mit Liveaufnahmen und ein Begleitheft in Postergröße bei. Das edle Stück ist für rund 20 Euro zu bekommen, Geld wird die Plattenfirma mit so etwas nicht verdienen.

Man muss Domino Records also gleich doppelt Mut bescheinigen, auch wenn sie nur aus Liebe zu den eigenen Beinen handeln.

»Slip In And Out Of Phenomenon« von Liquid Liquid ist auf CD und Dreifach-LP bei Domino Records/Indigo erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(37) Nick Drake: „Fruit Tree“ (1979)
(36) The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (1965)
(35) dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (1996)
(34) Miles Davis: „On The Corner“ (1972)
(33) Smog: „The Doctor Came At Dawn“ (1996)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Disco in Elysium

In Kelley Polars Paradies winden sich Opernchöre, schmierige Synthesizer und Tanzrhythmen vor Verzückung. Auf seinem zweiten Album »I Need You To Hold On While The Sky Is Falling« gluckern die Elektronika wie Hühner auf der Stange.

Kelley Polar I Need You

Kelley Polar widerlegt die Glaubenssätze aller Disco-Geweihten. Er ist nicht der schillernde, vom Nachtleben gezeichnete Typ, den alle umschwärmen. In seinen Bühnenshows sieht er aus wie eine Mischung aus tapsigem Elvis-Imitator und polnischem Zahnarzt, die Begleitmusiker scheinen einem antiken Drama entsprungen zu sein. Er hat so gar nichts von der ätherisch schwülen Aura eines Anthony oder eines Patrick Wolf.

Und doch macht Kelley Polar Disco-Musik, genauer gesagt komponiert er sie – noch ein Widerspruch. Er bemüht klassische Arrangements, Streicherkaskaden und seine Opernstimme in höchsten Lagen, die Melodien streben himmelwärts. Kaum zu glauben, dass dieses Disco-Jubilato seine prägenden Einflüsse aus der kühl konstruierten Musik von Kraftwerk und Thomas Dolby bezogen haben soll.

»There’s a special sensation« haucht und haspelt es im ersten Stück in euphorischer Wiederholung aus dem Vocoder, begleitet vom Klagen einer Nymphe tänzeln die kickenden Beats. Klangwälle aus dem Keyboard malen Walhalla in den Farben Giorgio Moroders an, Märchenkulissen tun sich auf, wie schon auf Polars erstem Album Love Songs Of The Hanging Gardens aus dem Jahr 2005. Sein zweites Album trägt den nicht minder vieldeutigen Titel I Need You To Hold On While The Sky Is Falling.

In zuckrigem Kontratenor schmachtet er vom Elysium zwischen Satelliten, Chrysanthemen, dem expandierenden Universum und der im Video ironisch durch eine US-Flagge symbolisierten himmlischen Stadt. Um ihn herum scharwenzeln Sirenen mit elektronisch auftransvestierten Stimmbändern, Engel und Schlampen zugleich. Ihr »Huuhuu-haahahahaa« führt ein leichtsinniges »Schubidu« im Unterton und weist zu funkigen Bässen den Weg ins irdische Paradies, in die Disco. Die alten Synthesizer gluckern wie Hühner auf der Stange, die kunstvollen Gesänge würden wohl selbst beim Leipziger A-capella-Festival ausgezeichnet – und am Ende klingt alles, als müsse es so sein.

Verständlich, nach einem Blick in Kelley Polars Vergangenheit. Als Sohn US-amerikanischer Diplomaten kam er in Dubrovnik als Michael Kelley zur Welt. Er wuchs mit der Musik Dvořáks und Schuberts auf, die Mutter förderte sein Violinspiel. In New York studierte er an der Julliard School. Dort traf er den Elektronikmusiker und Labelbetreiber Morgan Geist wieder, den er schon am College in Ohio kennenlernte, und steuerte die Streicherpassagen zu seinem Projekt Metro Area bei. Erst als das akademische Leben und die Liebe zu Disco- und Popmusik nicht mehr zusammenpassen wollten, begann Kelley Polar, den Kulturschock in Kompositionen zu verarbeiten.

Das Meer in dem Stück Sea Of Sine Waves gerät nicht unerwartet in Turbulenzen. Aus den berechenbaren Sinustonwellen sprüht die archaische Gischt von Götterchören, Götter der alten Welten und Götter der modernen Tanztempel, die sich hier jauchzend einen Atem, einen zierlichen Dreiklang teilen und sich verzückt auf den Schaumkronen des elektronischen Pop winden. Bei allem kulturellen Donnerhall klingt Kelley Polars Musik nach persönlich Erlebtem. Es kommt aus viel weiteren Räumen als dem kleinen glitzernden Viereck, auf dem seine Disco-Märchen rhythmisch aufschlagen.

»I Need You To Hold On While The Sky Is Falling« von Kelley Polar ist auf CD bei Environ/Alive erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
Munk: »Cloudbuster« (Gomma 2008)
Gustav: »Verlass die Stadt« (Chicks On Speed Records 2008)
Mark Stewart: »Edit« (Crippled Dick Hot Wax 2008)
Bishi: »Night At The Circus« (Gryphon 2008)
Underworld: »Oblivion With Bells« (PIAS 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wir verrückt, Ihr langweilig

Das Musikerpärchen The Kills inszeniert seine Amour fou ein weiteres Mal. »Midnight Boom« beginnt mit einem Anruf und endet mit einer Prügelei.

The Kills MIdnight Boom

Besetzung: Eine junge Frau – Alison Mosshart alias VV – und ein Mann – Jamie Hince alias Hotel.

Das Telefon klingelt, VV nimmt den Hörer ab. In der anderen Hand hält sie eine Menthol-Zigarette. Sie sitzt auf einem Bett, das von Fotografien und Bildern bedeckt ist. Das Zimmer ist heruntergekommen und unordentlich. Ihr langes, dunkles Haar fällt ihr ständig ins Gesicht. Der Hintergrund der Bühne wird erleuchtet, am anderen Ende der Leitung meldet sich Hotel. Jetzt sind beide auf der Bühne zu sehen, eine Pappwand trennt sie voneinander. Hotel steht verloren herum und sieht auf den Boden.

VV: Hi.
Hotel: Na? Wie geht’s?
VV: Lass uns Musik machen.
Hotel: Okay.

Sie legen auf.

Vorhang.

Es ist Nacht. Mitten im Zimmer steht nun eine alte Rhythmusmaschine. Hotel hat einen Schal um, er ist nachlässig, doch modisch gekleidet. Während er einzelne Riffs aus seiner Gitarre schüttelt, qualmt seine Zigarette. Er kneift das linke Auge zu, hält die Kippe gerade noch im Mundwinkel. Er wirkt lässig. VV trägt eine Leopardenjacke und den passenden Schlapphut, dazu ein altes T-Shirt als Minikleid über einer engen Hose mit Hahnentrittmuster. Sie nickt ihm zu, tritt ihre Zigarette auf dem Boden aus, hustet verschleimt und fängt an zu singen. VV hat eine schöne Stimme. Die Musik der beiden klingt ungeschliffen, da ist Punk ebenso wie Elektronisches. Meist tönt sie wütend, manchmal sanft. VV und Hotel musizieren konzentriert und intensiv.

VV (singt): »I want you to be crazy, cause you’re boring, baby, when you’re straight.«

Es ertönt ein schnarrender Trommelwirbel, Hotel schwitzt, den Schal legt er dennoch nicht ab. Dann ein weiteres Lied. Diesmal singen die Beiden abwechselnd, manchmal auch im Chor. Sinnlichkeit schwingt zwischen ihnen. Sie sehen sich an, sie singen sich an. Und noch ein Lied. VVs Stimme klingt immer wieder anders.

Vorhang.

VV: Ich hab was gezeichnet.

Hotel (zu den Zuschauern gewandt): »We have a life and death relationship.«

VV hängt wahllos einige krakelige Zeichnungen an die Wand, manche mit Sprechblasen, dazu handgeschriebene Texte, Fotos, aufgeklebte Bilder, Stempelabdrücke. Hotel hängt ebenfalls Zettel auf. Die Bilder sind so rätselhaft, wie die Texte.

Hotel: Genau diese Kunst und Musik wollte ich immer machen!
VV (nickt, streicht sich durch die verwuschelten Haare, zündet sich eine neue Zigarette an): Ja.

Vorhang.

VV und Hotel streiten sich. Plötzlich beginnen sie, sich gegenseitig zu schubsen. Sie schlagen sich, ringen miteinander.

Vorhang.

Sie streiten weiter, nun befinden sie sich auf der Straße. Es ist Nacht. Sie sind verschwitzt und zerzaust. Arm in Arm gehen VV und Hotel nach Hause.

Vorhang.
Ende.

„Midnight Boom“ von The Kills ist auf CD und LP erschienen bei Domino Records/Indigo.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
The Charlatans: „You Cross My Path“ (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
18th Dye: „Amorine Queen“ (Crunchy Frog/Cargo 2008)
These New Puritans: „Beat Pyramide“ (Domino Records/Indigo 2008)
Kettcar: „Sylt“ (Grand Hotel van Cleef/Indigo 2008)
The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (Etiquette Records 1965)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Frostschock, dieses Grinsen!

„Electrolore“ ist das neue Wort für spontanes Gruseln. Auf seinem Album zeigt Alexander Marcus dem großen Publikum, wie grauenvoll und faszinierend die Welt des Schlagers ist.

Alexander Marcus Electrolore

Ein Grinsen geht um in Deutschland. Es prangt auf T-Shirts und flirrt durchs Internet. Dieses Grinsen gehört Alexander Marcus, dem neuen Star der Youtube-Generation. Wo immer er auftaucht – das Grinsen ist schon da. Das liegt auch an seiner Musik. Alexander Marcus macht Electrolore, eine selbst erdachte Mischung aus Folklore und elektronischer Musik. Wobei sich Folklore in seinem Referenzsystem auf Rex Gildo, Howard Carpendale und Jürgen Drews stützt. Seinen butterweichen Gesang unterlegt Marcus mit flotter House-Musik. Denn damit kennt er sich aus: In einem früheren Leben hieß er Felix Rennefeld und dümpelte als House-Produzent erfolglos vor sich hin. Dann erfand Rennefeld die Figur Alexander Marcus. Typ: schmieriger Heiratsschwindler in weißen Lederslippern.

Zu seinen Liedern drehte Alexander Marcus eine Handvoll bizarrer Musikvideos, die bald sehr viele Menschen kannten. Darin hüpft er über Blumenwiesen, tollt mit Kindern herum oder planscht in einem Baggersee. Und grinst. In einem eigenartigen Akt der Selbstaufgabe hat sich Rennefeld in Alexander Marcus verwandelt und hat nun endlich Erfolg. Das ist wenig überraschend: Gewisse Schlagerklänge geistern ja schon seit geraumer Zeit durch die deutschsprachige elektronische Musik. So weit wie Alexander Marcus hat sich jedoch noch niemand vorgewagt.

Um sein Album Electrolore ertragen zu können, braucht man starke Nerven. Das liegt nicht an dem kitschigen Kirmes-House, dem ekelhaften Gigologehabe und dem Hossassa-Vokabular, das er auf zwölf Stücken konsequent durchexerziert. All diese Elemente dienen ihm nur als Schablone, seine Kunstfigur Alexander Marcus bis ins Kleinste zu inszenieren. Was dem Hörer wirklich Geduld abverlangt, ist die gnadenlose Humorlosigkeit, mit der sich Alexander Marcus präsentiert.

Man gewinnt den Eindruck, dass es dem Produzenten Rennefeld gleich sei, wer sich Alexander Marcus aneignet. Ob Ballermann, FDP-Parteitag oder angesagter Technoclub – ihm ist alles recht. Er ist kein Satiriker, der uns die Abgründe der Schlagerwelt vor Augen führen will. Ironische Brechungen sucht man vergeblich. Electrolore ist wirklich vollkommen unkomisch. Und es knallt noch nicht einmal richtig. Das Album folgt einer flachen Hierarchie, nichts drängt in den Vordergrund, alles bleibt an der Oberfläche. Während sich die Schlagerprofis noch um heimelige Nestwärme bemühen, regiert auf Electrolore eine unheimliche Seelenlosigkeit. Nicht einmal hysterische Partystimmung will aufkommen angesichts der kalkulierten Nachlässigkeit, mit der die Stücke produziert sind. Es klingt, als habe sich Alexander Marcus so wenig Mühe gegeben wie möglich.

In seinen Liedern bewegt sich Alexander Marcus wie eine schockgefrostete Schaufensterpuppe durch eine erstarrte Welt. Die blumigen Bilder, die er mit klebriger Stimme besingt, gehören in der Volksmusik zum Standardvokabular. Es bedarf aber erst der Gegenüberstellung mit der emotionslosen Musik, um ihre ganze Leblosigkeit deutlich zu machen. Vor der zweckentfremdeten Schunkelmusik verflacht jedes Wort. Sie sind nur noch als funktionale Worthülsen vorhanden, deren Endungen sich reimen. Es ist kein dumpfer Nationalismus, der Alexander Marcus Textzeilen wie »Schwarzrotgold / Das sind unsere Farben / Der Wagen rollt« singen lässt. Trotzdem fühlt es sich nicht gut an, sie zu hören.

Dieser Kontrast macht Electrolore aber auch zu einem Faszinosum. Denn natürlich funktioniert das Konzept Alexander Marcus über das spontane Gruselgefühl, das einen befällt, wenn man Guten Morgen oder Ciao Ciao Bella hört. Ebendiese Faszination beschleicht einen, wenn man Florian Silbereisen zusieht. Irgendwann wird man von der leblosen Glückseligkeit schlichtweg überwältigt. Wie bei Schreckensbildern muss man immer wieder hinsehen, um sich zu vergewissern: Das ist echt. Ob es Alexander Marcus mit seinem geisterhaften Schlagerkarussell wirklich ernst meint, ist dabei völlig unerheblich.

Eines der einfältigsten Geschmacksurteile aller Zeiten lautet: »Das ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist«. Electrolore macht die Unterscheidung zwischen gut und schlecht überflüssig. Ein gutes Album ist es deswegen aber noch lange nicht.

„Electrolore“ von Alexander Marcus ist auf CD bei Kontor/Edel erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie SCHLAGER
Udo Lindenberg: „Damenwahl“ (Warner Music 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Mutloser Retter

Der Saxofonist James Carter galt Mitte der Neunziger als Hoffnung des schwarzen Jazz. Mit „Present Tense“ möchte er nun die Widerstandskraft dieser Musik beleben – und schwimmt doch nur mit dem Strom.

James Carter Present Tense

Dass er im Jahr 2004 mit dem Dr. Alaine Locke Award für seine herausragenden Leistungen im Dienste der afroamerikanischen Gemeinschaft ausgezeichnet wurde, erfüllt den 39-jährigen Saxofonisten James Carter noch immer mit Stolz. Dass er seit Mitte der neunziger Jahre zu den einflussreichsten Jazzmusikern zählt, hat ihm jedoch kaum geholfen. „Zu früh, zu schnell, zu viel“ – so urteilten Kritiker und Musikerkollegen angesichts seines rasanten Aufstiegs nach seinem Debüt JC On The Set und seinem balladesken Meisterwerk A Real Quietstorm. Mit JC On The Set hatte er damals die Hoffnung geweckt, die zerstrittene amerikanische Jazz-Szene zu einen. Von einem Jazz-Krieg war die Rede. Carter fand Anerkennung auf beiden Seiten, bei den Neotraditionalisten wie der verfeindeten schwarzen Avantgarde.

Doch Carter hatte kein Glück als Leiter einer Band. Als der Ruhm kam, verließen ihn seine experimentierfreudigen Musiker. In den letzten Jahren war er mit seiner Orgeljazz-Band unterwegs und spielte den Unterhalter, er gab ein besorgniserregendes Bild ab. Gleich, ob er improvisatorische Kunststückchen aus seiner Kuriositäten-Schatztruhe holte oder einen Blues sang, Carter drehte sich zunehmend um sich selbst. Das angebliche Publikumsinteresse diente ihm als Alibi – in Wirklichkeit fehlte ihm der Mut.

Bei seinem neuen Album Present Tense standen ihm nun eine große Plattenfirma und der anerkannte Jazzproduzent Michael Cuscuna zur Seite. Auch ihre Unterstützung kann die Beliebigkeit des Materials nicht verdecken. Wen interessieren schon seine drei Eigenkompositionen auf der CD, wenn gerade diese überhaupt nicht auffallen? Es ist der Brei aus großem Können und fehlender Vision, der nicht mundet und doch erstaunt. Present Tense beginnt mit einem großartigen Solo des Pianisten D.D. Jackson. Seine Wucht weckt die Hoffnung, hier würde man endlich befreit vom Standard-Gedudel der vergangenen Jahrzehnte. Man spürt, weshalb Carter vor zehn Jahren als Retter des Jazz gehandelt wurde. Doch dann bröckelt es schnell wieder, zerfasert in Bossa, Hotelbar und eine Traditions-Verliebtheit, deren kritisches Potenzial sich nicht einmal Eingeweihten erschließt.

Carter redet oft vom HipHop, von schwarzer Kultur und der Widerstandskraft des Jazz. Er möchte alle bedienen, so regiert am Ende doch der Mainstream.

„Present Tense“ von James Carter ist bei Emarcy Records/Universal erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
Lisle Ellis: „Sucker Punch Requiem – An Homage to Jean Michel Basquiat“ (Henceforth Records 2008)
Steve Lehman: „On Meaning“ (Pi Recordings/Sunny Moon 2008)
Christian Prommer’s Drumlesson: „Drumlesson Volume 1“ (Sonar Kollektiv 2008)
Jack Kerouac: „Poetry For The Beat Generation“ / „Blues And Haikus“(EMI 2008)
Globe Unity Orchestra: „Globe Unity – 40 Years“ (Intakt 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Der Obstbaum trägt Früchte

Über die Jahre (37): Nick Drake starb jung und verzweifelt. Er hinterließ drei großartige Folk-Alben, die die Welt erst 30 Jahre später zu schätzen lernte.

Nick Drake Fruit Tree

Ruhm ist nur ein Obstbaum,
So verdorben und morsch.
Er kann nicht gedeihen,
Bis sein Stamm im Erdreich steckt.

Obstbaum, Obstbaum,
Dich kennen nur Regen und Wind.
Doch sorge dich nicht: Sie werden kommen
Und staunen, wenn du vergangen bist.

Nick Drake war nicht einmal 20, als er diese Worte sang. Sind es bloß Worte eines larmoyanten Literaturstudenten, oder schwingt in ihnen eine dunkle Vorahnung? Musste Drake mit 26 sterben, damit die Welt ihn drei Jahrzehnte später vermissen würde?

Er hinterließ drei Alben, die heute als herausragende Werke des britischen Folk gelten. Doch damals, Anfang der Siebziger, galten sie wenig. Drakes Platten verkauften sich kaum zu seinen Lebzeiten. An Fahrt gewann die Sache erst im Jahr 2000, als VW den unheilvollen Pink Moon missbrauchte, um den Werbespot für die neue Generation Golf auszuleuchten.

Es half Nick Drake also ein kulturelles Missverständnis, das große, junge Publikum zu erreichen, das er sich immer gewünscht hatte. Um den Jahrtausendwechsel erschienen Biografien, Dokumentationen und Wiederveröffentlichungen seiner Musik. Drake zu Ehren moderierte Brad Pitt eine Radiosendung in der BBC, das Album Pink Moon erreichte Platz 5 der Amazon-Hitparaden, der englische Guardian ernannte die Platte Bryter Layter zum besten Alternative-Album aller Zeiten, und der New Musical Express erkor Northern Sky zum schönsten Liebeslied der Moderne.

Am 19. Juni 2008 hätte Nick Drake seinen 60. Geburtstag feiern können, wäre ihm das Leben nicht zur Last gefallen. Eines Morgens im November 1974 wachte er nicht mehr auf – er hatte zu viele Tabletten genommen.

Von der Enttäuschung, die ihn zerfressen hatte, zeugt eines seiner letzten Lieder:

Warum lasst ihr mich warten auf diesem Stern,
wenn ihr so viel von mir haltet?
Warum lasst ihr mich segeln auf offener See,
wenn ihr mich doch so deutlich hört?

Viele Musiker verehrten ihn. Sein Entdecker und Mentor Joe Boyd, der damals auch Fairport Convention und die Incredible String Band produzierte, nannte ihn ein Genie. Umso ernüchternder waren die Reaktionen des Publikums: Kaum jemand kaufte seine Platten, denn kaum jemand wusste von ihnen. Nick Drake gab keine Interviews, und die Radioredaktionen waren nicht sehr begeistert von ihm. Seine wenigen Bühnenauftritte waren Katastrophen: Die Zuschauer wurden unruhig, wenn er nach jedem Lied sorgfältig seine Gitarrensaiten umstimmte. Sie fingen an zu reden, und Drake verließ die Bühne, ohne sich verbal zu wehren. Er wehrte sich mit seiner Musik – nicht auf der Bühne, sondern im Studio.

Seine Lieder atmen einen unvergänglichen Zauber. Auf ihnen ruht eine schwere Tristesse, und doch verbreiten sie ein Gefühl der Hoffnung. Nick Drake schafft eine Spannung, in der Dissonanzen wohl klingen. Das Album Five Leaves Left (1969) enthält seine frühen Stücke, wie das prophetische Fruit Tree. Mit 17 hatte er eine Gitarre gekauft und sich eine virtuose Spieltechnik angeeignet. Zwei Jahre später schrieb er seine ersten Lieder und nahm sie mit Joe Boyd auf.

Drake war umgeben von Klangexperten, mit deren Hilfe er aus schlichten Kleinodien funkelnde Schmuckstücke schmiedete. Hier saß jeder Ton, jeder Akkord fand seine Entsprechung im Text, jede Metapher lenkte das Arrangement – beeindruckendes kompositorisches Handwerk. Man orientierte sich an Leonard Cohen und George Martins Beatles-Produktionen.

Drake mochte die musikalischen Impressionisten. So bewegen sich seine Lieder in den Klangwelten von Frederick Delius, Gabriel Fauré oder Claude Debussy. In seinen kurzweiligen Impressionen verwischen Folk, Blues, Gospel, Bossa und Jazz. Seine Texte sind inspiriert von romantischer, pastoraler Lyrik. Er singt sanft und eindringlich von den Beobachtungen eines Einzelgängers, dessen engster Freund die Natur ist.

Auf der zweiten Platte Bryter Layter (1970) schlug er poppigere Töne an. Die Arrangements waren nun bunter und heller, sie entsprachen allerdings auch weniger Nick Drakes Gemütszustand. Er war unzufrieden mit dem Album, hatte das Gefühl, sich verkauft und doch nichts gewonnen zu haben.

Seine Gedanken verdunkelten sich, die Depressionen kamen und mit ihnen die Einsamkeit. Dem musste er Luft machen: Sein letztes, wohl persönlichstes Album Pink Moon (1972) entstand binnen zwei Nächten im Studio. Die Plattenfirma Island Records erfuhr erst davon, als ein Bote die Tonbänder an der Rezeption abgab.

In der Mondfinsternis unterm Nordhimmel steht er nun, der Obstbaum, und er wird dort noch lange stehen und bewundert werden. Wäre Nick Drake ein zartes Musikerpflänzchen, das in diesen Tagen heranwüchse: Der Ruhm wäre ihm gewiss. Denn seine Lieder sind von zeitloser Schönheit, sie überschatten die Gesänge eines Elliott Smith, Badly Drawn Boy oder Conor Oberst.

Damals, als noch die Radiostationen den Ton angaben, stand seine Schüchternheit einer Karriere im Weg. Heute ließe sich daraus ein Image aufbauen. Er wäre ein Star der Myspace-Kultur. Aber würden ihn die Menschen auch in dreißig Jahren noch verehren?

Nick Drakes Alben sind 1979 in der Sammeledition „Fruit Tree“ erschienen und wurden 2007 auf CD und LP bei Universal Island Records wiederveröffentlicht. Die CD-Box enthält den bewegenden Dokumentarfilm „A Skin Too Few – The Days of Nick Drake“ (2000). Im 100-seitigen Beiheft interpretieren die Produzenten seine Lieder und berichten von den Aufnahmen. Außerdem sind alle Liedtexte abgedruckt.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(36) The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (1965)
(35) dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (1996)
(34) Miles Davis: „On The Corner“ (1972)
(33) Smog: „The Doctor Came At Dawn“ (1996)
(32) Naked Lunch: „This Atom Heart Of Ours“ (2007)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik