Lesezeichen
 

Zugabe, Herr Lehrer!

Im vergangenen Jahr spielte der Saxofonist Bunky Green mit einer jungen Band in Salzau ein denkwürdiges Konzert. Nun erscheint der Mitschnitt »Live At Jazz Baltica«.

Bunky Green Salzau Jazz Baltica

Es ist eine Geschichte aus der Zeit, in der es noch kein Internet gab: Auf einmal war der Altsaxofonist Bunky Green verschwunden. Nicht in den sozialen Untiefen einer amerikanischen Großstadt, nicht in einer Klinik auf dem Land – er wurde Dozent. Im Jahr 1972 begann er an der Chicago State University zu lehren, seit Anfang der neunziger Jahre leitet er den Fachbereich Jazz an der University of North Florida. Mittlerweile ist er 73 Jahre alt.

Bunky Green gilt als einflussreich, obwohl er nur wenige Alben aufgenommen hat. Seine Vorbilder waren einst Charlie Parker und Eric Dolphy, Greens Spiel wiederum inspirierte Musiker wie Greg Osby und Steve Coleman. Coleman war es auch, der vor vier Jahren Bunky Greens Comeback Another Place produzierte. Der junge Jason Moran hatte damals das Klavier gespielt, er schwärmt noch heute von den Aufnahmen. Die amerikanische Fachpresse hatte das Werk in höchsten Tönen gelobt, im Sommer 2007 spielte Green schließlich seine neuen Stücke beim Jazz Baltica Festival im norddeutschen Salzau. Dieses Konzert wird nun auf CD veröffentlicht.

Die in Berlin lebende Bassistin Eva Kruse schätzte Bunky Green schon seit langer Zeit als Komponist ihres Lieblingslieds Little Girl I’ll Miss You. Mit Green, dem Pianisten Carsten Daerr und dem Schlagzeuger Nasheet Waits bildete sie das Salzau Quartet, bei ihrem Lieblingsstück spielte sie selbst die Einleitung und ein schönes Solo. Ähnlich wie Jason Moran war das Zusammenspiel mit Green ihr eine generationsübergreifende Schlüsselerfahrung.

Aus jedem Stück dieser CD klingt Greens überzeugte Haltung zur Freiheit der Improvisation. Mal erfrischend, mal zurückhaltend, immer traditionsbewusst führt er durch die Melodien. Wahrscheinlich stimmt es sogar, dass dem Pionier des Free Jazz, Ornette Coleman, dieser Konzertmitschnitt aus Salzau so gut gefallen habe, dass er riet, ihn zu veröffentlichen.

»Live At Jazz Baltica« von Bunky Green’s Salzau Quartet ist bei Traumton/Indigo erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
James Carter: »Present Tense« (Universal/Emarcy 2008)
Lisle Ellis: »Sucker Punch Requiem – An Homage to Jean Michel Basquiat« (Henceforth Records 2008)
Steve Lehman: »On Meaning« (Pi Recordings/Sunny Moon 2008)
Christian Prommer’s Drumlesson: »Drumlesson Volume 1« (Sonar Kollektiv 2008)
Jack Kerouac: »Poetry For The Beat Generation« & »Blues And Haikus«(EMI 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Karierte Stolpermusik

Franz Ferdinand waren so begeistert von der Gruppe Kamerakino, dass sie sie mit auf Tour nahmen. Nun besingt die postkommunistische Wanderkapelle ihre Heimatstadt: »Munich Me Mata«.

Kamerakino Munich Me Mata

Es gibt Alben, die bringen den Kopf zum Platzen. Das neue Werk der Münchner Gruppe Kamerakino sollte man sparsam dosieren. Zweimal am Tag kann man es hören, jedes weitere Mal ebnet den Weg in die Irrenanstalt. Der Autor bleibt im Duden auf der Seite mit dem Buchstaben K hängen – fassungslos. »Oh meine Hände!« krakeelt Sänger Pico B. mit kehliger Renitenz, es ist der Beginn einer lyrischen Achterbahnfahrt.

Grenzdebiler Kretinismus* entpuppt sich als assoziativer Tiefenrausch. Doppelbödige Tiefstapelei gen Erdmittelpunkt nennen es die einen, die anderen verwenden ein Wort aus der Babysprache und sagen dann Dada dadazu. »Geile Finger« voraus – Sindelfinger und Krähwinkler* können gemächlich strawanzen – München rennt!

Anhalten und loslaufen – nach einer Weile kommt man ins Stolpern. Macht man es mit Instrumenten, kommt Stolpermusik heraus. Aber Pico hat hierfür schon die besseren Worte:

»Wenn ich meine eigenartige Lampe begrüß, dann tu ich das ohne Zwaaaang« – ja, lieber Pico. Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben. Denn es lohnt sich. »Today I’m not available, you can call me later. Heute hab ich keinen Empfang, bin außerhalb der Zone, aber morgen ist ein Großempfang – im Haus des Bürgermeisters!«

Die Geige täuscht Frieden vor. Kamerakinos Tarnung ist die einer postkommunistischen Wanderkapelle. Doch für Brecht-Abende taugen sie nicht. Ihr Gestus ist zu kariert. Oder wie es in der Presseinfo heißt: »Die Indie-Popband Franz Ferdinand aus Glasgow, Superstars der Stunde, kürte Kamerakino zu ihrer Lieblingsband und nahm sie mit auf Tournee. So kam es, dass Kamerakino in der Wiener Arena vor 15.000 Zuhörern spielte. Gerade bei diesen Großveranstaltungen übte Kamerakino mit einer nihilistischen Punk-Attitüde eine äußerst polarisierende Wirkung aus.« Agitation ins Nichts. Krambambuli* für Krallenfrösche. Und solche finden sich kaum auf Konzerten von Franz Ferdinand.

Vier bis sieben begnadete Musiker haben sich dieser musikalischen Krankensalbung verschrieben. Der Patient heißt Verstand. Er wird lebendig zu Grabe getragen, nach zehn Minuten wieder hervorgeholt. Chefarzt Pico B. erinnert an Adriano Celentano, wenn er gebeugten Hauptes dem Patienten auf die Schulter klopft und sagt: »War doch nicht so schlimm?«

*Kretinismus = mit körperlicher Missgestaltung verbundener hochgradiger Schwachsinn
*Krähwinkler = spießbürgerlicher Mensch aus der Provinz
*Krambambuli = Danziger Wacholderschnaps

»Munich Me Mata« von Kamerakino ist als CD und LP bei New!Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Wire: »Object 47« (Pink Flag/Cargo 2008)
Marc Ribot’s Ceramic Dog: »Party Intellectuals« (Yellowbird/Soulfood Music 2008)
Tricky: »Knowle West Boy« (Domino Records/Indigo 2008)
The Kills: »Midnight Boom« (Domino Records/Indigo 2008)
The Charlatans: »You Cross My Path« (Cooking Vinyl/Indigo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Platte, die siebenundvierzigste

Vor 30 Jahren gelang es Wire, die Kraft des Punk aufzusaugen und sie in etwas Neues umzusetzen. Heute spielen sie essenziellen Rock und legen ein Album der Superlative vor.

Wire Object 47

Es ist offenbar das Jahr der Rückkehr der britischen Post-Punker. Im Herbst kommt ein neues Album von The Cure. Nach 13 Jahren erschien kürzlich ein neues Album von Siouxsie, allerdings ohne ihre Band The Banshees. 25 Jahre nach ihrem letzten Studioalbum brachten Bauhaus im Mai Go Away White heraus. Und 28 Jahre nach Closer sprachen nun sogar alle über Joy Division, obschon die Band nichts Neues veröffentlicht hatte. Ein Superlativ jagt den anderen.

Fünf Jahre sind vergangen seit dem letzten Album von Wire, einer weiteren einflussreichen Post-Punk-Band. Siebzehn seit ihrem vorletzten. Object 47 nennen sie ihr neues Werk. Die Hülle ziert die Fotografie eines – ja, was ist das eigentlich? Ein Wasserturm? So ist das immer mit Wire. Nie weiß man genau, woran man ist, was als nächstes kommt. Doch was auch immer passiert, sie haben sich etwas dabei gedacht. Der Albumtitel etwa: Zehn Studio- und sechs Livealben, sieben Kompilationen und 23 Singles standen bislang zu Buche, Object 47 ist der 47. Eintrag in der Diskografie.

Wire gründeten sich im Oktober 1976 in London, dann und dort brach gerade der Punk aus. Ihre erste Platte Pink Flag erschien zwölf Monate später – sie zehrte auch vom Punk, war musikalisch und textlich aber weiter entwickelt und besser informiert. Das folgende Chairs Missing sollte ihr Opus summum werden und bleiben, daran ändert auch Object 47 nichts.

Die weitere Geschichte der Band ähnelt dem Stop and Go auf britischen Autobahnen zur Sommerferienzeit: Nach drei Alben bzw. Jahren lösten sie sich auf. Mitte der Achtziger fanden sie erneut zusammen, zwischen 1987 und 1991 veröffentlichten sie eine Handvoll Platten. Das letzte davon, The First Letter spielten sie als Wir ein – den Buchstaben e hatten sie gestrichen, da der Schlagzeuger Robert Grey für ein paar Monate ausgestiegen war. Er fand seinen Einsatz angesichts der zunehmenden Verwendung von Schlagzeugcomputern überflüssig. Als zwölf Jahre darauf das nächste Album Send erschien, war er wieder dabei.

Die Versuche im Elektronischen hatte Send beendet, auch auf Object 47 hält sich das Synthetische in Grenzen. Robert Grey lässt sein Schlagzeug ganz organisch rumpeln. Dominiert aber werden die neun neuen Stücke –

[Ja, nur neun Lieder in 35 Minuten. Auf ihrem Debütalbum brachten sie in derselben Zeit 21 Stücke unter.]

– dominiert werden sie vom Bass. Verschwand er früher im Elektrowust oder hinter der Gitarre, steht er heute deutlich im Vordergrund. Der Bass reißt die Melodien an, die Colin Newman mit seiner schnarrenden Stimme übernimmt. Oft treiben sich Schlagzeug und Bass voreinander her, die Gitarre setzt dann nur dezente Tupfer oder doppelt den Bass.

Es mag am Fortgang des Gitarristen Bruce Gilbert liegen. Vor den Aufnahmen zu Object 47 verließ er die Band. So sehr sein dezidierter Anschlag den frühen Platten der Band Energie verlieh, so enervierend waren seine kreischigen Akkorde auf Send. Überhaupt, das war kein gutes Album, einfallsloser Rock ohne Pfiff. Aber welches Album der Band im vergangenen Vierteljahrhundert war schon richtig gut? The Ideal Copy vielleicht, aber das ist auch schon 21 Jahre her. Und an die ersten drei Jahre konnte es nicht anknüpfen.

Object 47 kann das, wenn Wire heute auch vollkommen anders klingen als damals. Sie machen nun eher Rock als Punk, das damals standesgemäß Verzerrte weicht der Klarheit. Manche der Stücke sind sofort liebenswert – das stampfende Eröffnungsstück One Of Us und Mekon Headman etwa. Die meisten anderen brauchen mehrere Durchläufe. Gibt man dem Album Zeit, dann wachsen schließlich auch das anfangs zu leichtfüßige Four Long Years und das träge Patient Flees so weit, dass Object 47 als großes Ganzes erklingt.

Vor dreißig Jahren gelang es Wire, die Kraft des Punk aufzusaugen und sie in etwas Neues umzusetzen – heute machen sie eine Rockplatte, die vom Rock nur noch die Energie besitzt. So erhebt also auch Object 47 seine Stimme im Orchester der Superlative: Es ist Wires erstes wirklich großartiges Album seit 29 Jahren.

»Object 47« von Wire ist als CD bei Pink Flag/Cargo erschienen, eine LP soll folgen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Marc Ribot’s Ceramic Dog: »Party Intellectuals« (Yellowbird/Soulfood Music 2008)
Tricky: »Knowle West Boy« (Domino Records/Indigo 2008)
The Kills: »Midnight Boom« (Domino Records/Indigo 2008)
The Charlatans: »You Cross My Path« (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
18th Dye: »Amorine Queen« (Crunchy Frog/Cargo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wunderbar schattenlos

Martina Topley-Bird war die Muse Trickys. Jetzt bringt sie ihr zweites Album heraus und lässt ihn hinter sich. »The Blue God« klingt wie ein Roadmovie und hat weder Anfang noch Ende.

Martina Topley-Bird The Blue God

Geschichte vergessen und die Gegenwart in den Fokus stellen, um die Musik und nicht die Herkunft zu betrachten? Geht in diesem Fall nicht ganz.

Also kurz: Martina Topley-Bird und Tricky, der TripHop-Produzent aus Bristol, waren mal verliebt und schrieben zusammen Mitte der Neunziger einige richtungsweisende Lieder. Dann trennten sie sich und versuchten es als Solisten, Tricky produzierte immerhin noch ein paar Stücke ihres Debüts Quixotic aus dem Jahre 2003. Das machte die Musik nicht schlechter, doch die Muse hatte es schwer, aus dem Schatten zu treten.

Nun erscheint ihr zweites Album, The Blue God. Der Schatten durfte sich ausruhen, denn als Produzent heuerte Dangermouse an. Vom Regen in die Traufe mag man sich denken, ist der Eine von Gnarls Barkley und Produzent von Beck und den Gorillaz doch ein gefragter Hintermann derzeit. Da ist die Gefahr groß, wieder nur als Stimme zur Musik eines anderen zu gelten.

Dem ist nicht so, so viel sei vorweggenommen. Stimme und Stimmung dominieren das Album und werden in die passenden Klänge gebettet, nicht umgekehrt. Das fängt bei Phoenix an, aufgeräumt und doch verträumt klingt das. Und ein bisschen nach dem versuchten Abschied von der Vergangenheit, Martina Topley-Bird singt von Verwandlung und Wiederholung. Die elektronisch verfremdete Zweitstimme ist eine gelungene musikalische Entsprechung.

Sie hält sich nicht lange damit auf, die Carnies sind in der Stadt – die Schausteller. Es gibt hüpfende Basslinien und leicht melancholische Orgelklänge die auch mancher Soul-Diva gut stünden. Solcher Retro-Pop-Klang, der produktionstechnisch an die Sechziger erinnert, zieht sich unterschwellig durch das ganze Album. Doch die Stimmungen und die musikalischen Bandbreite Topley-Birds gehen weit darüber hinaus. Man ist versucht, das eine oder andere Lied einer bestimmten Ära oder einem Stil zuzuordnen. Hört man aber genauer hin, ist man sich plötzlich nicht mehr sicher. Schließlich hört man nur noch Eigenständigkeit. Something To Say etwa zeigt das schön: Anfangs dominiert ein düsteres, eher elektronisches Grundthema, das dann im Refrain aufbricht und durch verzerrte Gitarren an die Surf-Klänge der Beach Boys erinnert.

Passend zum Titel des Albums mag man sich ein Konzert in einer blau schimmernden Unterwassergrotte vorstellen. Und würde sich Julee Cruise dorthin verirren, bei Baby Blue wäre sie bestens aufgehoben. Das anschließende Shangri La nimmt sich Zeit und wirkt wie der Aufstieg. Hübsche Streicher und ein kaputt klingendes Schlagzeug erzeugen eine Spannung, in der sich der hauchig-fragile Gesang wohlfühlt. Hier klingt Martina Topley-Bird nur nach sich selbst, das macht das Stück zu einem der Höhepunkte des Albums.

Die Single Poison ist unspektakulär eingängig, in Razor Tongue gemahnt sie kurz vor Schluss an ihre Vergangenheit in Bristol. »I’ve changed, you’ve changed«, singt sie und »All the shit fades«. Das sind doch mal Ansagen, an wen auch immer. Das letzte Stück Yesterday schließlich lässt es mit zusammengeschnittenen Klängen und wagemutiger Melancholie fulminant schimmern. An den Kanten des Stücks sind unausgetretene musikalische Pfade auszumachen, denen man gerne folgen möchte.

The Blue God ist wie ein Roadmovie. Das Album hat weder Anfang noch Ende, unterwegs passieren wunderbare Dinge. Sucht man im Internet nach Blue God, findet man tatsächlich eine mythische Figur, die in walisischer Hexentradition die Verkörperung von Jugend und Erotik ist. Oder einfach Vishnu, der im göttlichen Blau der Wolke erstrahlt und sein Leben dem Schutz der Menschen und der Zerstörung des Bösen widmet. Wie schön.

»The Blue God« von Martina Topley-Bird ist bei Independiente/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Carla Bruni: »Comme Si De Rien N’Etait« (Ministry of Sound/Edel 2008)
Ron Sexsmith: »Exit Strategy Of The Soul« (Universal 2008)
Sigur Rós: »Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust« (EMI 2008)
Bobby & Blumm: »Everybody Loves« (Morr Music 2008)
Santogold: »s/t« (Lizard King/Rough Trade 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Moos, Kauz und Zinnen

Ganz unbekümmert beleben The Owl Service den Folk der Sechziger. Ihre Neuinterpretationen britischer Volkslieder klingen herrlich versponnen.

The Owl Service

Die Eule erweckt stets den Eindruck, als hätte sie etwas zu verbergen. Mit ihrem Ruf als arrogante Geheimniskrämerin brachte es die Nachtaktive bereits zu Ruhm in der Popkultur. Soll es ganz besonders schaurig sein, schummelt man sie gern ein in Text und Bild. So tut es auch die englische Folk-Band The Owl Service, von deren Plattenhülle uns ein besonders schlecht gelauntes Exemplar anglotzt. Ihren Namen haben The Owl Service dem gleichnamigen Fantasy-Roman Alan Garners entlehnt. In dem 1968 erschienenen Buch wird das Blumenwesen Blodeuwedd von einem Hexer in eine Eule verwandelt und muss sein weiteres Dasein in Baumkronen fristen.

Der Mann hinter der Eule ist der Multiinstrumentalist Steven Collins. Vor zwei Jahren gründete er die Formation, um im englischen Folk-Revival mitzumischen. Schließlich hatten sich amerikanische Künstler wie Devandra Benhart, The Espers oder Josephine Foster längst ausgiebig im Fundus britischer Folkmusik bedient.

Psychedelic Folk nennt man diese speziell britische Spielart des Wiedergangs, hier musiziert ein unüberschaubarer Haufen gescheiterter Tolkien-Exegeten, postmoderner Burgfräulein und klampfender Rübezahle. Englische Folkgruppen der Sechziger wie die Incredible String Band, Fairport Convention oder Pentangle erfreuen sich plötzlich ebenso großer Beliebtheit wie altertümliche Instrumente und kauzige Naturmystik. Dass dabei manchmal auch eine Spur von reaktionärer Erbauungsphilosophie zum Vorschein kommt, ist eine der unangenehmen Begleiterscheinungen des Genres. So sehr die salbungsvolle Neuinterpretation des Volksliedguts auch manchen irritieren mag, die musikalische Weltvergessenheit ist faszinierend.

So auch A Garland Of Song von The Owl Service. Das Album ist eine Sammlung traditioneller Folklieder, denen Steven Collins eine Handvoll Eigenkompositionen zur Seite stellt. Auf eine Modernisierung des Liedguts verzichtet die Band. A Garland Of Song ist eine konservative Angelegenheit, vom gelegentlichen Einsatz elektrischer Gitarren mal abgesehen. Zwölfseitige Akustikgitarren, Schellenkranz, Viola da Gamba, Glockenspiel und schwebender Frauengesang – mehr braucht dieser Ausflug in die Welt bemooster Burgen und vernebelter Zinnen nicht. Unironisch und authentisch leben Collins und seine Musiker ihre Liebe zur spätmittelalterlichen Mystik aus. Das kann man belächeln oder herrlich versponnen finden.

Die Stücke sind atmosphärisch, da können die meisten deutschen Mittelalter-Rockbands nicht mithalten. The Owl Service kennen die Tricks und Kniffe, A Garland Of Song nicht zu einem verkitschten Romanik-Pastiche verkommen zu lassen. Immer wieder ergeben sich musikalische Brüche und Spannungsmomente, die den oftmals allzu lieblichen Gesang kontrastieren. Die sechziger Jahre als historische Sehnsuchtsepoche schwingt in der psychedelischen Instrumentierung mit: Hier schleicht sich eine Sitar ein, dort erinnern schwirrende Drone-Klänge an den Acid Rock.

Steven Collins ist ein Fan britischer Horrorfilme – man schaue Psychomania und The Wicker Man – die in den siebziger Jahren okkulten Grusel und Fantasy vermischten. Eine ähnlich unheimliche Stimmung entfalten Lieder wie The Dorset Hanging Oak, in dem sich ritueller Chorgesang und eine hypnotisierende Sitarmelodie umkreisen. Die Platte endet mit der traurig-schönen Ballade Flanders Shore und dem Geräusch umschlagender Wellen.

Und die Eule glotzt noch immer. Sie wird schon wissen, warum.

»A Garland Of Song« von The Owl Service ist auf CD und LP bei Southern Records/Soulfood Music erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie FOLK
Nick Drake: »Fruit Tree« (Island/Universal 1979)
Martha Wainwright: »I Know You’re Married But I’ve Got Feelings Too« (Cooperative/Universal 2008)
White Hinterland: »Phylactery Factory« (Dead Oceans/Cargo 2008)
Joanne Robertson: »The Lighter« (Textile Records/Cargo 2008)
Smog: »The Doctor Came At Dawn« (Drag City 1996)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Hits aus der Hosentasche

Die Stereo MCs aus London wissen auch jenseits der 40 noch ganz genau, wie man Tanzbodenfüller spielt, die mehr sind als die Begleitmusik einer langen Nacht.

Stereo MCs Double Bubble

Die Älteren werden sich wohl gerne erinnern. Im Jahr 1989 erschien 33 45 78, Debüt der Stereo MCs aus London. Das Album krachte wie ein glühender Meteorit in die US-amerikanisch dominierte Welt des HipHop. Was die Engländer unter der Leitung des Rappers Rob Birch und des Produzenten und DJs Nick Hallam alias »The Head« auf diesem Debüt anstellten, war genial: So funky, so soulig, so melodiös und ohrwurmig klang HipHop bis dahin selten. Und selten fand eine HipHop-Single so schnell ihren Weg in die Hitparade wie vier Jahre darauf ihr Connected.

Zwei weitere Alben – Supernatural und Connected – erschienen, darauf befanden sich Klassiker wie Elevate My Mind und Step It Up. Dann legte die Band eine Pause ein, die schließlich neun Jahre dauern sollte. Erst im Jahr 2001 folgte Deep Down & Dirty – und auch danach mussten die Anhänger wieder warten, warten, warten. Vor drei Jahren erschien Paradise auf dem Label der Band, Grafitti Recordings. „Es ist wie ein Eigengewächs, das wir unabhängig von Mainstream-Mechanismen in den eigenen Wänden mit neuer Energie hochgezogen haben“, sagte die Band damals über das Album.

Was für Paradise galt, gilt auch für das neue, sechste Album der Stereo MCs Double Bubble. Sie lassen sich kaum von popmusikalischen Moden beeinflussen, noch immer splittern klassische Funk-Riffs durch die treibenden Rhythmen, noch immer erzeugt Rob Birchs Sprechgesang eine Gänsehaut, noch immer gelingt es der Band mit ihrer originären Mischung aus Downbeat, Reggae, House, HipHop, Bläser-Funk und Soul tiefgründige Stücke zu basteln. Ihr Flickenteppich elektronischer Musikstile klingt auch auf Double Bubble oft unheimlich und surreal.

Mit Get On It geht es los. Sofort fällt auf, dass die Stereo MCs anno 2008 härter und technoider klingen. Bei allem Lob der jungen Bands, diese Typen jenseits der 40 wissen, wie man Tanzflächenfüller spielt, die mehr sind als die Begleitmusik einer langen Nacht. Solche Hits springen den Stereo MCs seit 20 Jahren lässig aus der Hosentasche.

In den Kalender eintragen sollte man sich schon jetzt die kommenden Live-Termine der Band. Denn euphorisierender als die Stereo MCs bringt kaum ein Elektronik-Künstler seine Musik auf die Bühne. Dagegen wirken die angesagten Bratz’n’Roll-Elektroniker Justice oder Digitalism wie tapsige Meerschweinchen mit Neon-Stirnband.

»Double Bubble« von den Stereo MCs ist als Doppel-CD und Doppel-LP bei PIAS/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Guilty Simpson: »Ode To The Ghetto« (Stones Throw/Groove Attack 2008)
»An England Story« (Soul Jazz Records/Indigo 2008)
Buck 65: »Situation« (Warner 2008)
Missill: »Targets« (Discograph/Rough Trade 2008)
Percee P: »Perseverance« (Stones Throw 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Was Carla B. alles mit der Hand macht

Chansons mit Geschmacksgarantie, wie man sie bei der Fußpflege hört: Madame Sarkozys neues Album kommt direkt von der Schule für höhere Töchter.

Carla Bruni Comme Si De Rien N’Etait

Sie haben eine Tochter, die später eine Führungsposition in Ihrem Familienunternehmen besetzen soll? Und Sie suchen ein Privatinstitut, das für traditionelle Werte steht, Ihre Tochter mit den gesellschaftlichen Anforderungen vertraut macht, ihr die nötige Parkettsicherheit verleiht und sie auch im musisch-kreativen Bereich fördert? Dann sollten Sie vielleicht gelegentlich mit jemandem reden, der sich mit solchen Dingen auskennt. Mit Carla Bruni etwa – Carla Bruni-Sarkozy, soviel Zeit muss ein.

Allerdings soll sie Schimon Peres unlängst beim Staatsbankett im Elysée-Palast angemessen greisenwitzig verraten haben, dass sie bei Fototerminen statt »Cheese« lieber »Sex« sagt. Oh la la, ein Top-Aufreger für Schwer-Verklemmte, der Bunte und Gala wochenlang in freudige Erregung versetzte – ähnlich wie der graue Mantel mit Lackledergürtel, den Madame Sarkozy kürzlich beim Empfang auf Windsor Castle trug.

Und es kommt noch schlimmer: Auf ihrem gerade erschienenen Album Comme Si De Rien N’était erklimmt Carla Bruni neue, ungeahnte Höhen der Libertinage: Sie singt von dreißig Liebhabern in vierzig nymphomanen Lebensjahren und der wilden Brunst mit ihrem omnipotenten Ehemann (»gefährlicher als kolumbianischer Schnee«), dem französischen Staatspräsidenten und Robocop, der vor nicht allzu langer Zeit angekündigt hat, seinen »Hochdruckreiniger« demnächst auch gegen die ungewaschenen Massen der Pariser Banlieues einzusetzen.

Erfreulicherweise bleiben dies Brunis einzige Ausrutscher auf einem Album, über dem vierzehn Lieder lang die stirnrunzelnde Frage schwebt, warum solch Vorstadt-Gesindel eigentlich nie ein Schweizer Internat besucht hat.

Schließlich geht es auch mit Stil und Niveau. Nach Quelqu’un m’a dit (2002), einer marktgerecht austarierten Kollaboration mit dem Gitarristen Louis Bertignac, und No Promises (2007), der geschmackvollen Vertonung diverser Lyrik von W.H. Auden bis Emily Dickinson, ist Comme Si De Rien N’était ein Triumph neoliberaler Lyzeumserziehung: stets zurückhaltend, nie störend, durchweg dezent, soigniert und kultiviert. Hinter dem rauchigen Timbre steht immer die Gouvernante: Hände aus den Taschen. Und jetzt mach einen Knicks!

Selten hat der diskrete Charme der Bourgeoisie so perfekten Ausdruck gefunden: Aus jedem einzelnen Chanson spricht jene Souveränität, mit der exklusive Eheanbahnungsinstitute für gewöhnlich die Qualitäten künftiger Industriellengattinnen anpreisen. Der intime, handgemachte Charakter der Lieder fügt sich makellos zur erlesenen Schlichtheit des maßgeschneiderten Hosenanzugs, in dem die Bruni auf dem Cover an einem stillen Weiher entlang flaniert.

Comme Si De Rien N’était bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit auf dem Parkett des gehobenen Anspruchs, zwischen den sanft verdrucksten Schlagern einer Françoise Hardy und Milva singt Bert Brecht. Jenen Platten, die hinter dem weißen Ledersofa stehen, auf dem sich die junge Dame im kleinen Schwarzen gerade fragt, wo sie diese sinnlich-warmen Klänge schon mal gehört hat. In Carl-Friedrichs Landhaus in der Provence? Beim Souper im Tour d’Argent? Als sie den Blick nach unten richtet, fällt es ihr wieder ein. Ja, natürlich. Es könnte bei der Pediküre gewesen sein.


Carla Bruni bringt Frankreich in Wallung. Lesen Sie hier den Kommentar von Thomas Groß »

»Comme Si De Rien N’Etait« von Carla Bruni ist bei Ministry of Sound/Edel erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Ron Sexsmith: »Exit Strategy Of The Soul« (Universal 2008)
Sigur Rós: »Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust« (EMI 2008)
Bobby & Blumm: »Everybody Loves« (Morr Music 2008)
Santogold: »s/t« (Lizard King/Rough Trade 2008)
Death Cab For Cutie: »Narrow Stairs« (Atlantic/Warner Music 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Der Anselm Kiefer des Techno?

Über die Jahre (39): Der Kölner Wolfgang Voigt verarbeitete Mitte der Neunziger seine Kindheit in dem Projekt GAS. Unter dem Titel »Nah und Fern« werden die vier Alben aus dieser Zeit nun wieder aufgelegt.

Gas Nah und Fern

Im Rückspiegel erscheint es, Wolfgang Voigt habe einen großen Plan verfolgt. Im Jahr 1996 veröffentlichte er kurz hintereinander zwei tabubrechende Platten: Zuerst die Maxi Polka Trax, eine Mischung aus Minimal-Techno und Polka-Rhythmen, dann die erste CD seines Ambient-Projekts GAS. Die Hülle schmückten unauffällige, abstrakte, gelbe Farbflächen, die Platte hatte es in sich. Die Lieder trugen keine Namen, auch später nicht.

In den beiden Folgejahren erschienen weitere Aufnahmen von GAS mit den vielsagenden Titeln Zauberberg und Königsforst. Bäume schienen es Wolfgang Voigt angetan zu haben: Zauberberg steckte hinter einer blutrot schimmernden Detailaufnahme eines Waldes, Königsforst hinter in warmes Orange gehüllten Zweigen. Da hatte sich längst herumgesprochen, dass der von einem sturen Bassrhythmus begleitete nebulöse Ambient der drei Alben auf Schnipseln von Richard Wagner, Gustav Mahler und Alban Berg beruhte.

Wolfgang Voigt teilte damals mit, er beabsichtige die Erfindung genuin deutscher Popmusik. Da runzelte sich manche Stirn: Ein Projekt namens GAS, ein Label namens BLEI – geschrieben in altdeutschen Lettern, Klangfetzen Wagners, und das alles zusammen soll das reine Deutsche repräsentieren? War Wolfgang Voigt der Anselm Kiefer des Techno?

Dass die Lieder von GAS auf Schnipseln der Musik Wagners, Bergs und Mahlers aufbauen, muss man wissen. Hören kann man es nämlich kaum. Voigt verwendete unauffällige Passagen aus ihren Werken und schnitt sie so klein, dass man sie kaum wiedererkennt. Das vierte Stück auf Zauberberg basiert zwar auf einem prägnanten Sample, wirklich zuordnen kann man es aber nicht. Voigt scheint einen kurzen, im Gesamtwerk unauffälligen Übergang zur tragenden Stütze seines Stücks umfunktioniert zu haben. Die genaue Bestimmung des verwendeten Materials ist so unmöglich, wie der Versuch aus der Detailaufnahme des Zweigs auf der Hülle von Königsforst auf den Wald zu schließen, in dem das Foto geschossen wurde.

Vor seinen Aufnahmen als GAS hatte Voigt noch anders gearbeitet. Unter dem Namen Love Inc. erschien im Jahr 1995 das Album Life’s A Gas, die gesampleten Platten von Kraftwerk, Hot Chocolate, Miles Davis, Scritti Politti, Marc Bolan und anderen waren auf der Hülle der Platte abgebildet. Mit etwas Mühe ließ sich das verwendete Material auch heraushören. Mit GAS verabschiedete sich Voigt vorerst von solchem Zitatpop. Von nun an ging es ihm nicht mehr darum, Markierungen zu setzen, über die man ihn und seine Welt definierte. Vielmehr begann er, das Unbewusste zu verarbeiten, all das Gerümpel der Kindheit, das Unverdaute und Nicht-Begriffene. Wolfgang Voigt erzählte in Interviews von Wanderungen mit seinen Eltern in den Alpen, die er genossen habe. Er erzählte vom Schlager, der im Hause seiner Eltern lief und die Musik seiner Kindheit wurde. Auch die radikale Rebellion der Pubertät befreite ihn nicht von diesen Eindrücken.

So zog er sich zurück. In den deutschen Wald, den er mochte, dessen ideologische Bedeutung er aber verabscheute. Hier konnte er alles verarbeiten, den belächelten Schlager, sein schwieriges Verhältnis zur Klassik – den Drang, Mahler zu genießen und sich gleichwohl vom Habitus der Klassik zu distanzieren. So entstanden Polka-Techno, Stücke mit Schlagersamples und eben das Magnum Opus Voigts, GAS. Um den Missverständnissen entgegenzutreten, nannte er die vierte und letzte GAS-Platte im Jahr 2000 Pop. Der Nebel lichtete sich, die Strukturen wurden erkennbar. Mit einer Ausnahme schweigt die Basstrommel auf dieser CD. Hier deutete sich bereits Voigts nächstes Projekt an, nicht weniger als die Erfindung eines neuen Genres: Pop Ambient.

Um die demokratisierende Kraft des Pop ging es Voigt immer. Die musikalischen Nebelschwaden auf den Platten von GAS sind flüchtig, nicht monumental. Die aufgerufene Geschichte wird in abstrakte Einheiten zerlegt und in eine scheinbar endlose Schleife gelegt. Ihr schwerer Sinn verflüchtigt sich so. Das GAS ist nicht Zyklon B, sondern Musik. Und BLEI eine spielerische Reminiszenz an die bleischwere Vergangenheit, die man nicht vergessen kann und nicht vergessen will. Die aber auch nicht zu monumentalen Schinken aufgeblasen werden sollte. Mit Anselm Kiefer hatte GAS wahrlich nichts zu tun.

Mit dem Abstand einer Dekade hört man heute, wie schlau das Oeuvre von GAS angelegt ist, wie geschickt Voigt Parodie und Pathos umschifft. Welcher Geschichtsrevisionist soll sich das mit Genuss anhören? Wie sollte man auf diesem wabernden Fundament ein Walhalla erbauen? Und was ist aus der Idee »genuin deutscher Popmusik« geworden? Heute gibt es einen Minimal-Techno deutscher Prägung. Die Grundlagen dafür legte Wolfgang Voigt zur gleichen Zeit unter dem Pseudonym Studio 1, mit klassik- und folklorefreien Stücken, die auf den Rhythmus reduziert sind.

»Nah und Fern« von Gas ist auf 4 CDs bei Kompakt/Rough Trade erschienen. Ebenda wurde eine Doppel-LP mit Ausschnitten der Werke veröffentlicht.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(38) Liquid Liquid: »Slip In And Out Of Phenomenon« (2008)
(37) Nick Drake: „Fruit Tree“ (1979)
(36) The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (1965)
(35) dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (1996)
(34) Miles Davis: „On The Corner“ (1972)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Kaugummi in den Ohren

Zu den trotzigen Klängen der Band Combat 77 liegen sich Punks und Skinheads in den Armen. Ihr Debütalbum »100% Oi!« erfindet den Klang der Straße nicht neu, lebt aber von erfrischenden Melodien.

100% Oi! heißt das Debütalbum von Combat 77. Titel und Bandname fassen in Wort und Zahl zusammen, worum es geht: um Punkrock. Wie Kaugummi klebt der raue Klang ihrer britischen Vorbilder Cock Sparrer, Vice Squad und The Adicts an den schweren Stiefeln der fünf Musiker aus Hannover und Hildesheim. Im Bandlogo hat er sich fest im Profil der Sohlen verklebt. Doch Kaugummis können nicht nur hartnäckig kleben, sie können auch erfrischen.

Der Begriff Oi! wird auf die britische Band Cockney Rejects zurückgeführt, die ihre Straßenpunk-Lieder nicht mit dem im Punk gängigen »One, two, three, four…« einzählte, sondern mit »Oi! Oi! Oi!«. »Oi!« bedeutet soviel wie »Hey!«, was im Londoner Cockney-Dialekt ausgesprochen eben wie »Oi!« klingt. In den frühen achtziger Jahren erlebte dieses Genre eine kurze Blütezeit, über die Jahre wurde Oi! von Punk- und Skinheadbands immer wieder neu belebt. Nun also von Combat 77. Und wie: 100% Oi! ist ein melodiöses Bekenntnis zum Klang der Straße und feiert die Zusammengehörigkeit. Die Band zelebriert ein fröhlich-trotziges »Wir gehören zusammen« und feiert ein Fest für Punks, Skinheads und andere Außenseiter. Bei ihren Konzerten liegen sich die Anhänger unterschiedlicher Szenen in den Armen – ganz friedlich.

Ihre Texte bewegen sich zwischen Banalem und Kapitalismuskritik. Sie drehen sich um den Alltag, um Arbeitslosigkeit und die Zeit, in der die Musiker jung waren. Anders als bei den meisten Oi!-Bands singt bei Combat 77 eine Frau. Ab und zu bilden ihre Kollegen den grölenden Männerchor, das hat immerhin Unterhaltungswert und ist bei Auftritten nett anzusehen. Die Herren mühen sich an den Instrumenten, während die Sängerin lässig mit den Stiefeln wippt.

»Pop stars on MTV, brainwashed society (…) Entertainment is so dumb. Audiences blind and numb, they swallow everything the media tell them to. We don’t want your pop star shit. We don’t wanna be part of it«, heißt es in dem nach der Band benannten Lied Combat 77. Die fünf Musiker zwischen 20 und 40 Jahren begreifen ihre Musik als Gegenentwurf zum Mainstream. Rebellenmusik sterbe niemals, da sind sie sich sicher. Nebenbei spielen sie in anderen Bands, sie arbeiten und studieren. Dass sie die ganze Sache humorvoll angehen, beweist spätestens das letzte Stück des Albums, die Alberei Punky Chips Ahoy.

Auf 100% Oi hört sich nicht alles neu an, das meiste lässt sich aber prima mitsingen – Kaugummi kauend, mit einer Flasche Bier in der Hand.

»100% Oi!« von Combat 77 ist als LP und CD erschienen bei Sunny Bastards.

Weitere Beiträge aus der Kategorie PUNK
The Exploited: »Troops Of Tomorrow« (Captain Oi! 1982)
Captain Planet: »Wasser kommt, Wasser geht« (Unterm Durchschnitt 2008)
Turbo A.C.’s: »Live To Win« (Bitzcore 2007)
The Monsters: »The Worst of Garage Punk Vol. 1« (Voodoorhythm 2007)
Matula: »Kuddel« (Zeitstrafe 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Bittersüßes vom Tröster

Ron Sexsmith ist ein Liedermacher mit Hang zum großen Poplied, auch sein neues Album »Exit Strategy Of The Soul« schwelgt in uneitler Eleganz. Solche Platten passen immer: Morgens zum Kaffee, abends zum Rotwein, bei Wolkenbruch wie an Hundstagen.

Exit Strategy Of The Soul Ron Sexsmith

Es gibt sie noch diese Alben, die man tagelang, wochenlang hört. Die im CD-Spieler oder unter der Nadel jammern und um Erlösung flehen: »Bitte nicht noch einmal. Spiel doch mal was anderes!« Doch man kann nicht anders und hört sie wieder. Und wieder. Und wieder. Das war bei jeder der bislang zehn Platten des Kanadiers Ron Sexsmith so. Man konnte sie morgens zum Kaffee hören und abends zum Rotwein, bei Wolkenbruch wie an Hundstagen. Sie funktionierten als Seelentröster und Balsam für die Zipperlein des Alltags.

Ron Sexsmith wurde im Jahr 1964 in Toronto geboren, seit seinem Album Cobblestone Runaway ist er auch in Deutschland bekannt. Vor allem die Freunde der klassischen Liedermacher-Kunst schätzen ihn, die sich gerne im Bittersüßen einigeln und doch Sexsmiths Drang zum großen Pop schätzen. Seine Musik ist etwas für Anhänger von Lambchop, hier perlt die Akustikgitarre, jubeln Streicher, dort klebt süßer Soul-Honig zwischen den Tasten.

Schon auf seinem letzten Album Time Being war das so. Ein bezauberndes Lied zwischen Folk, Country, Soul und Pop folgte dem anderen, alle erhaben und uneitel. Und alle klangen unterschiedlich. „Ich höre sein Album schon ein ganzes Jahr lang, aber es könnten problemlos auch die nächsten zwanzig Jahre sein“, lobte Elvis Costello einmal die Musik Sexsmith’. Und genau das macht ihren Zauber aus. Hat man sie einmal gehört, mag man nicht mehr ohne sie sein.

Auch auf seinem neuen Album Exit Strategy Of The Soul entwickelt Sexsmith seine Stücke vom Klavier aus. Man hört nur einige, sparsam gesetzte Töne, dann ist dieses ganz besondere Gefühl wieder da. Anmutige Schlichtheit und butterweiche Opulenz greifen ineinander, wie man es kennt. Die Stücke sind zeitlos und elegant, manche könnten in den späten Sechzigern entstanden sein und erinnern – auch im Gesang – an Paul McCartney. Fragt man Sexsmith nach den Einflüssen auf seine Musik, dann nennt er gerne zwei andere: Buddy Holly und Ray Davies. Aufführen könnte er auch Elton John, Elvis Costello und Nicolai Dunger. Sexsmith steht ihnen nicht nach.

Nur mit der Opulenz treibt er es an manchen Stellen doch ein wenig zu weit. Er kreuzt seine Kompositionen mit filmmusikalisch anmutendem Orchesterjazz und sämigem Westcoast-Pop, das steht ihnen nicht immer gut zu Gesicht. Und so findet sich auf Exit Strategy Of The Soul bei all seinen hübschen Momenten kein überragendes Stück. Es besitzt nicht die Dichte an potenziellen Lieblingsliedern früherer Alben. Dennoch wird man es tagelang hören. Wochenlang womöglich.

»Exit Strategy Of The Soul« von Ron Sexsmith ist bei Universal Music erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Sigur Rós: »Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust« (EMI 2008)
Bobby & Blumm: »Everybody Loves« (Morr Music 2008)
Santogold: »s/t« (Lizard King/Rough Trade 2008)
Death Cab For Cutie: »Narrow Stairs« (Atlantic/Warner Music 2008)
The Notwist: »The Devil, You + Me« (City Slang 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik