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Im Walzertakt durchs Mondgedöns

Die in London lebende Iranerin Leila Arab schert sich nicht um Moden. Ihr Album „Blood, Looms And Blooms“ ist ein surrealer Ritt durch den Märchenwald.

Leila

Es zischt und kracht in Leila Arabs Laboratorium. In Reagenzgläsern sind die Zutaten ihres musikalischen Gebräus, stehen in einem alten Holzkasten an der Wand und sind miteinander verkabelt. Wie eine Klang-Alchemistin geht sie zu Werke, detailverliebt mischt sie eine Prise von diesem und jenem hinein.

Im Jahr 1998 hängte sie ihre Beschäftigung als Keyboarderin bei Björk und Galliano an den Nagel. Fortan nahm sie als Leila eigene Platten auf. Die große Zeit des TripHop war schon ein Weilchen vorbei, Disco-House dominierte die Tanzböden. Doch Leila scherte sich nicht um Moden: Sie veröffentlichte ein Album voller sperriger Miniaturen, die psychedelische Musik auf Like Weather konnte man durchaus TripHop nennen.

Nach ihrem zweiten Album Courtesy Of Choice war Funkstille. Die Trauer um ihre kurz nacheinander verstorbenen Eltern lähmte Leilas Kreativiät sieben Jahre lang. Ab und an arbeitete sie noch als Mischerin für Björk und als DJane, doch erst im vergangenen Jahr konnte sie wieder Musik aufnehmen. Ihr drittes Album Blood, Looms And Blooms erscheint nun.

Auf der Hülle inszeniert sich Leila als entschlossenes, kleines Mädchen und geht mit dem Bonanza-Fahrrad auf Mondfahrt. Durch einen verwunschenen Märchenwald saust sie, dort wuchern Elektronenröhren und anderes Gedöns. So surreal geht es auch musikalisch zu.

In dem Stück Little Acorns klingt das nach verspieltem Dancehall-Pop mit Kinderstimmen. Oder, höre Carplos, nach Filmmusik der frühen Achtziger, nach den bedrückenden Kompositionen John Carpenters. Seaming, eine Sängerin aus Manchester, hüpft in The Exotics durch die Oktaven, als gelte es Yma Sumac die Referenz zu erweisen, der großen Dame der Exotica.

Leila selbst singt nicht, sie lässt singen. Neben dem ehemaligen Sänger der Ska-Band The Specials Terry Hall tritt Martina Topley-Bird ans Mikrofon. Und auch Leilas Schwester kommt zu Wort: Roya Arab singt Daisies, Cats And Spacemen zu einer Habanera.

Da sind Walzer, südamerikanisch anmutende Klavierstücke, Synthesizer singen wie Delfine. Blood, Looms And Blooms klingt trotz seiner erstaunlichen Ideenvielfalt nicht überfrachtet. Gibt es etwas Schöneres als Musik, die überrascht? Zugänglicher ist Leilas Musik geworden, Tanzhits sucht man noch immer vergebens. Und über die fade Interpretation des Klassikers Norwegian Wood kann man milde hinwegsehen.

Der Vorwurf, dies klinge alles ein wenig überholt und biete musikalisch nicht viel Neues, wird an der selbstbewussten Komponistin abprallen. In ihrer Wundertüte sitzt der Entdeckergeist – und das kleine Mädchen auf seinem altmodischen Fahrrad winkt uns vom Mond zu.

„Blood, Looms And Blooms“ von Leila ist als CD und Doppel-LP bei Warp/Rough Trade erschienen.

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Verstecken Sie Miss Saigon!

Früher war Damon Albarn Sänger der Band Blur. Heute macht er, was er will. Sein letzter Streich ist die chinesische Oper „Monkey – Journey To The West“, die doch ganz nach Pop klingt.

Monkey Journey To The West

Vier goldenen Regeln sollte der Popstar folgen: Lass, erstens, die Finger von der Weltmusik. Nimm, zweitens, kein Soloalbum auf, es sei denn, du kannst es groß vermarkten. Gründe, drittens, niemals eine Supergruppe. Und bleib, viertens, um Himmels Willen bei deinen Leisten.

In seinem ersten Leben war Damon Albarn Sänger der Band Blur, ein Popstar also. In seinem zweiten Leben bricht er nun die Regeln. Er wagt Ausflüge in die musikalische Ferne, nahm etwa in Mali und Nigeria auf – nie trat er als Gutmensch auf, nie klang das Ergebnis betulich oder gar kolonialistisch. Er zog sich während einer Tour mit Blur ins Hotelzimmer zurück und veröffentlichte hernach Democrazy: Zwei Dutzend glasknochiger Liedfragmente, nachzuhören nur auf Schallplatte. Er gründete mit drei namhaften Musikern die Gruppe The Good, The Bad & The Queen. Statt mit Streit und Skandalen erfreute sie die Öffentlichkeit mit einem fabelhaft gelassenen Album.

Nun bricht er auch die vierte Regel, er wechselt das Fach. Gemeinsam mit dem Zeichner Jamie Hewlett – mit dem er bereits die virtuelle Band Gorillaz ersann – und dem chinesischen Regisseur Chen Shi-Zheng schuf er eine Oper, Monkey – Journey To The West. In den vergangenen zwölf Monaten bestaunten beinahe 100.000 Menschen das Ergebnis in Manchester, Paris und London. Rund einhundert Artisten turnten über die Bühne, begleitet von Hewletts Zeichentrickfilmen. Die Geschichte stammt aus dem 16. Jahrhundert, gesungen wird auf Mandarin. Nun erscheinen 22 der Stücke des Spektakels auf einer CD, die man im Laden zwischen Blur, Gorillaz und Mali Music in der Pop-Abteilung finden wird.

Schon spannend, wie der Kontext die Wahrnehmung verändert. Der Münchner Folk-Musiker Andi Stäbler alias G.Rag etwa nahm gerade mit den Landlergschwistern ein ganzes Album mit Polkas, Landlern und Wirtshausklassikern auf, ungeschliffen aber doch ganz und gar volkstümlich. Das Album erscheint bei dem Indielabel Gutfeeling und wird meist wohlwollend rezensiert, es dürfte auch in dem ein oder anderen des Volkstümlichen unverdächtigen Haushalt laut erklingen.

Oder Alexander Marcus: Seine Mischung aus minimalem Techno und geistlosem Schlager ist dem musikalischen Ausfluss der Flippers nicht fern, dennoch sitzen seine Anhänger nicht in Altersheimen und auf Ohrensesseln, sondern im Hörsaal und auf Designersofas. Bei den Indie-Festivals des Sommers jubelten ihm Massen schräggescheitelter Jugendlicher zu. Die Plattenfirma und seine Stilberater verkaufen Marcus als Indie-Star. So schlucken nun viele die bittere Pille Schlager, ohne mit der Wimper zu zucken. Oder Madlib: Auf mehreren Platen durchmischte der respektierte HipHop-Produzent Klangfetzen aus Bollywood-Filmen mit seinen flirrenden Rhythmen und breiten Basstrommeln. Damit füttern selbst Menschen ihre Autolautsprecher, denen der Anblick von Shahrukh Khan Unwohlsein bereitet.

Und Monkey? Albarn fröhnt einer ganz erstaunlichen Art der Opulenz. Die Gesten sind groß, wie sich das für eine Oper gehört, aber sie erklingen aus analogen Synthesizern, Schlagzeugcomputern und den Ondes Martenot. Oft füllen die überkandidelten Spielhöllen-Klänge der Gorillaz die Zwischenräume. Die meisten Lieder sind kürzer als zwei Minuten, das hält den Überschwang sowieso in Grenzen. Und, das ist entscheidend, Albarn meint seinen Ausflug in die Oper nicht ironisch. Er komponierte die Musik nach einer volkstümlichen chinesischen pentatonischen Skala, und doch trägt jedes Stück seine Handschrift – das gelang ihm bislang bei jedem Projekt. Die Schwere ist seine Sache nicht, überall schwingt eine leichtfüßige Melancholie mit. Auch ohne Bilder klingt Monkey – Journey To The West an vielen Stellen wie ein Popalbum.

Zu welchen Gelegenheiten man so eine Platte hört? Keine Ahnung. Aber man kann sie immerhin neben der Stereoanlage liegen lassen, wenn Freunde kommen. Versuchen Sie das mal mit der CD von Miss Saigon!

„Monkey – Journey To The West“ ist als CD bei XL Recordings/Beggars Banquet erschienen. Eine unfassbar teure Vinyl-Ausgabe ist erhältlich bei The Vinyl Factory

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Wellnessgewitter auf Samui

Michael Milosh aus Kanada bringt Elektro und Folk zusammen. Sein neues Album „iii“ klingt nach Blumen, Sonne und thailändischer Entspannung.

Milosh III

Michael Milosh ist ein empfindsamer Typ. Schon als Kind brachte ihn Musik zum Weinen. »Sad, soft and beautiful«, so sollte sie damals sein. Mit seinen eigenen Liedern möchte er an diese Erinnerungen anknüpfen. Zwei Alben hat der Kanadier in den vergangenen Jahren als Milosh veröffentlicht, auf beiden mischte er elektronische Musik und intimen Folk. Er schuf Klanglandschaften, in denen es sich wunderbar auf und ab wandeln ließ – die Kompositionen waren wie verschlungene Pfade, die Töne wiesen nach hier, nach dort und kreuzten sich wieder, vom Wegesrand grüßte der Wohlklang.

Auch sein drittes Album iii gleicht einem frühmorgendlichen Spaziergang durch einen exotischen Garten. Man hört, wie die Klänge sich behutsam entblättern, wie Michael Milosh eine musikalische Blüte nach der anderen freilegt und erblühen lässt. Es gibt viele Blumen auf diesem Album: Zerbrechliche Gewächse mit vielfarbigen Schattierungen, funkelnde und erhabene Exemplare, die sich duftend in den Himmel strecken.

Komponiert und aufgenommen wurde das Album während eines einjährigen Aufenthalts auf der thailändischen Insel Koh Samui. Die Umgebung inspirierte Michael Milosh: Tatsächlich erinnern das Spannungsverhältnis zwischen Stille und Dynamik und die feingliederigen Arrangements an fernöstliche Musiktradition. Das auf Another Day gespielte Cello klingt wie ein japanisches Koto. Die Abgeschiedenheit des Komponisten und sein Einklang mit der Natur wird auf Liedern wie Warm Waters und Gentle Samui besonders deutlich: Milosh spiegelt natürliche Zustände und Vorgänge und macht sie hörbar. Er kreiert einen organisch-plastischen Klang, der sein sonisches Vokabular aus den Geräuschen der Natur schöpft.

Bei soviel Natur ist der esoterische Kitsch nicht fern: Gerade zu Beginn der Platte klingt die innere Einkehr stellenweise wie die Begleitmusik eines Wellness-Urlaubs im frisch gekachelten Spa. Mit jedem weiteren Lied werden diese Momente glücklicherweise seltener. Denn in all der empfindsamen Leichtigkeit wagt er es immer wieder, den frisch geharkten Zen-Garten gehörig durcheinander zu bringen.

Jede Blume verblüht. Und so schleicht sich auch auf iii langsam die Dunkelheit heran. Etwas Tieftrauriges umgibt die letzten Lieder der Platte. Auf Wrapped Round My Ways werfen verzerrte Gitarrensamples unheimliche Schatten, und das elektronische Schlagwerk klingt plötzlich bedrohlich kalt. Eben schien noch die Sonne, nun ziehen Gewitterwolken auf. Der Wetterumschwung erfasst bald auch Miloshs glockenhelle Stimme. Trauer schwingt mit, die Zartheit der ersten Lieder weicht der Melancholie, der blühende Garten verwandelt sich in ein düsteres Labyrinth. Hinter den gestutzten Hecken lauern die Dämonen.

Mit The World findet Milosh schließlich den Weg hinaus, das Lied klingt erfrischend wie ein lang erwarteter Sommerregen. Die Wolken reißen auf, die Sonne traut sich wieder hervor. In Momenten wie diesem ist iii ein Album von reinigender Wirkung.

„iii“ von Milosh ist bei K7/Alive erschienen.

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Kommt HipHop von Hippie?

Dies könnte der Soul der Zukunft sein: Flying Lotus kredenzt eine psychedelische Mischung aus Herzrhythmusstörungen und geweiteten Pupillen

Flying Lotus Los Angeles

Mit einem musikalischen Schaumbad fing 1991 alles an, die EP Analogue Bubble Bath wurde Aphex Twins erstes Meisterwerk. Der kauzige Brite brachte dem Ambientpop die quietschnassen Synthesizertöne bei. Was im Funk einmal der trockene Bass galt, das bedeuteten den Elektronikpionieren bald die glitschigen analogen und digitalen Beats. Übersteuerte Rhythmen und blubbernde Glissandi erzeugten einen typischen Klang, der besonders beim Label Warp zu Hause war. Die verschiedenen Spielarten von bedrohlich abstrakt bis hypnotisch verträumt gehören heute zu den Klassikern der elektronischen Independent-Musik.

Das von Sheffield nach London verzogene Label war und ist aber ebenso eine Plattform für Schräges aus ganz anderen Nischen. Der Kalifornier Steven Ellison ist HipHop-Produzent, DJ, Laptopmusiker und Karikaturist, sein Debütalbum 1983 brachte er unter dem Namen Flying Lotus im Jahr 2006 bei Plug Research in Los Angeles heraus. Dort experimentierte man in den neunziger Jahren mit krachenden Breakbeats, inzwischen ist Steven Ellison nicht der einzige Künstler dort mit einem Hang zu organischen und atmosphärischen Klängen. Ob in seiner Vorliebe für Jazz und brasilianische Musik das Erbe seiner Großtante Alice Coltrane mitschwingt?

Nun erscheint das zweite Album von Flying Lotus bei Warp. Los Angeles badet im Feuchtbiotop elektronischer Psychedelik. Als wäre HipHop zu Hippiezeiten erfunden worden, bekommen Ambientklänge sanfte Herzrhythmusstörungen und die brüchigen Beats geweitete Pupillen. Und was sieht das hörende Auge da nicht alles: seltsame Unterwasserwesen, die kalifornische Metropole als Atlantis, bewohnt von singenden hawaiianischen Nixen und den pumpenden Kiemenhumanoiden aus Drexcyias schwarzer Techno-Saga.

Durch die Titel Breathe.Something/Stellar Star und Beginner’s Falafel galoppiert der Jazz rückwärts in einer antik-futuresken Polonaise über den Meeresboden. Sodann lässt Flying Lotus einen pointierten Takt brasilianischer Herkunft zu Zeitlupenhüftschwüngen zerfließen, während im dämmrigen Gegenlicht knapp unter der Wasseroberfläche die Golden Diva der House-Musik heranschwimmt.

Richtig ausgiebig tobt der House in dem Stück Riot, Aufstand im U-Boot, dumpf prallen die Bässe von den muschelbewachsenen Stahlwänden ab. Der Musikcomputer gibt das versunkene Orakel der Weltpolitik, imitiert arabische Melismen, kämpft gegen sich selbst mit irren Dub-Stampfern, bösem Funk und Experimental-Hop. Auf dem Sexslaveship weinen leise die Keyboards im Tonfall pazifischer Inselbewohner.

Die Stücke sind meist kurz, es gibt keinen Anfang und kein Ende unter Wasser, alles zerfasert wie vorbeitreibende Algenstränge und ist doch Teil des feuchten großen Ganzen. Dazwischen führen Gastsängerinnen mit Jazzstimme kontemplative Selbstgespräche, ein Titel heißt Roberta Flack. In Auntie’s Harp und Auntie’s Lock/Infinitum wird dann doch der berühmten Harfenistin Alice Coltrane gehuldigt, es tönt befreiend statt nostalgisch. Klingt so der Soul der Zukunft?

„Los Angeles“ von Flying Lotus ist auf CD und Doppel-LP bei Warp/Rough Trade erschienen.

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New York umarmt die Welt

The Dodos finden eine Balance zwischen Monotonie und Poplied, zwischen Rhythmus und Hymnus. Ihr neues Album „Visiter“ erinnert an das Animal Collective.

The Dodos Visiter

Eine gezupfte akustische Gitarre und ein Banjo umtanzen einander, der Sänger fügt in weichem Timbre eine hymnische Melodie hinzu. Dann haut jemand abrupt in die Saiten, und der Schlagzeuger spielt einen tribalistischen Rhythmus. Das Stück Walking zeigt exemplarisch, wie die Musik der Dodos klingt.

Früher waren The Dodos nur ein Dodo Bird, das Solo-Projekt des Liedermachers Meric Long. Doch schon bald wurde Long die Konzentration auf den einfachen Song mit den autobiografischen Themen zu eng. Also begann er, mit Wiederholungen zu arbeiten. Sein Gitarrenspiel wurde minimalistisch, im Hintergrund liefen Bandschlaufen. Long beschäftigte sich mit westafrikanischen Rhythmen. In dem ehemaligen Metal-Trommler Logan Kroeber fand er schließlich einen Partner, der sowohl brutale Attacken beherrscht wie auch filigrane Perkussionsfiguren.

Dem Reiz der hypnotischen Monotonie sind schon so einige verfallen. Auf ihrem neuen Album Visiter kombinieren The Dodos den Gleichklang mit dem Gespür für die Liedstruktur. Die Introspektion des Sängers kippt von einem Moment auf den nächsten in einen mitreißenden Groove. An anderen Stellen entwickelt sich aus energetischem Gitarrengeschrammel eine beschwingte Melodie. Das erinnert ein wenig an das Animal Collective.

Man kann sich gut vorstellen, wie Long und Kroeber im Konzert davongetragen werden von den monoton hämmernden Elementen ihrer Musik. In anderen Liedern dominieren delikat gezupfte, zirkuläre Gitarrenthemen. In Eyelids ist der Gesang weich und harmonisch, auf Winter klingt er sonor rezitierend, The Season endet mit indianischen Stammesgesängen. Doch Long vertraut nicht allein auf die Wandlungsfähigkeit seiner Stimme, um das Ich-Ich-Ich des Jungen mit der Gitarre hinter sich zu lassen: Es gibt auch einen weiblichen Gegenpart, gesungen von Laura Gibson.

Es ist deutlich spürbar, wie Long und Kroeber ihre Klangwelt ständig erweitern. Auf Jodi verfallen sie in eine psychedelisch rockende Instrumentierung. Das klingt, als wollten sie wenigstens einmal die musikalische Geschichte ihrer Heimatstadt San Francisco erwähnen. Sonst orientieren sie sich eher am New Yorker Minimalismus und addieren hin und wieder ein bisschen Blues und Country. Auf diesem Weg entwickeln The Dodos eine Musik, die die ganze Welt umarmt.

»Visiter« von The Dodos ist als CD und Doppel-LP bei Wichita/Cooperative erschienen.

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Da kommt nichts mehr

Bei Primal Scream aus Glasgow wusste man nie, was das nächste Album bringen mochte. Auch mit »Beautiful Future« ist das so, denn solche Ödnis war nun wirklich nicht zu erwarten

Primal Scream Beautiful Future

Es gab eine Zeit, da war es ein besonderes Markenzeichen von Primal Scream, nicht allzu schnell auf den Punkt zu kommen. Denken wir etwa an Burning Wheel, das erste Stück des Albums Vanishing Point: Da hört man zuerst Tabla und eine Sitar, dann einen Windhauch. Eine Basslinie setzt ein, dann ein Blues-Riff, und das Keyboard speit Doors-Psychedelia. Viel später erst kommt ein klassischer Rave-Beat hinzu – und Bobby Gillespie beginnt zu singen. Erst in diesem Moment fängt das Album wirklich an.

Elf Jahre ist das her, heute klingt das ein bisschen anders. Beautiful Future, das Titelstück des neuen Albums von Primal Scream, hat schon nach zwei Sekunden alles über sich verraten. Das Lied ist herrlich simpel, man kann mitsingen, mitklatschen, mittanzen. »Oh, Oh, Beautiful Future«, trällert Gillespie, »Oh, Oh, Beautiful Future«.

Dennoch, Primal Scream wagen wieder einmal das Unerwartete. Von jeher ist das ihre Methode: Immer sprang die Band hin und her zwischen House, Rave, Funk und Blues. Mit Give Out But Don’t Give Up servierten sie Mitte der Neunziger eine Portion scheppernden Retro-Rocks, verquirlten den Klang von Marshall-Türmen mit trötenden Flohmarkt-Keyboards, fusionierten somnambule Tanzrhythmen und wuchtige Blues-Riffs, streiften Dub, Ambient und Trip-Hop. Auf den folgenden Alben dominierten mal introvertierte Elektronika (etwa auf dem bereits angesprochenen Vanishing Point), mal Kreischen und Poltern (etwa auf XTRMTR und Evil Heat). Und nun das: Beautiful Future. Album Nummer neun ist in vielen Momenten purer Pop.

Der Sänger Gillespie hat gemeinsam mit Andrew Innes, Gary Mounfield, Martin Duffy und Darrin Mooney ein Album aufgenommen, auf dem nun tatsächlich das Klavier und die Marimbas zu hören sind, mit denen Abba einst Dancing Queen und SOS einspielten. Unbedarft klingen Primal Scream, gut verdaulich, an manchen Stellen auch ganz schön belanglos. Can’t Go Back etwa erinnert zwar ein wenig an New Order, ist aber gegen die Vorbilder reinster Kaugummi-Pop mit allenfalls durchschnittlichem Refrain. Uptown dagegen mischt originell den Streicher-Soul der Siebziger mit strammen Tanzrhythmen. Dazu nuschelt Gillespie zurückgelehnt.

Doch oft reicht die Aura des Sängers nicht aus, um die Ödnis der Kompositionen zu beleben. Ganz und gar misslungen ist etwa The Glory Of Love, kaum besser das kraftlose Suicide Bomb. Schon nach wenigen Sekunden ahnt man, was da noch kommt: nichts mehr. Im Souterrain der Kreativität zuckt der Zombie Man zu großspurigem Südstaaten-Rock. Man kann es mitgrölen: »Everybody Say: Hey, Hey, Zombie Man! Hey, Hey, Zombie Man!« Oje, Bobby-Man.

Beautiful Future ist langweilig und unentschieden. Zwar klingt es in manchen Momenten frisch, gerade dann, wenn die Band mal nicht das lärmende Rock-Pathos bemüht, sondern sich traut, ihren Pop aufzupolieren. Doch meistens tönt es wie die zusammengemurkste Schnittmenge aus allem, was die Band in den vergangenen zwanzig Jahren veröffentlicht hat. »Popmusik hat nichts mit Originalität zu tun,« erkannte Bobby Gillespie bereits im Jahr 1994. Das trifft bedauerlicherweise auch auf die meisten seiner neuen Lieder zu.

»Beautiful Future« von Primal Scream ist als CD bei B-Unique/Warner erschienen.

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Klingeln im Origami-Saustall

DJ Scotch Egg zwängt Bach, Free Jazz und Stockhausen in seinen Gameboy und unterlegt das Gequängel mit harten Rhythmen. Unerträglich? Von wegen! Es macht sogar Spaß

Drumized DJ Scotch Egg

Elvis ist tot. Johann Sebastian Bach lebt. Er ist Japaner, wohnt in England und spielt leidenschaftlich Gameboy. Am Wochenende fährt er gerne mal nach Rotterdam und treibt sich auf Gabber-Partys herum. Gabber, das ist knallharter Techno, der Klang des Weltuntergangs.

Schuhe aus – hier kommt DJ Scotch Egg! Er ist weder Schotte noch DJ. Wahrscheinlich ist er nicht einmal ein Ei. Dafür ist er Vertreter einer Musikgattung, die sich KFC-Core nennt – in Anlehnung an den Hühnchen-Schnellbrater Kentucky Fried Chicken. Wer will uns denn so in die Irre führen? Es ist Shigeru Ishihara, ein in Brighton gestrandetes Schlitzohr. Wäre er Architekt, er würde Brücken bauen.

Er liebt die Bach’sche Fuge, die Metal-Experimente des John Zorn, den Free Jazz, Karlheinz Stockhausens abrupte Klangfarbenwechsel und den Klingelton. Seine Musik komponiert DJ Scotch Egg am Gameboy. Sie hört sich an, als spielte man mit zwei Fingern in der Steckdose ein Computerspiel, während nebenbei der Fernseher läuft, das Handy klingelt, ein Baby schreit und der Nachbar seine Leidenschaft für den Schlagbohrer entdeckt. Einige werden es Folter nennen, für andere ist es Pop mit durchgedrücktem Gaspedal. DJ Scotch Eggs Album Drumized dauert keine 27 Minuten. Wenn es ausklingt, ist es, als sei ein Spuk vorbei.

Im Musikvideo zu Scotch Hausen posiert Ishahara als Dirigent eines Daddel-Orchesters. Anstelle von Geigen und Bratschen haben die Musiker Gameboys in der Hand. Eine Eintagsfliege? Von wegen: Drumized ist bereits sein viertes Album, er hat viele Anhänger und ist dauernd auf Tournee. Von Roskilde bis Lowlands trat er bei allen großen Festivals auf, denn sein Klang fasziniert Tausende. Unerträgliches macht plötzlich Spaß, wenn der DJ mit vier seiner Klingelkisten hantiert. Die gesunde Mischung aus Akribie und Freiheit, Dreistigkeit und Humor ist seine Kunst. Ein Origami-Saustall. Game Over.

»Drumized« von DJ Scotch Egg ist als CD und LP erschienen bei Load Records.

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Kanonenkugel ins Herz

Seit 28 Jahren hat Larry Jon Wilson keine Platte mehr aufgenommen. Jetzt setzte er sich in Florida ans Fenster und zupfte ergreifende Lieder, als sei kein Tag vergangen.

Larry Jon Wilson

Der sanftgebügelte Klang der Fiedel umfängt die Zuhörer, ein schunkelnder Rhythmus fordert sie zum Mitklatschen auf. Das ist eine Sensation, heute Abend und hier in Nashville stehen drei Legenden auf einer Bühne: Billy Ray Cyrus, Shania Twain und Garth Brooks. Sie haben die elektrischen Gitarren umgeschnallt und schicken geschliffene Akkorde ins dankbare Publikum. Keine fünf Minuten hält Kris das aus, »Country kann so abgeschmackt sein«, denkt er sich, »die Neunziger ätzen mich an«. Er geht hinaus…

… geht fünfzehn Jahre zurück. Ein paar Straßen weiter biegt Kris links ab, in eine dunkle Gasse. Dann wieder links, einmal halbrechts, ein paar hundert Meter geradeaus und rechts eine halbe Treppe hinab. Hier haben er und seine Freunde Nashville neu aufgebaut, hier versammeln sich die Country Outlaws in einem winzigen, gemütlichen Kellerstübchen. Johnny Cash ist da und Waylon Jennings, selbst Willie Nelson. Kris lässt sich nieder.

Auf der Bühne steht sein Freund Larry, Larry Jon Wilson. Er hat gerade begonnen zu spielen, allein mit seiner Gitarre und seiner Stimme erfüllt er den Raum und die Menschen mit Leben. Im Bariton grummelt er beseelte Geschichten, banale und dramatische. Sein Country ist nicht glatt, nein, hier schwingen Soul und Blues mit, seine Akkorde sind rau. Am Ende steht das Publikum und applaudiert, vier-, fünfmal muss Wilson auf die Bühne zurückkehren, einige Lieder spielt er doppelt, weil er keine neuen mehr kennt. Alle sind gerührt, der Sänger nicht weniger als sein Publikum. »Dieser Teufelskerl«, flüstert Kris seinem Nebenmann zu, »er bricht dein Herz mit der Stimme einer Kanonkugel«.

Sein Freund steht noch immer auf der Bühne und bedeutet den Jubelnden, dass er noch etwas zu sagen habe. »Freunde… und ich weiß, dass alle, die heute Abend hier sind, meine Freunde sind… Das fällt mir jetzt nicht leicht. Es ist gar nicht lange her, zehn Jahre, da habe ich zum ersten Mal eine Gitarre in der Hand gehalten, nicht hier in Nashville, sondern in Langley, South Carolina. Was ist alles passiert seither? Ich habe gelernt, sie zu spielen, habe meinen Job als Chemiker aufgegeben, habe mit der Hilfe vieler von Euch – Townes, Mickey… – ein paar Alben aufgenommen.« – »Und keine Schlechten, Mister Wilson!«, ruft ein sehr junger Mann dazwischen, viele im Publikum signalisieren lautstark ihre Zustimmung. »Mag sein«, fährt Wilson lächelnd fort, »gekauft hat sie trotzdem niemand, oder? Ich mache es kurz. Vielen Dank für alles, Freunde. Es war mir ein großes Vergnügen, Nashville mit euch gemeinsam hier neu aufzubauen, Stein für Stein! Es war eine schöne Zeit. Macht’s gut.«

»Du verdammter Dickkopf«, ruft Kris ihm hinterher, aber er weiß, das wird nichts ändern.

Achtundzwanzig Jahre später in Florida. Kris lehnt grinsend im Türrahmen und traut seinen Augen nicht. Da sitzt sein Freund Larry Jon Wilson am offenen Fenster – draußen rauscht der Atlantik. Er sitzt da mit seiner Gitarre, nur seiner Gitarre. In der Ecke steht ein Aufnahmegerät, es läuft die ganze Zeit. Wilson öffnet eine Dose Bier und wärmt seine Hände in der warmen Brise. Er stimmt Willie Nelsons Heartland an:

»There’s a home place under fire tonight in the heartland
And the bankers are taking my home and my land from me
There’s a big achin‘ hole in my chest now where my heart was
And a hole in the sky where God used to be
My American dream fell apart at the seams
You tell me what it means, you tell me what it means.«

»Warum ausgerechnet jetzt? Und warum hast du 28 Jahre gebraucht, diese fantastischen Lieder endlich aufzunehmen?« – »Ach weißt du, Kris. Ich wollte es einfach noch einmal versuchen, egal wie stümperhaft das klingt. Was meinst du?« Kris schnappt nach Luft, er kann es einfach nicht fassen.

Eine Woche lang nimmt Larry Jon Wilson auf, was ihm einfällt, die meisten Lieder komponiert er selbst. Freunde kommen vorbei und lauschen, reden. Die Erinnerungen verwandeln sich in Lieder, aus Liedern werden neue Erinnerungen. Er nimmt jedes Lied nur einmal auf, kein Produzent legt Hand an. Ein paar Mal spielt eine kaum hörbare Geige im Hintergrund, als käme sie aus dem Nebenzimmer. Wilson stört sich nicht an schiefen Tönen, entzupft seiner Gitarre ein paar intuitive Country- und Bluesakkorde und erzählt, was ihm einfällt. Er ergeht sich in Selbstmitleid: »I’d miss you, if I knew what I was missing«, singt er in der bewegenden Losers Trilogy – und rechnet ab. Er berichtet von düsteren Träumen und gescheiterter Liebe, aber seine warme Stimme gibt einem das Gefühl, das Leiden sei gar nicht so schlimm.

Ein paar Wochen darauf: Will Oldham eilt Nashvilles Hilsboro Road hinunter und stolpert ins Bluebird Café. Stolz wedelt er mit einer selbstgebrannten CD, die der Country-Haudegen Kris Kristofferson ihm gerade geschickt hat. »Liebe Leute, kauft euch diese Platte, bitte. Das hier sind zwölf Lieder, denen man anhört, dass sie aus der Tiefe kommen. Dagegen klingt selbst Johnny Cash überladen.«

Das unbetitelte fünfte Album von Larry Jon Wilson ist als CD bei 1965 Records/Alive erschienen. Die vier Alben, die er in den Jahren 1975 bis 1979 aufnahm, sind derzeit unverständlicherweise nicht erhältlich.

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Galaktischer Pierrot

Über die Jahre (40): Klaus Nomi aus Essen wurde in New York berühmt. Als gepuderter Poptenor an David Bowies Seite sprang er drei Jahre lang durch die Clubs, bis zu seinem tragischen Ende am 6. August 1983.

Androgyn und android. Sein Gesicht schminkte er weiß, die Lippen schwarz. Ein Roboter mit onduliertem Haar. Klaus Nomis tragische Ruhmesgeschichte dauerte nur wenige Jahre. Vor 25 Jahren starb der deutsche Kontratenor, einsam und verarmt.

Eines der ersten berühmten Aidsopfer, so wird er oft genannt. Bekannt war er in Deutschland kaum, dieser Sänger, der sich anzog, als sei er aus Oskar Schlemmers mechanischem Ballett gesprungen. In New York war das anders. Selbst Rockmusiker erstarrten, wenn er auftrat. Punks begannen zu weinen. Das erzählt man sich immer noch.

Er war plötzlich da.

David Bowie hatte ihn entdeckt. Ähnlich wie Nomi war er gegen Ende der siebziger Jahre im Futurismus hängen geblieben. Bowie sah ihn in einem New Yorker Club: Mit hartem deutschen Akzent sang Nomi von der Kraft der Liebe, der Apokalypse, in Falsett – gekleidet wie Andy Warhols Version der Königin der Nacht. Wie von einem fremden Stern.

Doch er kam bloß aus Immenstadt, einem bayrischen Dorf, zwischen Kempten und Alpsee gelegen. Da hieß er Klaus Sperber. In Essen wuchs er auf. Als er zwölf war, griff seine Mutter versehentlich in seine Karriere ein. Sperber hatte sich eine Elvis-Presley-Platte gekauft. Seine Mutter schleppte ihn zurück zum Geschäft und tauschte das Album um. In eines von Maria Callas. Elvis und Callas, Pop und Oper. Der junge Klaus wollte beides und auf die Bühne. Statistenrollen in Essen, Gesangsausbildung in Berlin – dann kam er an die Deutsche Oper, als Platzanweiser und Fahrstuhlwärter. Singen mochte ihn in Deutschland niemand hören.

In New York erging es ihm zunächst ähnlich. Jedes Theater lehnte ihn ab. So wandte er sich einem Beruf zu, der ähnlich zuckrige Kunstwerke hervor bringt: Er jobbte als Konditor – bis Bowie kam. Es war die Zeit des New Wave, Sperber wurde zu Nomi und trat in der Samstagabendsendung Saturday Night Live auf. In Frischhaltefolie verpackt sang er mit Bowie zusammen. So wurde er berühmt. Rock, Oper, Disco – Nomi ein Anagramm von „Omni“, „alles in einem“. Ein galaktischer Pierrot! Mechanisch sein Tanz, sein Gesang manchmal schauderhaft. In die New Yorker Clubs passte er perfekt.

Die erste Single erschien 1980: Keys Of Life. Das erste Album Nomi folgte, sein zweites und letztes hieß Simple Man. Nomi sang Marlene Dietrichs Falling in Love Again, Henry Purcells Cold Song, er vermischte schrille Arien mit dem Keyboard getriebenen New Wave. Weltraumoper – selten passte dieser Begriff besser. Der deutschen Presse galt er lange als Kuriosität. Thomas Gottschalk lud ihn 1982 ein, in seine Sendung Na sowas.

Ein Jahr später kam die Krankheit. Das Aids-Virus hatte noch keinen Namen, da lag Nomi im Hospital und starb. Mit nur 39 Jahren. Seine Bewunderer kamen nicht ins Krankenhaus, sie hatten Angst, sich anzustecken. Vor drei Jahren verfilmte der Regisseur Andrew Horn eine posthume Würdigung: The Nomi Song. Bis dahin wussten wenige, was er hinter all dem Plastik und Puder verbarg: einen einsamen Menschen voller Lebensangst und Zweifel.

Das Debütalbum von Klaus Nomi ist im Jahr 1981 bei RCA erschienen und heute als CD über Sony BMG erhältlich.

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Streicher in der Notaufnahme

Auf dem neuen Album seiner Band Spiritualized spielt Jason Pierce, was er am besten kann: Vom Folk durchwirkte Poplieder, mal karg, mal überschwänglich. Um ein Haar hätte es »Songs In A&E« nie gegeben.

Spiritualized Songs in A&E

Der Tod spielt irgendwann jedem auf. Warum sollte man ihn dazu noch ermuntern? Death Take Your Fiddle fleht Jason Pierce auf seinem neuen Album Songs in A&E. Tod, nimm endlich deine Fiedel. Und spiel sie, damit es bald ein Ende hat! Spiel mir dein Lied. »Play a song for me.« Ein Chor heult zu diesen Zeilen, eine Gitarre streichelt Folk-Noir-Akkorde, ein schweres Schnaufen gibt den Rhythmus vor und treibt das Lied voran.

Jason Pierce veröffentlicht seine Platten unter dem Namen Spiritualized. Sein sechstes Album ist ein Erfahrungsbericht. Eine doppelseitige Lungenentzündung fesselte ihn monatelang ans Bett, um ein Haar wäre er daran gestorben. Hinter A&E verbergen sich nicht etwa zwei Tonarten, sondern Accidents & Emergency – die Notaufnahme. Kanülen aus knallbuntem Plastik, fotografiert vor einer grauen Wand, zieren das Beiheft. Käufer des Albums können es zu einem Poster entfalten. Und das Schnaufen in Death Take Your Fiddle klingt nach einer Beatmungsmaschine – wenn es auch von einem Akkordeon stammt.

Songs in A&E ist das beste Album von Spiritualized seit einer Dekade. Wie auf Ladies & Gentlemen We’re Floating in Space im Jahr 1997 bringt Jason Pierce sein Können auf den Punkt. Sweet Talk etwa ist ein unvergleichliches Stück Gospel-Folk-Psychedelia – so schmerzvoll wie eine Wunde, die immer wieder aufreißt. Und Soul On Fire ist eine wahrlich überwältigende Pop-Ballade mit Streichern, immer wieder gebrochen durch Pierces fragile Stimme. Wenn er singt »Baby, set my soul on fire / I got two little arms to hold on tight / And I wanna take it higher«, dann klingt das nicht nur wie eine Liebeserklärung an einen Menschen, sondern wie eine an das Leben selbst.

Songs in A&E ist ein asketisches Album. Pierce soll es zum großen Teil auf einer achtzig Jahre alten Gibson-Gitarre geschrieben haben, die er bei einem alten Trödler erstanden hat. Der Musiker behauptet, sie habe ihm magische Kräfte verliehen: Die Stücke seien förmlich aus dem Instrument heraus geflossen. Die Gitarre ist vielseitig. Sie tröstet, sie wärmt, immer wieder klingt sie anders. Pierce verbindet stets seine Liebe zum Störgeräusch, zu blitzender Kakophonie mit seinen Fähigkeiten als Komponist.

Goodnight Goodnight, das versöhnliche Schlummerlied am Ende des Albums, zeigt noch einmal, aus wie wenig Stoff Jason Pierce seine Stücke zu weben versteht. Ein langsames Gitarrenzupfen, dazu der Gesang. Und wir dürfen endlich aufatmen. So sanft, so liebend und lebendig singt niemand, den der fiedelnde Tod erwartet.

»Songs In A&E« von Spiritualized ist als CD und Doppel-LP bei Spaceman/Cooperative/Universal erschienen.

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