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Anstand von vorgestern

Der Rapper Everlast spricht häufig von Ehre und Identität. Vor lauter Klagen über die bösen Kollegen ist sein neues Album „Love, War And The Ghost Of Whitey Ford“ so richtig in die Hose gegangen

Everlast ist ein Mann der großen Worte. Sätze wie „Wenn du keine Ehre hast, besitzt du gar nichts mehr“, kommen ihm ganz selbstverständlich über die Lippen. Und Everlast ist unzufrieden mit dem Stand der Dinge im HipHop. Es mangele den Rappern an Ehre, Anstand, dem Genre an Identität, sagte er vor einiger Zeit. Ob er es besser kann als all die anderen? Sein neues Album Love, War And The Ghost Of Whitey Ford gibt Aufschluss darüber.

Aus Neros brennendem Rom schallen schmissige Fanfaren herüber, ein Knall, dann geht es richtig los. Erik Schrody alias Everlast meldet sich kehlig zu Wort und rappt über einen Beat, der beinahe so alt klingt wie die Tröten zuvor. Welches Jahr tönt hier? 1990? 1991? Oder 1992? Uralt jedenfalls. Der Beat scheint aus einer Zeit zu stammen, als es im HipHop noch um Anstand und Untergrund ging und nicht um Goldkettchen, Mädchen und Diamanten. Auf diesen züchtigen Rhythmus reimt Everlast eine Lyrik, die ebenfalls historisch anmutet. Er beschimpft – disst – die New York Times und CNN, das mufft nach Hardcore-HipHop alter Tage.

In der Folge entfaltet sich das bislang größte Rap-Desaster des Jahres 2008. Schon im nächsten Stück versucht sich Everlast an Johnny Cashs Folson Prison Blues, dem er das alte Quietsch-Sample seiner früheren Band House Of Pain implantiert. Außer jenem Selbstzitat und überfetteten Beats weiß er nichts hinzuzufügen. Auch der Rest des Albums ist eine Enttäuschung: Stone In My Hand verschwurbelt Westernrock mit The Clash und Pathos – hier wird deutlich, wie wenig Strahlkraft Everlasts Stimme hat.

Wie schon früher singt Everlast aus der Sicht eines gewissen Whitey Ford. „Whitey Ford ist eine Beschreibung, eine Farbe einer Kreide, eine Person, durch die ich sprechen kann. Sie erlaubt mir, Dinge über mich zu sagen, die ich sonst vielleicht nicht sagen würde“, beschreibt er die Figur. Genau da liegt das Problem: Auf seinem neuerlichen Parforceritt durch die Stile, durch Soul, Elektrofunk, Blues, HipHop, Folk, Orientalismen, Western und Rock bleibt der Künstler auf der Strecke.

Einigermaßen erträglich sind immerhin jene Stücke, in denen Everlast sich zurückhält. Friend etwa ist ein solches Lied. Aus ein paar Klampfenakkorden formt er etwas, das viel stärker klingt als die überladenen Klangkaskaden anderer Stücke. Nichts als Dunkelheit habe er im Herzen, singt er. Und das Bedröppelte steht ihm besser als die Wut. Dem traurigen Lagerfeuer-Gitarristen Everlast hört man gern zu, der wütende HipHopper Everlast hingegen klingt nach Vorgestern. Da mag er noch so viel Anstand und Ehre in sich tragen.

„Love, War And The Ghost Of Whitey Ford“ von Everlast ist bei PIAS/Rough Trade erschienen.

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Ein Reim am Ende des Tunnels

Der britische Rapper Roots Manuva ist in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten. Selbst in der U-Bahn wird er nicht mehr erkannt. „Slime & Reason“ könnte das nun ändern

Roots Manuva Slime & Reason

„Ey du da – hast du mal ein paar Pennies für mich? Meine Frau kriegt ’n Baby und ich muss echt dringend ins Krankenhaus.“

„Klar.“

„Hey Mann, kenn ich dich nicht irgendwoher?“

„Bruder, ich bin auf dieser Insel der erfolgreichste Rapper.“

„Willst du mich verarschen, Opa? Dizzee Rascal und Kano sind die erfolgreichsten Rapper! Wie heißt du denn?“

„Roots Manuva, Bruder. Du kannst mich Rodney nennen, oder einfach Roots. Und ich geb‘ zu, dass meine Erfolge etwas zurückliegen.“

„Roots Malawi? Nie gehört, Mann. Was machst du hier überhaupt in der Londoner U-Bahn? Ich dachte, Rapper fahren dicke Schlitten. Gib mir mal ’ne Kippe und erzähl, machst du noch Musik?“

„Stell erstmal das Gedudel von deinem Handy ab, das macht mich verrückt! OK. Ist zwar schon sieben Jahre her, aber du kennst bestimmt meinen Hit Witness [Er singt] ‚Witness the fitness, the Cruffiton liveth, one hope, one quest.'“

„Der ist von dir? Nicht schlecht…“

„Danke Bruder. Danach ging’s leider bergab mit den Erfolgen. Ich hab‘ ein paar Alben gemacht, hatte auch immer ’ne Menge Fans, so kam immerhin genug bei rum.“

„OK, und warum fährst du dann U-Bahn?“

„Naja, weißt du, der Luxus lähmt einen, mir ist da einiges zu Kopf gestiegen. Ich hab‘ gerade eine neue Platte aufgenommen und bin immer mit der Bahn ins Studio gefahren, hab‘ mich um alles selbst gekümmert. Ich sag dir, Bruder, das hat meiner Musik gut getan.“

„Muss dann ja eine Wahnsinnsscheibe geworden sein…?“

„Um ehrlich zu sein: War nicht einfach, die Platte zu machen. Es hat sich viel getan im britischen HipHop. Es gibt jetzt Grime und Dubstep. Die haben alle bei mir geklaut, aber das wäre albern, würd‘ ich jetzt auf diese flotten Beats reimen. Ich hab‘ einfach angefangen, wieder meine ganz eigene Musik zu machen und viele grüne Stücke aufzunehmen.“

„Grüne Stücke? Spinnst du?“

„Nein, ich bin doch Synästhet. Unspektakuläre Lieder hab‘ ich gemacht, die sich nicht aufdrängen und bei jedem Hören wachsen. Mit alten Synthesizern und jeder Menge Gesang. Hör’s dir an, Mann, das ist HipHop, der wie eine Plattform funktioniert. Ich hab‘ mich gefühlt wie früher bei den Parties unserer Soundsystems, da wurde echt alles gespielt und gemixt. Da ging es nicht um Abgrenzung, sondern um Offenheit, wir haben zu Reggae, HipHop, Calypso und Rock’n’Roll getanzt.“

„Machst du etwa Weltmusik, Mann?“

„Nix da. Obwohl, Großbritannien ist ja voll von kulturellen Einflüssen. Ich denke, die Leute halten meine Musik genau deshalb für britisch, weil sie offen ist.“

[Roots Manuva holt eine Thermoskanne und zwei Plastikbecher hervor] – „Willst du ’nen Kaffee, Bruder?“

„Ja, Mann, danke. Erzähl weiter!“

„Musst du nicht ins Krankenhaus? Zu deiner Frau?“

„Stimmt, ich muss hier aussteigen!“

„Du bist ein schlechter Lügner.“

„Und du bist wohl ein guter Musiker. Ich kauf mir gleich dein neues Album – wie heißt du noch? Roots Ma…?“

„…NUUUUVA!“

„Slime & Reason“ von Roots Manuva ist als CD und Doppel-LP bei Big Dada/Rough Trade erschienen.

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Sing mir Dein Lied!

Sanft und lockend wie die heiligen Lieder der amerikanischen Ureinwohner erklingt „Cantando“, das neue Album des schwedischen Pianisten Bobo Stenson

Bobo Stenson Trio Cantando

Es war die Zeit des sanften Protests: Im Jahr 1973 nahm der junge schwedische Pianist Bobo Stenson gemeinsam mit dem norwegischen Saxofonisten Jan Garbarek das Album Witchi-Tai-To auf. Der Titel bezog sich auf eine Komposition von Jim Pepper, die wiederum auf dem heiligen Lied des Wassers der amerikanischen Ureinwohner vom Stamm der Kaw beruhte. Das Witchi-Tai-To galt der Anerkennung der Kultur amerikanischer Ureinwohner, die seit Kolonialzeiten als „Indianer“ diskriminiert wurden. Auch Hasta Siempre von Carlos Puebla wurde damals immer wieder gespielt, es war – zwei Jahre vor der Ermordung Allendes in Chile – Sinnbild des gesellschaftlichen Aufbruchs. Jazzmusiker wie Garbarek, Stenson und Pepper, aber auch Charlie Haden und Don Cherry widmeten sich in ihrer Musik diesem Aufbruch.

Bobo Stenson lernte die amerikanischen Musiker in seiner Zeit in Paris und später in Stockholm kennen und spielte mit ihnen. Er war an vielen wichtigen Aufnahmen des spirituellen, politischen und stilistischen Aufbruchs beteiligt und nahm auch mit seinen eigenen Gruppen immer wieder Stücke auf, die den gesellschaftlichen Wandel thematisierten. So interpretiert er auf seinem neuen Album Cantando Stücke des kürzlich verstorbenen tschechischen Komponisten Petr Eben, des kubanischen Liedermachers Silvio Rodriguez, von Ornette Coleman und Don Cherry sowie die von Alban Berg vor einhundert Jahren komponierte Liebesode.

Don Cherrys Don’s Kora Song – in dem dieser das Thema von Hasta Siempre aufgriff – erinnert Stenson an die Zeit, die er mit Cherry verbrachte. Auf den Busfahrten der Band legte er oft Musik aus Mali ein. Dieser Klang habe ihn über Jahre begleitet, sagt Stenson. Viele der von ihm nun neu interpretierten Musiker sind nicht mehr am Leben, Cantando trägt ihre Musik weiter. Gerade in Don’s Kora Song taucht er so tief und konzentriert in die Melodie ein, als spiele er sie wieder gemeinsam mit Don Cherry.

Stenson lässt seinem Trio auf Cantando weiten Raum zum gemeinsamen Improvisieren. Er nennt das „freie Kammermusik“: Die Töne seines Klaviers breiten sich aus, wie die Schwingen eines gleitenden Vogels. Die gestrichenen Melodien des Bassisten Anders Jormin gleiten in den Raum, manchmal klingt sein Instrument wie ein Saxofon. Sparsam akzentuiert der Schlagzeuger Jon Fält das Spiel der beiden, obwohl er gerade erst zu Stensons Trio stieß, finden sie die Klänge. Viele Sequenzen sind ruhig und flächig, andere experimentell. Die Stilistiken fließen ineinander, die Töne haben Raum.

Cantando ist als Aufforderung zu verstehen, „Sing mir Dein Lied!“ Es kann auch bedeuten „Erzähl mir Deine Geschichte!“ Bobo Stenson erzählt die Geschichten seines Klanguniversums, die Stücke sind sanft und lockend, wie geflüsterte Liebeslieder – als singe er sein persönliches Witchi-Tai-To.

„Cantando“ vom Bobo Stenson Trio ist bei ECM erschienen.

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Endlich wieder Sauerstoff im Hirn

Vordergründig handelt „That Lucky Old Sun“ von Los Angeles, in Wirklichkeit aber von Brian Wilson. Zu den beschwingten Tönen seiner frühen Surf-Hymnen verarbeitet der ehemalige Beach Boy seine Enttäuschungen

Brian Wilson hatte eine ganze Menge zu verarbeiten, immer wieder knabberte er in den vergangenen zehn Jahren an den Themen seiner Vergangenheit. So brachte er das mit den Beach Boys im Jahr 1966 eingespielte Meisterwerk Pet Sounds auf die Bühne. Und vollendete das im Jahr 1967 unter traumatischen Umständen abgebrochene Konzeptalbum Smile. Auch sein neues Album That Lucky Old Sun legt die Spur in die Sechziger, zu den unbeschwerten Surf-Hymnen der Beach Boys in der Zeit vor Pet Sounds.

That Lucky Old Sun belebt den kalifornischen Traum. Die Lieder handeln von der gleißenden Sonne, den endlosen Stränden, vom Surfen, schnellen Autos und schönen Mädchen. Das Wilson diese Erzählungen fortsetzt, ist erstaunlich. Schließlich lebte – abgesehen von Dennis Wilson – keiner der Beach Boys in der Welt, von der sie erzählten. Die Brüder und Vettern waren arme Hinterwäldler aus einer dysfunktionalen Familie. Und der Traum war purer Eskapismus, eine offensichtliche Hollywood-Konfektion, die das musikalische Genie Wilson in den schönsten Farben ausmalte.

That Lucky Old Sun ist ein Konzeptalbum über Los Angeles. Kurze Erzählungen über die Stadt verbinden die Stücke. Brian Wilson hat sie mit Van Dyke Parks geschrieben, der stand ihm schon bei Smile zur Seite. Schon immer braucht Wilson einen Helfer, jemanden, der seine Gedanken in die richtigen Worte packt. Diese kurzen Geschichten vermitteln immerhin eine Ahnung der Kehrseite des kalifornischen Traums. Dem Ständchen an das Surfer Girl, das er bereits vor 45 Jahren besang, lässt er Zweideutiges folgen: „Venice Beach is poppin‘ / Like live shrimp dropped on a hot wok / Hucksters, hustlers and hawkers / Set up their boardwalk shops / Home for all the homeless, hopeless / Well heeled and deranged / Still nothing here seems out of place or strange.“

Um die Erzählungen herum komponierte Brian Wilson sonnige Lieder, die er gemeinsam mit seinem Keyboarder Scott Bennett betextete. In Morning Beat besingt Wilson den Rhythmus der Stadt in einer Suite aus pumpender Orgel, röhrendem Saxofon, Kastagnetten und Harmoniegesängen. Auch Good Kind Of Love klingt unbeschwert, Wilson spielt eine muntere Melodie auf seinem Piano, im Hintergrund wirbeln Streicher. Fort mit den Lastern, her mit der Melodie! Sorglos pflanzt er simplen Popliedern harmonische Raffinesse ein, das verleiht seinen eingängigen Melodien Langlebigkeit. Wie damals bei den Beach Boys: Man mag ihnen immer und immer wieder zuhören.

In der zweiten Hälfte der Platte wird offensichtlich, dass That Lucky Old Sun auch als Autobiografie Brian Wilsons verstanden werden muss. Und als Versuch der Befreiung von den Geistern, die ihn trieben. In Oxygen To The Brain beklagt er „I cried a million tears / I wasted a lot of years / Life was so dead, life was so dead.“ Im albernen Refrain schließlich jubiliert er, nun endlich gelange wieder Sauerstoff in sein Hirn. Deutlicher könnte der Hinweis auf die Jahre der Depression nach dem Abbruch der Arbeiten zu Smile nicht sein.

Midnight’s Another Day nimmt Bezug auf das Wirrwarr aus Drogen und Ambitionen, das die Beach Boys seit den Aufnahmen zu Pet Sounds begleitete. Wilson berichtet, wie er sich damals immer weiter in seine eigene Welt zurückgezogen hatte: „Swept away in a brainstorm / Chapters missing, pages torn / Waited too long to feel the warmth / I had to chase the sun.“ Es ist das einzige Stück, das direkt an die nachdenkliche Stimmung von Pet Sounds anknüpft. Sein Gesang klingt zerbrechlich, die Harmonie-Gesänge umschmeicheln seine Stimme.

Southern California fasst schließlich die himmlischen Harmonien und Träume noch einmal zusammen: „I had this dream / Singin‘ with my brothers / In harmony, supporting each other // Love songs, pretty girls – didn’t want it to end / Tried to slow down the motion, so it could move us again.“ Spätestens hier wird klar, dass es in That Lucky Old Sun vor allem um eines geht: Brian Wilson hat die kalifornische Sonne wieder gefunden. Er singt nicht vom Strand, sondern von seinem Traum des Strandes. Er verarbeitet seine Vergangenheit in wohlgeformten Harmonien. Schön, dass es ihm besser geht.

„That Lucky Old Sun“ von Brian Wilson ist auf CD und LP bei Capitol/EMI erschienen.

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Karl Dall auf Jamaika

Über die Jahre (42): Das Debütalbum von Wareika Hill Sounds bringt verschiedene Orte, Spielarten und Zeiten zusammen, ohne dass man ihm den Jetlag der Weltreise anmerkt

Ein Jazzclub, auf der Bühne stehen jamaikanische Rastafaris in Nadelstreifen. Ihre Filzlocken sind pomadig gescheitelt. Der Bass spielt Reggae, die Bläser swingen, als kämen sie aus den zwanziger Jahren, prägnant und aufregend. Tony Allen und die Africa 70 betreten die Bühne und spendieren Afrobeat.

Später verlässt die Band den Club, die Menschen folgen ihr nach draußen, und die Party geht auf der Straße weiter. Die Marching Band zieht um die Blöcke. Wo sind wir eigentlich? In Kingston, New Orleans, Lagos oder New York? Und in welchem Jahr noch gleich? Musik kann einen ganz schön durcheinander bringen.

Die Rastafaris nennen sich Wareika Hill Sounds, ihr Debütalbum aus dem Jahr 2007 bringt Orte, Spielarten und Zeiten zusammen, ohne dass man ihm den Jetlag der Weltreise anmerkt. Der Kopf der Band ist der jamaikanische Posaunist Calvin „Bubbles“ Cameron. Zugegeben, die Posaune ist kein typisches Instrument des Reggae. Doch dies ist auch kein gewöhnliches Album. Die Bässe drücken, die Bläser schweben, eine Orgel flimmert, das Schlagwerk spielt tanzbar. Das sind doch bewährte Muster? Wie entsteht daraus derart Originelles?

Den Wareika Hill Sounds ist selbst das Mischpult ein Instrument. Ihre Aufnahmen sind räumlich, die Techniken des Dub verschieben die Wahrnehmung, verzerren die Wände. In diesem expressionistischen Klangbild weiß auch der Hörer bald nicht mehr, wo er sich befindet.

Nur wenn die Herren aus Wareika singen, dann wird es erschreckend simpel: „Jamaica is Reggae-Land. We play music and have fun.“ Das klingt nach alten Urlaubsfilmen von Karl Dall. Aber Schwamm drüber – sie singen ja kaum.

Das unbetitelte Debütalbum von Wareika Hill Sounds ist im Jahr 2007 auf CD und LP bei Honest Jon’s/Indigo erschienen.

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Zwitschern, dann Stille

Im Sommer kam der Pianist Esbjörn Svensson beim Tauchen ums Leben. „Leucocyte“ ist das beeindruckende Vermächtnis seines Trios e.s.t.

Leucocyte EST

Bengt Säve-Söderbergh, der ehemalige schwedische Botschafter und jetzige Präsident der Schwedischen Jazz-Föderation, saß an der Bar des Hotel Rival in Stockholm. Das Hotel gehört Benny Andersson von ABBA. Auf den Tischen im Foyer lagen Zettel, mit denen ein Konzert des Free-Jazz-Saxofonisten Mats Gustafsson in einem kleinen Club in der Nähe beworben wurde. Oben im Restaurant des Hotels saß der Posaunist Nils Landgren bei der Familie des verstorbenen Pianisten Esbjörn Svensson. Die Menschen kennen sich hier in Stockholm. Sie wissen umeinander, kennen die Geschichten der anderen.

Nach dem Tod Svenssons am 14. Juni 2008 hatte Benny Andersson den Theatersaal seines Hotels einer Gedenkfeier zur Verfügung gestellt. Ausgerichtet wurde sie von Svenssons Schlagzeuger und Freund Magnus Öström. Es war eine berührende Feier: Im Saal lief leise ein getragenes Stück von Sigur Rós, der Lieblingsband Svenssons. So war das immer vor Konzerten von e.s.t., des Esbjörn Svensson Trios. Auch die Instrumente auf der Bühne waren angeordnet, als trete die Band auf, der Flügel geöffnet, Bass und Schlagzeug in stummer Erwartung. Viele schwedische Künstler, mit denen Esbjörn Svensson zusammengearbeitet hatte, waren gekommen: Die Dichterin Kristina Lugn, der Saxofonist Joakim Milder und die Sängerin Lina Nyberg, die später mit dem Pianisten Anders Persson den Waltz For The Lonely Ones sang.

Später an der Bar erzählte Bengt Säve-Soderbergh von seiner Zeit mit Olof Palme und seiner ersten Begegnung mit dem Jazz, der Musik des gesellschaftlichen Aufbruchs. Und er erzählte von seiner ersten Begegnung mit Esbjörn Svensson, noch lange vor der Gründung des Trios. Berichtete, dass Svensson und Öström in den kleinen Clubs Stockholms auftraten und sie sich mit Aushilfsarbeiten im Ministerium ihre Musik finanzierten. Er habe die beiden damals gebeten, in die Schulen zu gehen, um den Kindern Jazz zu erklären.

Nun, zehn Jahre nach der Gründung des Trios, war Esbjörn Svensson auf dem Höhepunkt seines Erfolgs angelangt. e.s.t. spielten Konzerte überall auf der Welt, selbst die New York Times und die Jazz-Zeitschrift Downbeat zollten ihnen Anerkennung. Im vergangenen Jahr nahmen sie in Sydney das Album Leucocyte auf, das jetzt erscheint. Der Titel ist programmatisch, wie die weißen Blutkörperchen, die den Körper vor Krankheiten schützen, erneuerten sich e.s.t. beständig.

So scheinen sie mit Leucocyte in eine neue Phase eingetreten zu sein. Lange, mehrteilige Kompositionen mit weiten, sich elektronisch verdichtenden Improvisationsbögen dominieren das Album. Die solo gespielte Ballade Decade eröffnet voller Ruhe und Offenheit. Metallische Klänge und das Inferno des Stücks Earth wischen diese Ruhe weg, das folgende Jazz beginnt düster, entwickelt sich zu einem treibenden Modern Jazz und zerfällt schließlich in seine Teile. Serielle Abfolgen, die an asiatische Tempelgongs erinnern, bilden eine meditative und verstörende Kulisse. Im fünfundzwanzigminütigen Titelstück fügen e.s.t. Fragmente zu einer langsamen Melodie zusammen.

Esbjörn Svensson engagierte sich im Umweltschutz, die Leukozyten im Titel könnten ein Sinnbild des Zustands der Erde sein. Stücke wie Decade oder Ad Mortem klingen wie unheimliche Vorahnungen, sie zeichnen ein düsteres Bild der Welt. Die poetischen, spielerischen Titel früherer Alben findet man hier nicht. Am Ende des Albums klingt in der malmenden, sich immer bedrohlicher wendenden Musik vereinzeltes Vogelgezwitscher auf, danach entfernt sich der Geräuschkreisel immer weiter. Zurück bleibt Stille.

„Leucocyte“ von e.s.t. ist bei Act/Edel erschienen.

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Drei falsche Fuffziger

Kitty, Daisy & Lewis nehmen uns mit in die frühen Jahre des Rock’n’Roll: Hier schmeckt das Wasser wie Wein, und man tummelt sich beschwipst im See. Ihre Lieder scheppern und swingen, dass es eine Freude ist.

Kitty Daisy & Lewis

Sie schätzen es, schon in der Frühe um sechs fröhlich tänzelnd unter die Dusche zu hüpfen? Legen Sie das beschwingte Debüt der Geschwister Kitty, Daisy & Lewis auf, dann gerät der Morgen zum Tanzfest.

Ukulele und Kontrabass ertönen, Scheppertrommel und Konga, Gretsch- und Hawaii-Gitarren, Klavier, Akkordeon und Mundharmonika – Kitty, Daisy und Lewis Durhamlieben die Musik der vierziger und fünfziger Jahre, sie zelebrieren die frühen Tage des Rock’n’Roll, den Rockabilly, den Rhythm’n’Blues, den Country, den Swing und den Blues. Erstaunlich, schließlich ist die älteste der drei gerade 20 geworden. Zehn Lieder – zwei selbst komponierte, acht uralte – bannten sie in ihrem Heimstudio in London auf Tonbänder. Deren Klang ist perfekt, aber eben hörbar analog, wie Hausmusik auf Schellack. Produziert haben sie das Album selbst und ohne Computer, so klingen die Lieder ungeschliffen und minimalistisch.

Den Auftakt macht die Coverversion von Going Up The Country: Kitty, Daisy und Lewis laden aufs Land, wo das Wasser wie Wein schmeckt und man sich beschwipst im See tummeln kann. Welch ein charmanter Plan! Und wie geschickt, das beste Stück gleich an den Anfang zu stellen. Canned Heat spielten das Lied im Jahr 1969 in Woodstock, hier klingt es noch mal zwei Dekaden älter. Frisch und lebendig tönt es, wenn sie den Rhythmus klatschen.

Und sie klingen nicht nur nach den Fünfzigern, sie sehen auch so aus: Die Geschwister sind gekleidet wie Zeitgenossen Elvis‘, die Frisuren um ihre Pausbacken sind stilecht: Die beiden Frauen tragen die Haare zu strengen Pferdeschwänzen gebunden, alle drei haben sich Tollen zurechtgegelt. Sie inszenieren sich perfekt, auch die grobkörnigen Bilder auf der Albumhülle vermitteln den Geist vergangener Tage.

Sie wissen, was sie tun. In der Dokumentation We Dreamed America von Alex Walker erzählt Kitty, dass sie schon als Kinder gerne Johnny Cash, Elvis, Louis Jordan und den alten Blues gehört hätten. Seit einigen Jahren bereits musizieren sie zusammen, schließlich gelang es ihnen, den BBC-Moderator Rob Da Bank zu begeistern. Er nahm ihre zweite Single, Johnny Hortons Mean Son Of A Gun, ins Programm und veröffentlicht sie auf seinem Label „Sunday Best“. Dort erscheint nun auch das Album.

Eigentlich ist das alles kein Wunder, schließlich kommen die Geschwister aus einer musikalischen Familie: Ihre Mutter Ingrid Weiss trommelte in den Achtzigern bei der Postpunkband The Raincoats, ihr Vater Graeme Durham ist Tonmeister in einem der besten Studios Großbritanniens, The Exchange. Auf der Bühne helfen die Eltern gerne aus, Ingrid Weiss spielt dann den Kontrabass, Graeme Durham die Gitarre.

Zu den Klängen von Kitty, Daisy & Lewis gelingt der Morgen. Und wenn Sie dann nach den kaum dreißig Minuten dieses Debütalbums beschwingt Ihr Badezimmer verlassen, schauen Sie zur Kontrolle kurz in den Spiegel. Könnte sein, dass Sie sich eine Tolle frisiert haben.

Das Debütalbum von Kitty, Daisy & Lewis ist als CD und LP bei Sunday Best/Rough Trade erschienen. Außerdem ist das Album in Form eines Buchs erhältlich, gefüllt mit fünf 10 Inch-Scheiben, die auf 78 Umdrehungen abzuspielen sind.

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Ein Knäuel roter Fäden

Das Geheimnis der Bodies Of Water ist schwer zu fassen. Hinter jedem Takt lauert eine Überraschung. Ihr Album „A Certain Feeling“ macht sogar unseren Autor manchmal sprachlos

Eine Band, die sich Bodies Of Water nennt, weiß wohl, was sie tut. Zumal dann, wenn sie ihre Platte mit dem hochtrabenden Titel A Certain Feeling beim Label „Secretly Canadian“ veröffentlicht, dem Hafen der ausgeflippten und experimentierwütigen Folkmusiker. Bodies Of Water sind wahre Enthusiasten, das hört man ihren Liedern an.

Die Hingabe zur Musik führte die Eheleute David und Meredith Metcalf, die Schlagzeugerin Jessie Conklin und den Bassisten Kyle Gladden vor fünf Jahren in Los Angeles zusammen. Sie teilten die gleichen musikalischen Vorlieben, doch Begeisterung war nicht gleich Können: Zwar hatte David Metcalf eine klassische Musikausbildung genossen, doch weder Meredith Metcalf noch Jessie Conklin konnten ihre Instrumente richtig spielen. So sind die Bodies Of Water eine ganz erstaunliche Unternehmung, mit einer Mischung aus Können und Leidenschaft folgt ihre Musik den Einflüssen aus Gospel, Tropicalia und Novizentum. David Metcalf kennt die ausgetretenen Pfade der Musikgeschichte, seine Mitmusiker sind bockig genug, ihnen so selten wie möglich zu folgen.

Das Album eröffnet mit Gold, Tan, Peach And Grey. Ein säuselnder Chor und eine treibende Basslinie nehmen den Hörer in Empfang, das Stück mündet in Sechziger-Rock. Nach drei Minuten mutiert es, Bläser stimmen ein. Hier sprüht eine Euphorie, der man sich schwer entziehen kann. Das bleibt so. Under The Pines überrascht im ersten Moment als Rockoper, wird dann plötzlich durch eine Gitarrenlinie kontrastiert und pendelt sich nach Chorgesang und Klavier in einer Melange aus Zurückhaltung und Kraft ein. Die verschiedenen Einflüsse, die Zeitlosigkeit, die Kombination aus folkloristischen Grundzügen und psychedelischen Dissonanzen errichten einen eigenständigen Klang. Bodies Of Water erfinden die Musik nicht neu, aber sie erweitern sie etwa um das großartige Only You – ein Stück so toll, dass die Ausführung des Autors nicht mithielte.

Water Here und Keep Me On sind exemplarisch: Hier bringen Bodies Of Water das zielstrebig Treibende, die Suche auf den Punkt. Wiederum klingen die beschreibenden Worte kläglich. Man muss es hören, um zu verstehen. Dann öffnet Keep Me On seine Tore und hüllt das Gehör in einem warmen Mantel aus mehrstimmigem Gesang und Bläsern. Even In A Cave fasziniert durch seine anfängliche Kargheit und Strukturlosigkeit. In If I Were A Bell erschreckt man kurz ob der Stadiontauglichkeit, entspannt aber schnell, wenn die Band den Pop in Monotonie ersticken.

Das Geheimnis dieser Band ist schwer zu fassen. Sie spielt länger als nötig? Beliebig klingt sie nie, langweilig schon gar nicht. Einer monotonen Phrase lässt sie Pathos folgen – und umgekehrt. Hinter jedem Taktstrich lauert eine Überraschung, auch nach mehrfachem Hören. Es ist, als führte der rote Faden auf immer neuen Pfaden zum Ziel. Dem Gemüt ist das zuträglich.

„A Certain Feeling“ von Bodies Of Water ist auf CD und LP bei Secretly Canadian/Cargo erschienen.

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Bärtige Gesänge

Ein Männerchor will eins sein mit der Natur: Das wunderbare Debütalbum der Fleet Foxes hätte Brian Wilson um den Verstand gebracht

Man muss gehört haben, wie die Stimmen sich finden. Wie vier, manchmal fünf von ihnen sich zu umarmen scheinen. Wie sie, inniglich umschlungen, immer höher steigen, in perfekter Harmonie die Tonleiter erklimmen, während die Welt unten und ihre Fährnisse zurückbleiben. Man muss in diesem Sommer die Fleet Foxes gehört haben.

Die Perfektion, mit der das zum Teil recht bärtige Quintett seine Harmoniegesänge übereinanderschichtet, ist im Pop der nuller Jahre ohne Vergleich. Nun gut, einige Bezugspunkte gibt es schon – die mittelalterliche Anmutung einer Joanna Newsom oder die barocke Opulenz und Langsamkeit von My Morning Jacket. Die Instrumentierung folgt mit Piano und Banjo, Cello und Mandoline streng den Vorgaben akustischer Folkmusik, die mit der chinesischen Zither Guzheng um eine neue Klangfarbe erweitert, aber niemals durch Experimente gebrochen werden.

In der Musik, die unter diesen eher konventionellen Voraussetzungen entsteht, schwingen wie selbstverständlich altbekannte Stimmen mit: The Byrds und The Band, Crosby, Stills, Nash & Young, Simon & Garfunkel, die ganzen himmlischen Heerscharen des Sechziger- und Siebziger-Pop. Die Beach Boys werden gleichsam als Zisterzienserorden wiedergeboren. Nach demütigen Lehrjahren in ihrer Provinz bauen die Fleet Foxes eine Kathedrale für Americana, Folk, Gospel, Country und Westküsten-Sound. Und dank dieses Chors aus der Vergangenheit, der durchs Kirchenschiff schwebt, entwickelt das Debütalbum der Band aus Seattle ähnliche Qualitäten wie die gregorianischen Gesänge, die manchem Kloster momentan unerwartete Zusatzeinkünfte bescheren.

Vergleichbar sind der heilige Ernst und die Ruhe, die von diesen Songs ausgehen. Sie heißen nicht nur Sun It Rises, White Winter Hymnal oder Blue Ridge Mountains, sie handeln nicht nur von Sonnenaufgängen, weißen Winterlandschaften und Bergketten im gleißenden Morgenlicht, sie beschwören das Einssein mit der Natur in mönchisch geprägten und doch letztlich weltlichen Gesängen herauf – ein spiritueller Grenzgang für Agnostiker. Manchmal driften sie dabei an den Rand des Gefühligen ab. Dann fragt man sich, wo genau die Grenzlinie verläuft zwischen postsakralem Meditationsfolk und jener Wohlfühlmucke, die am Fließband produziert wird.

Die gelungensten Experimente sind eben meist die, die auch leicht hätten schiefgehen können. Ein Blick zurück in die Geschichte der Popmusik zeigt, dass vergleichbare Versuche selbst anerkannt großen Geistern nicht gut bekommen sind. Brian Wilson, dessen metaphysische Surfmusik den Fleet Foxes unüberhörbar Pate gestanden hat, wurde aus seiner eigenen Band geworfen, als er die immer komplexer werdenden Klänge in seinem Kopf nicht mehr hinaus in die Welt befördern konnte. Vielleicht hörte er in sich drin ja die Musik, die heute die Fleet Foxes spielen. Es wäre die perfekte Erklärung dafür, dass der Mann jahrelang keinen Grund mehr sah, sein Bett zu verlassen.

Das Debütalbum der Fleet Foxes ist auf CD und Doppel-LP bei Cooperative/Universal erschienen.

Dieser Text ist entnommen aus DIE ZEIT Nr. 36/2008

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Ein Engel fällt vom Surfbrett

Über die Jahre (41): Dennis Wilson spielte Schlagzeug bei den Beach Boys. Ende der Siebziger löste er sich mit dem Solo-Album „Pacific Ocean Blue“ aus dem Schatten seines genialen Bruders Brian

Dennis Wilson erzählte seinem Bruder Brian oft vom Strand, wenn sie gemeinsam in ihrem Zimmer saßen. Brian hörte gut zu und schrieb seiner Band kleine Lieder über Wellen, Autorennen zum Hamburgerstand und Mädchen im Bikini. Die Brüder spielten bei den Beach Boys, ohne Dennis‘ Erzählungen hätten deren Miniatur-Symphonien wohl von etwas anderem gehandelt. Er könne nicht verstehen, weshalb nicht jeder am Ozean leben wolle, sagte Dennis Wilson einmal. Wenn sein Bruder sang „Catch a wave and you’re sitting on top of the world“, dann wusste nur Dennis Wilson, was gemeint war. Er war der einzige Beach Boy, der surfen konnte. Ohne ihn wären die Strandjungs einfache Jungs geblieben.

Dennis Wilsons Schlagzeugspiel prägte den Klang der Band, als Sänger blieb er im Hintergrund. Während die glockenhellen Stimmen seiner Brüder Brian und Carl sich in komplexe Harmonien verschränkten, brummte Dennis kaum vernehmbar. Er fiel auch sonst aus der Reihe: Verkörperte der Rest der Band das amerikanische Ideal netter Jungs, trat Dennis als unangepasster Surfertyp mit Herz auf. Er war das Sexsymbol der Beach Boys. Ende der sechziger Jahre schrieb er der Band seine ersten Lieder. Gegen das Genie seines Bruders Brian konnte er nicht ankommen, dennoch waren Dennis‘ gefühlvolle Stücke Forever und Little Bird sehr beliebt. Als die Beach Boys im konventionellen Oldie-Karussell endeten, ragten einzig seine Lieder heraus.

Brian Wilson verabschiedete sich langsam aus der Realität, und auch Dennis kämpfte mit dem südkalifornischen Irrsinn: Seine Stimme ruinierte er mit Alkohol, er häufte Spielschulden an und quartierte Charles Mansons Clique bei sich ein. Während mancher Konzerte der Beach Boys rannte er nackt über die Bühne. In dieser Zeit begann er, die Lieder seines Solo-Albums zu schreiben. Ideen trug er zuhauf mit sich herum, Schmerz und Verzweiflung sowieso. Im Jahr 1977 nahm Dennis Wilson sie mit einigen der besten Studiomusiker der Westküste auf.

Pacific Ocean Blue ist eine Platte nackter Emotionen, sie hat nichts gemein mit den harmlosen Strandspielen der Beach Boys. Das Meer ist Wilson nicht mehr bloße Kulisse. Der Ozean trägt den Surfer nicht, er verschlingt ihn. Wilsons Sehnsucht, in den Wellen zu versinken, schwingt in den Stücken mit. Schon mit dem ersten Lied River Song lässt Wilson die Wellen über sich zusammenschlagen. Majestätische Gospelchöre, ein donnernder Klavierlauf, orchestrale Synthesizer: Sündhaft überladen schraubt sich die genialische Studiomucke ineinander. Nur Dennis Wilsons raue Stimme stellt sich dem kalifornischen Breitwandklang der Siebziger entgegen. Am Ende singt er „You have got to run away“ – weder schwingen sich Engelschöre auf, noch packt ihn die rettende Hand des Bruders beim Schopf. Auf Pacific Ocean Blue ist Dennis Wilson mit seiner vom Alkohol und der puren Lebenslust geschundenen Stimme ganz allein. Wie eine verrostete Boje ragt diese Stimme aus den Fluten von Klavieren, Streichern und Bläsern.

Das Morbide durchweht diese Platte, es berührt selbst strahlende Liebeslieder wie You And I und Rainbows. Und Wilson versammelt Bruchstücke: Kaum ein Stück ist zu Ende komponiert, immer wieder fließen neue Ideen ein, immer wieder bricht er eine Melodie ab, um einem weiteren Einfall Platz zu machen. Man scheint dem Engel bei seinem Fall zuzusehen. Dann erhebt sich eine Ballade wie Thoughts Of You mit solch friedvoller Klarheit, dass man glaubt, der alte Surfer packe es noch.

Doch bald kriecht über den Dünen die Dunkelheit heran. Der Hamburgerstand ist längst geschlossen, die Mädchen sind nach Hause gegangen. Wilson weint ihnen nach: „Farewell / You take the high road / I’ll take the low“, singt er. Er ist der bärtige Streuner, der es nicht geschafft hat. Er lungert die Nacht über am Strand herum, getrieben von der Sehnsucht, einfach in der blauen Tiefe zu verschwinden.

Wilson kämpft um jeden großen Moment, legt seine Traurigkeit dar und schreckt vorm Kitsch nicht zurück. Diese Hingabe macht Pacific Ocean Blue zu einem Meisterwerk. Der Erfolg blieb ihm versagt. Sein nächstes Album Bambu sollte noch deutlicher von der Selbstzerstörung zeugen. Die Platte konnte nicht fertig gestellt werden, denn im Dezember 1983 ertrank er beim Tauchen in einer Bucht bei Los Angeles. Das Meer hatte ihn wieder.

„Pacific Ocean Blue“ von Dennis Wilson ist im Jahr 1977 bei Caribou erschienen. Im Jahr 2008 wurde das Album zusammen mit den unfertigen Aufnahmen zu „Bambu“ als Doppel-CD bei Sony BMG wiederveröffentlicht.

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