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Japanischer Meisterdieb

Fast muss man sich vor Jun Miyake fürchten: Einen derart eleganten Raubzug durch die Musikgeschichte der letzten 100 Jahre hört man selten

Was für eine magische, entrückte Welt, die uns Jun Miyake hier eröffnet! Wenn kleinere Geister als er daran gegangen wären, derart disparate Klangquellgebiete wie die zeitgenössische brasilianische Populärmusik, das französische Chanson, bulgarischen Chorgesang, arabische Lautenklänge, afrikanisches Getrommel, sanften Noise, Orchestermusik und Jazz mit der Pipette abzusuchen, um daraus ein eigenes Wässerchen zu mischen, dann wäre das Destillat vermutlich kaum genießbar gewesen.

Miyake aber, der kosmopolitische Japaner, führt diese Zutaten so geschickt zusammen, dass man sich die Musik seines neuen Albums Stolen From Strangers auflegen möchte wie ein exotisches Parfüm. Die zwölf Stücke, manche davon Miniaturen von kaum einer Minute Dauer, hat der Trompeter, Pianist und Sampling-Künstler alle selbst komponiert, die Texte lieferten ihm seine singenden Gäste – Arto Lindsay, Lisa Papineau, Arthur H. und Remy Kolpa Kopoul.

Während die beiden Letzteren eine eigentümlich raunende, theatralisch-französische Form des Geschichtenerzählens betreiben, klingt Lisa Papineau wie eine Bewohnerin jener verheißungsvollen Gegend, die einer früheren Miyake-Platte den Titel gab: Mondo Erotica. Und der gern auch mal splitterscharfe Arto Lindsay hat vor den Aufnahmen für dieses Album besonders viel Kreide gefressen. Sein Gesang ist die reine Sanftmut.

Jun Miyake, späte 40, stammt aus Tokyo und sehnte sich schon lange nach der Fremde. 15 Jahre tourte er mit seiner Band durch die Clubs in Japan und den USA, wo er Jazz studiert hat. 2005 zog er nach Paris.

Vielleicht muss man aus einem Land wie Japan kommen, um eines derart eleganten und verständigen Raubzugs durch die Musikgeschichte der letzten 100 Jahre fähig zu sein. Ihrem Titel nach spielt die Platte auf Diebstahl bei Fremden an; in einem Song taucht die Metapher im Zusammenhang mit gestohlenen Erinnerungen auf.

Doch so viel fremde Musik Miyake auch verwenden mag: Er ist kein echter Dieb, eher ein großartiger Verführer. Seiner Beute nähert er sich mit begehrlichem Auge, doch statt sie wie Trophäen auszustellen, lässt er uns, wie alle guten Liebhaber, an seiner Faszination fürs Fließende teilhaben. Zum Glück. Wäre er nicht mit diesem unwahrscheinlichen Schönheitssinn begabt, wir müssten uns fast vor Jun Miyake fürchten.

„Stolen From Strangers“ von Jun Miyake ist bei Enja Records/Soulfood Music erschienen.

Dieser Text ist dem Musikspezial der ZEIT Nr. 42 entnommen.

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Neues Feuer

Weniger Pathos, mehr Rock’n’Roll: Auf ihrem siebten Album gehen Oasis zurück zu ihren Wurzeln und zugleich von ihnen fort. Ein Platte wie ein Reinigungsprozess

Da war doch was, ein paar versteckte Referenzen, eine Ahnung nur, doch sie wirkte Wunder. Lange vor Erscheinen ihres siebten Albums Dig Out Your Soul haben Oasis eine Single lanciert – in einem Remix der Chemical Brothers –, und sofort war das Feuer wieder entzündet, diese latente Sehnsucht nach allem, was die Gottväter des Britpop groß gemacht hat. Den Remix vorm Original zu bringen war eine Art Relevanzdetektor.

Man muss zwar genau hinhören, um Noels Akkorde und Liams Stimme in Falling Down zu erahnen, dann aber funktioniert’s. Wie immer. Und doch anders. Nach dreijähriger Studiopause mögen Oasis zwar wie eh und je ausufernde Klangteppiche unter den Grundton schnöseliger Arroganz weben – trotzdem klingt vieles daran neu. Vielleicht, weil die Gallagher-Brüder eine Auszeit vom Boulevard genommen haben, um einige Schritte zurückzugehen, ihren Wurzeln entgegen und zugleich von ihnen fort: etwas mehr Rock’n’Roll, etwas weniger Pathos, Pop als Spielart, nicht als Wesen.

Ohne Kollegenschelte und John-Lennon-Zitate geht es natürlich auch dieses Mal nicht. Musikalisch jedoch ist Dig Out Your Soul eine Reduktion auf eigene Stärken jenseits der notorischen Gerüchteküche: das Raveartige am Bombastischen, das melodiöse Schlagzeug zu raumfüllendem Klang, den bewährten Mix aus psychedelischer Fläche und prononcierter Gitarre.

Sirenenartig liegt sie schon über dem einleitenden Bag It Up, um die zehn folgenden Stücke bis auf ein, zwei missglückte Schnulzen nicht wieder loszulassen. In die Schranken gewiesen wird sie nur von Liams Genöle über die Macht der Liebe und andere Durchhalteparolen. „Looking back at all the things we’ve done / you gotta keep on keeping on„, singt er, pilzköpfig wie immer, in I’m Outta Time, keine Zeitreise zurück zu den Tagen von Definitely Maybe oder Wonderwall, aber ein Bekenntnis zum Versuch, sich daran zu erinnern. In aller Kürze, versteht sich, kein Lied hat mehr Text als eine Handvoll Zeilen.

Oasis haben zurückgeblickt und sich nach drei lauen Alben endlich zurück nach vorn katapultiert, von den Neunzigern ins neue Jahrtausend, wo sie im Vergleich mit den Epigonen des Britpop von Franz Ferdinand bis Bloc Party noch immer gut dastehen. Wo diese den Mut zur Lücke zuweilen übertreiben, instrumentieren Oasis ihre Dreiviertelstunde kompromisslos durch. Eine Platte wie ein Reinigungsprozess.

„Dig Out Your Soul“ von Oasis ist als CD und Doppel-LP bei Big Brother/Indigo erschienen.

Dieser Text ist dem Musikspezial der ZEIT Nr. 42 entnommen.

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Untergang mit wehenden Fahnen

Die Kings Of Leon galten als die Erben Led Zeppelins, sie spielten rotzigen Rock’n’Roll im frischen Uraltklang. Die Energie scheint verpufft zu sein: Ihr neues Album klingt bartlos und verdächtig nach U2

Bono ist ein gefährlicher Mann: Er vergiftet die Gehirne von Musikern. Das Spätwerk seiner Band U2 bietet eine Schablone, derer sich viele Bands bedienen, wenn es weiter gehen soll. Weiter im Sinne von Stadionrock, weiter im Sinne großer Gesten, weiter im Sinne von Zugänglichkeit. Am Ende steht meist ein Weiter im Sinne oberflächlicher Tiefgründigkeiten und enervierender Allgegenwärtigkeit. Coldplay klingen heute, als wären sie gern U2 und schreiben Lieder, die wirklich jedem gefallen können. Nun probieren’s die Kings Of Leon.

Noch auf ihren ersten beiden Alben Youth And Young Manhood (2003) und Aha Shake Heartbreak (2005) inszenierte sich die Band als die südstaatlichen Strokes, spielten rotzigen Rock’n’Roll im frischen Uraltklang. Die drei Brüder aus Tennessee, dazu ein Cousin, gaben die langbärtigen Rockgötter, die Led Zeppelin des neuen Jahrtausends. Schon auf Because Of The Times deutete sich im vergangenen Jahr eine Neuorientierung an, die mit dem neuen Album Only By The Night an ein Ziel gelangt zu sein scheint.

Die Bärte sind nun ab, frisch geföhnt posieren die Musiker auf den Werbefotos. Schon in der Vergangenheit waren die Texte des Sängers Caleb Followill wenig preisverdächtig, nun sind sie nur noch mit Betäubungsmitteln genießbar. In der Ballade Reverly etwa singt er: „Was für eine Nacht für einen Tanz / Weißt du, ich bin ja eine Tanzmaschine / Packe Feuer in meine Knochen / Und den süßen Geschmack von Kerosin.“ Und in dem Stück 17 geht es natürlich um ein Mädchen, das „erst siebzehn“ ist. Dermaßen zur Pose erstarrte Rockerklischees kann man im Jahr 2008 allenfalls Lemmy von Motörhead abnehmen.

Die Musik ist nicht origineller als diese Texte. Die Kompositionen sind formelhaft, die Strukturen absehbar, es herrscht Einfallslosigkeit. Mochte man Because Of The Times noch als Album des Übergangs akzeptieren – bei aller Kritik musste man doch seine bebende Energie und kraftstrotzende Potenz anerkennen. All das ist nun verpufft. Es ist ein Trauerspiel, diese technisch so versierte Band mit wehenden Fahnen untergehen zu sehen.

Womit wir wieder bei Bono und U2 wären. Denn selbstverständlich wird sich das neue Album der Kings Of Leon verkaufen. Werbefilmer dürsten nach solchen Liedern. Sie werden auf fußballfeldgroßen Bühnen spielen, mit Hubschraubern in die Stadien einfliegen. Und wie es dann mit den Kings Of Leon weitergeht? Nun, wenn sie Bono weiter nacheifern, stehen auf dem Plan: Ironie, Umweltthemen, Fototermine mit Politikern, Pathos und Sonnenbrillen. Ab jetzt ist alles möglich.

„Only By The Night“ von den Kings Of Leon ist als CD und Doppel-LP bei Sony BMG erschienen.

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Die Welt neu ertastet

Der französische Saxofonist Jean-Luc Guionnet und der japanische Mischpult-Spieler Toshimaru Nakamura begeben sich auf gemeinsame Entdeckungsreise und erfinden klangliche Extremsituationen

Am Anfang ist Stille, ein Moment der Konzentration und des Innehaltens. Danach ertönt behutsames Knistern, ein Rauschen, schließlich der lang gezogene Ton des Altsaxofons. Schrill klingt er, fast schmerzhaft. Map heißt das Album, das der französische Saxofonist Jean-Luc Guionnet mit dem japanischen Mischpult-Spieler Toshimaru Nakamura aufgenommen hat, vier Klangkunstwerke haben sie aus dem Moment der Stille erwachsen lassen.

Jean-Luc Guionnet ist Philosoph, Maler und Musiker. Er spielt Altsaxofon und Kirchenorgel. Seine Kompositionen aus elektronischen und organischen Klängen bewegen sich an den Rändern zur Musique concrète. Klangerforschung betreibt Guionnet auf vielen Ebenen: Er spielt Free Jazz und Freie Improvisation, konzipiert Klanginstallationen und verfasst Abhandlungen über Klangästhetik.

Sein musikalischer Partner auf Map, Toshimaru Nakamura, spielte früher E-Gitarre und entwickelte dann das No Input Mixing Board. Er verstöpselt Eingang und Ausgang eines Mischpults und lässt die Eigengeräusche der Regler und die entstehenden Feedbackwellen erklingen. Das Mischpult gibt ihm die Möglichkeit, mit elektronischen Klängen sehr kontrolliert zu experimentieren. Langsamkeit zeichnet sein Spiel aus, ein sehr behutsamer Umgang mit Geräusch und Stille. Gemeinsam mit Sachiko M und Otomo Yoshihide erarbeitete er Ende der Neunziger das mikroskopische Klangkonzept der Onkyo-Musik, eine japanische Spielart der Freien Improvisation. Das Wort Onkyo beschreibt den Nachhall eines Klangs.

Map wurde im Rahmen zweier Begegnungen der beiden Musiker aufgenommen, im März 2007 in Montreuil und im Juli 2007 in der Collègiale Sainte-Croix in Parthenay. Guionnet und Nakamura erschaffen auf dem Album klangliche Extremsituationen. Die Stücke werden getragen von musikalischer Spannung und Intensität, in die sie mikroskopische Variationen einfließen lassen. Sie ertasten eine neue Welt, pflanzen Klänge in den Moment der Stille. Wie auf einer weißen Landkarte bewegen sich die Stücke langsam vorwärts. Sie hinterlassen Spuren, schmale Wege, die sich nach und nach vernetzen.

„Map“ von Jean-Luc Guionnet und Toshimaru Nakamura ist bei Potlatch erschienen.

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Episch heult der Adler

Ein Klöppel in der linken Kralle, ein Bündel Saiten in der rechten und im Schnabel ein Band mit den Worten E pluribus unum, aus vielen Eines: Mogwai sind der Greif unter den Instrumentalkombos

Mogwai The Hawk Is Howling

Der Weißkopfseeadler ist der größte Greifvogel Nordamerikas. Seine Flügel umspannen im Flug zweieinhalb Meter Luft, im Sitzen ist er so groß wie ein Erstklässler. Der Mensch hat ihn durch das Insektizid DDT in den Fünfzigern fast ausgerottet, heute lebt der Vogel vor allem in Alaska, Florida und Kanada. Er ziert das Wappen der Vereinigten Staaten – einen Olivenzweig in der linken Kralle, ein Bündel Pfeile in der rechten und im Schnabel ein Band mit den Worten E pluribus unum, aus vielen Eines. Bald Eagle heißt er übrigens auf englisch, kahler Adler.

Mogwai kommen aus Glasgow, sie spielen Rock. Ein Weißkopfseeadler ist auf die Hülle ihres neuen Albums The Hawk Is Howling gemalt. Ein rätselhafter Titel, schließlich ist ein Hawk ja ein Falke und kein Adler. Und heulen Falken? Heulen Adler? Das Rätsel muss Rätsel bleiben, denn Mogwai spielen ihren Rock ohne Worte. Und irgendwie passt der Adler doch, das majestätische Gleiten eines Riesengreifs kann man sich zu ihrer hymnischen Musik wirklich gut vorstellen.

Federvieh steckt auch hinter dem Namen der Band, eine unansehnliche Kreatur in dem Film Gremlins trug ihn im Jahr 1984. Mogwai ist außerdem das kantonesische Wort für Geist. Das habe alles gar keine Bedeutung, sagte der Gitarrist Stuart Braithwaite einmal, der Band sei einfach kein besserer Name eingefallen. Die Musiker hätten sich vorgenommen, irgendwann einen besseren Namen zu suchen, seien aber bislang nicht dazu gekommen.

Das ergäbe nun wohl auch keinen Sinn mehr, schließlich haben Mogwai bereits sechs, sieben Alben aufgenommen und es zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Außer Prince kann sich wohl niemand spontane Umbenennungen leisten.

Auch das ist rätselhaft: Wie kommt man eigentlich auf einen Titel, wenn man nicht singt? Das erste Stück auf The Hawk Is Howling heißt I’m Jim Morrison, I’m Dead. Warum I am? Und klar, Morrison ist tot. Hat die Band hier die Autobiografie des Sängers vertont? 27 Jahre in 6 Minuten 46? Zu Beginn klimpern ein paar verträumte Klavierklänge (Morrisons Kindheit), dann scheppert das Schlagzeug einen verschlafenen Takt (der im Alter von 4 Jahren beobachtete Autounfall), schließlich mischen ein paar handfeste Gitarrenakkorde mit (Studium der Filmwissenschaft). Im Mittelteil wird es hymnisch und stetig lauter (Liebe, Drogenerfahrungen und Vietnamkrieg), das Ende des Stücks zerquietscht kurz und heftig (Ruhm und Tod). Man kann sich in der Deutung der Zusammenhänge von Titel und Klängen einiges einfallen lassen. Mogwai werden den Teufel tun und sich dazu äußern.

Zwei andere Stücke heißen The Sun Smells Too Loud und Thank You Space Expert. Wie bitte? Die Mogwai in der Stimmung ähnliche amerikanische Band Tortoise taufte eines ihrer Instrumentalstücke vor Jahren A Simple Way To Go Faster Than Light That Does Not Work. Bedeuten die Titel also eigentlich – gar nichts?

Das letzte Album von Mogwai war eine Filmmusik, da war die Entschlüsselung einfacher. In Zidane: Un Portrait Du 21e Siècle richtet die Kamera ihren Blick für 90 Minuten auf Zinedine Zidanes Weg über das Fußballfeld in einem völlig unbedeutenden Spiel. Mogwai unterlegten die Bilder mit epischen Klängen – ohne die Musik wäre der Film langweilig, mit ihnen ist er hübsch.

Episch geht es auf The Hawk Is Howling zwar doch meist, aber nicht immer zu. Die Single Batcat etwa ist ein massiver Brecher von schlecht gelauntem Gitarrenhin- und hergekoppel. Und angesichts der poppigen Melodie von The Sun Smells Too Loud gackert eher ein Perlhuhn, als dass ein Adler gleitet. [Das von einem Fan geschnittene Musikvideo ist einen Blick wert, es passt wirklich gut.] Aus vielen Eines ist gar keine schlechte Beschreibung der Musik von Mogwai auf dieser Platte.

Vor einem Jahr wurde übrigens der Weißkopfseeadler von der Liste der gefährdeten Tiere gestrichen.

„The Hawk Is Howling“ von Mogwai ist als CD und Doppel-LP bei Wall Of Sound/Rough Trade erschienen.

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Lebensretter zu verschenken

Lambchop aus Nashville suchen ihr Glück in Ohio. Die Lieder ihres neuen Albums changieren zwischen Soul, Folk und Country

Wie klingt es, wenn ein Dutzend weißer Countrymusiker aus Nashville den Soul spielt? Es klingt opulent, warmherzig und ein bisschen nostalgisch. So klangen, so klingen Lambchop – eine der aufregendsten musikalischen Entdeckungen der neunziger Jahre.

Kurt Wagner ist bis heute der Kopf der Band. Er ist Musiker, Gitarrist, Maler, Poet – und Liebhaber des Soul. Daher klingt Country à la Lambchop eben auch nach erdigem Soul – Steel-Guitar, Saxofon, Trompete, Vibrafon, Piano und Streicher schwingen ganz und gar einträchtig. Alben wie How I Quit Smoking, Nixon, What Another Man Spills und vor allem Is A Woman waren feine Meisterwerke, die akustische Gitarren und Orgelklänge in etwas Neuem vereinten. Mit tiefer Stimme singt Kurt Wagner darauf über Tod und Einsamkeit, über Selbstmord und Scheidungen. „Kein falsches Glitzerzeug, sondern Ansichten vom Leben, wie es ist“, war einmal im Tagesspiegel zu lesen.

Und heute? Das neue Album ist wieder bei der Berliner Plattenfirma City Slang erschienen, es trägt den sehnsüchtigen Titel OH (ohio). Schon die von dem Maler Michael Peed gestaltete Hülle mag man nicht aufhören zu betrachten, dieses Gemälde eines nicht mehr ganz jungen, nackten Paares. Sonderbar steif liegen sie da, ein bisschen umständlich. Wie Figuren aus einer mittelalterlichen Buchmalerei. Sie umarmen sich, er streicht ihr über die Brust. Sie lieben sich, im Hintergrund gibt ein Fenster den Blick auf die Welt frei. Wie anders ist die Szenerie draußen! Offenbar gab es einen Unfall, ein Mann liegt am Boden und wird verarztet.

Wer im Bett bleibt – und womöglich Lambchop hört – der braucht keinen Arzt. Der wird mit Musik kuriert. Mit Ruhe und Gelassenheit. Mit ausgesuchter Langsamkeit und Zartheit. So klingt Musik, von der man glaubt, sie könne Leben retten. Musik, die behaglich ist, aber auch flüstert: „Du wirst nicht immer leben.“ Auf OH (ohio) sucht die Band nach dem düsteren Vorgänger Damaged ihr Glück wieder in balsamischen, von Piano und Gitarre geführten Zeitlupenliedern zwischen Soul, Folk und Country.

Wer dieses Album besitzen möchte (man kann es wirklich nur empfehlen), der muss nur zum nächsten Kiosk gehen. Denn OH (ohio) wird gegen einen geringen Aufpreis sechzigtausendfach der Oktober-Ausgabe des Rolling Stone beiliegen. „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland ein komplettes neues Album einer namhaften Band bei einer renommierten Musikzeitschrift veröffentlicht wird“, bewirbt die Plattenfirma den Coup. Sie ginge damit eine „Ehe in Sachen Qualität und Synergie“ ein, die es so noch nicht gegeben habe. Aber mutet das Verschleudern einer CD für weniger als zwei Euro nicht eher an wie ein weiterer verzweifelter Schritt des traditionellen Musikgeschäfts?

Wer sich am Kiosk lieber mit Getränken und Gedrucktem versorgt und seine Musik beim Plattenhändler kauft, an den hat die Plattenfirma auch gedacht: Im Laden ist OH (ohio) auf Vinyl und mit Bonus-CD erhältlich. Nicht allerdings bei Saturn und Media Markt, denn die haben aus Protest bereits alle Lambchop-CDs remittiert. Das wiederum dürfte City Slang erheblich treffen, schließlich wird bei den beiden Musikdiscountern gut ein Drittel aller CDs in Deutschland verkauft.

„OH (ohio)“ von Lambchop ist auf CD und LP bei City Slang/Universal erschienen.

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Zu Fuß durch halb Europa

Der britische Rapper Mike Skinner alias The Streets war kürzlich etwas außer Form. Mit “Everything Is Borrowed” ist er zur Besinnung gekommen – und plappert gut gelaunt vor sich hin

The Streets Everything Is Borrowed

Mike Skinner ist dann mal weg. Auf der Hülle seiner neuen Platte Everything Is Borrowed ist er schon nicht mehr zu sehen. Das Büchlein zur CD kann man noch so oft durchblättern: Der Mann, der sich The Streets nennt, hat sich dünne gemacht. Stattdessen sind Bilder von Steinwüsten und Schneeschmelze zu sehen.

Seine Flucht ist verständlich. Auf dem Vorgängeralbum The Hardest Way To Make An Easy Living hatte sich Skinner an einem Psychogramm über die Last der Prominenz versucht. Die Platte klang angestrengt und zynisch, Skinners Ideen waren allenfalls passabel. Er schien sich nur um sich selbst zu drehen. Statt über Fish & Chips und verunglückte Liebschaften rappte er nun über Religion und Amerika. Ausgerechnet er, der mit seiner ersten Platte Original Pirate Material im Jahr 2002 das Geplapper der britischen Vorstadtjugend zur Kunstform erhoben hatte. The Streets steckten in einer Einbahnstraße.

Groß ist daher das Glücksgefühl, dass sich mit dem ersten Tönen von Everything Is Borrowed einstellt. Alles scheint wieder an seinem richtigen Platz zu sein. Auch das Geplapper funktioniert wieder einwandfrei. Mike Skinner ist in Hochform, The Streets kriegen noch mal die Kurve. Knappe vier Minuten dauert es, da knallt der erste Hit aus den Lautsprechern: „I wanna go to heaven for the weather and hell for the company“, jauchzt der Chor.

Everything Is Borrowed ist Mike Skinners reifste Platte. Dass der 29-jährige Rapper aus Birmingham einst als Hoffnungsträger der britischen Garage- und Grime-Szene galt, lässt sich kaum noch erahnen. Von den monströsen Bassläufen und hektischen Breakbeats des genialen Debütalbums ist nichts mehr zu hören. Nur vereinzelt bäumt sich der Rhythmus auf, schlägt die Rotzigkeit der frühen Tage durch. Skinner bringt echte Instrumente zum Klingen, ein Klavier, Bläser, eine Mandoline und eine Hammondorgel, bei vielen Stücken ist er selbst an der Gitarre zu hören. Auch das Orchester kommt diesmal nicht aus dem Laptop, sondern aus Prag. Der Aufwand macht sich bezahlt: Zum ersten Mal klingen The Streets nicht wie ein Ein-Mann-Projekt, sondern wie eine Band. Mike Skinner und seine Musiker spielen lässigen Swing und Jazz-Funk, als hätten sie nie etwas anderes getan. Auf The Strongest Person I Know singt er sogar gewohnt ungelenk zur Harfe. Das kammermusikalische Liebeslied gehört zu den Höhepunkten der Platte.

Als seien Unsicherheit und Paranoia über Nacht von ihm abgefallen, rappt Skinner Zeilen wie „I came to this world with nothing / And I leave with nothing but love“. Das klingt fast ein bisschen altersmilde, aber er hat einfach nur sehr gute Laune. Selbst wenn er wie auf Way Of The Dodo über die Klimaerwärmung rappt, kann er sich die Albernheiten nicht verkneifen. Aufgeräumt und entspannt klingt die Platte. Auffällig ist vor allem, wie sehr sich Skinner zurückhält. Oft überlässt er dem Chor oder seinen Gastsängern den Vortritt. Als hätte es nicht mehr nötig sich in den Vordergrund zu drängeln, konzentriert er sich auf das Erzählen der Geschichten. Und die handeln diesmal nicht von Abstürzen, Einsamkeit und falschen Freunden. Auf Everything Is Borrowed kommt Mike Skinner zur Besinnung. Es ist ein Album der inneren Einkehr geworden.

An keiner Stelle wird dies so deutlich wie im letzten Stück der Platte. Den großen Abspann beherrscht er perfekt: The Escapist ist ein epischer Kreuzgang, ein wahrer Befreiungsschlag. Der Gospelchor schmettert, das Orchester schwelgt in luftigen Höhen. Dazu rappt Skinner einen seiner besten Texte: „I’m not trapped in a box, I’m glancing at rocks / I am dancing off docks / Since this dance began / Thats where I am“. Im Video läuft Mike Skinner zu Fuß durch halb Europa. Auf dem Weg zu sich selbst, aber dabei schon ganz weit weg. Seine nächste Platte solle die letzte sein, sagt er.

„Everything Is Borrowed“ von The Streets ist bei Warner Music erschienen.

Mehr zum Album hören Sie am Freitag, den 26. September, von 14 bis 16 Uhr in der Sendung „Neuland“ auf ByteFM. Hier öffnen Sie den Livestream »

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Däumlinge heben den Zeigefinger

Die Welt geht zugrunde, und die drei Bowerbirds aus North Carolina zwitschern dagegen an. Walther von der Vogelweide hätte seine Freude dran gehabt

Es raschelt im Gras, da erhebt sich etwas über die Halme. Still! Hören wir ein bisschen zu, horchen wir auf den Balzruf dieses unbekannten Vogels.

Ein Abgleich mit dem Handbuch der Hobby-Ornithologen verrät: Es ist ein seltener Laubenvogel, verwandt mit dem Paradiesvogel. Er ist anderen Sängern nicht nur um drei Armschwingen voraus, nein, auch sein Gehirn ist größer als das der Artgenossen. Ach, auf Englisch heißt er Bowerbird.

Da! Jetzt! Unter seinen prächtigen Fittichen kriecht ein Däumlingspaar hervor, noch ein dritter kommt hinzu. Sie singen ein Lied mit Akkordeon, Gitarre und großer Trommel. Der Däumlingsmann zwitschert von zwitschernden Grasmücken und Spatzen, wie sie ihre zarten Stimmen erheben gegen die donnernden Eisenpferde auf der Autobahn.

Ja, die drei Däumlinge, nennen wir sie ruhig Bowerbirds, halten mit ihrer Klage nicht hinter der Schallschutzmauer. Fahrlässig gingen die Menschen mit der wunderreichen Natur um. Der Anführer des Trios, Phil Moore, zupft die Saiten und trägt pathetische Worte im luftigen Klanggewand vor: „There is hate in the grip of our human hands.“

Aber man kennt das ja von Kobolden, Klabautermännern und Däumlingen: Stets wollen sie das Gute – dem Geschöpf die leidige Existenz erleichtern. Da schwingt auch mal der Zeigefinger. Besonders in Amerika, der Heimat unserer Drei, haben sich viele dieser regressiven Enthusiasten versammelt. Man nennt sie das Folk-Volk.

Hierzulande, da Naturkunde bereits im Kindergarten unterrichtet wird, vermögen die Einsichten der Bowerbirds kaum zu überraschen. Wer ihrer Moral überdrüssig ist, schalte sein Sprachzentrum aus und erfreue sich an der Musik:

Beth Tacular schlägt die Standpauke, es rasselt der Schellenkranz, Geigen zittern im Wind. Phil Moore erhebt seine feine Stimme über den Lautenton. Die Instrumentierung ist schlicht und analog wie ein Holzpantoffel, doch wallt das Gefüge in frischen Brisen. Der Gesang – mal monodisch, mal im Chor – nimmt sich alle Freiheiten in Melodie und Rhythmus.

Hymns For A Dark Horse heißt die erste Liedersammlung der Bowerbirds. Hymnen auf den Wind in den Weiden, der dem Hörer eine Handvoll singender Flöhe ins Ohr weht, die so schnell nicht wieder herauskrabbeln. Beinah klingt das Trio wie eine fahrende Renaissance-Kapelle. Walther von der Vogelweide wäre zweifellos mit ihnen gereist, nicht nur ihres Namens wegen.

Wie alt werden Däumlinge eigentlich? Möglicherweise haben diese Drei gar schon 700 Jahre auf dem Buckel! Keine Frage, sie wünschen sich zurück in eine Zeit, in der die Menschen noch wussten, wie sehr sie auf die Natur angewiesen sind. Der Zivilisationsprozess hat dieses Wissen zu einer Ahnung verkümmern lassen, so geht die Welt zugrunde. Das ist ihre Botschaft. Vielleicht nimmt Al Gore sie unter seine Fittiche.

„Hymns For A Dark Horse“ von Bowerbirds ist auf CD und LP bei Dead Oceans/Cargo erschienen.

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Vom Orkus zum Krokus

Über die Jahre (43): Ein Tipp zum Herbstanfang: Im Jahr 1985 nahmen die Sisters Of Mercy „First And Last And Always“ auf – eine Platte, die das lange Warten auf den Frühling noch heute erträglich macht

Der Sommer ist vorbei. Immer häufiger schielen wir in Richtung Heizung, schütten Rum in den Kakao – und auch die Musik, die wir noch neulich mochten, gefällt uns heute nicht mehr. Der melodieverliebte Pop des Sommers klingt nun aufgesetzt, die Leichtfüßigkeit Brian Wilsons steht diesen Tagen ebenso schlecht zu Gesicht wie die Aggressivität Metallicas. Heute beginnt der Herbst, es ist Zeit für andere Platten, für Schwere und Regression. Es ist mal wieder Zeit für First And Last And Always, das erste Album der Sisters Of Mercy.

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass die Platte erschien, aber der Schwermut des Sängers Andrew Eldritch klingt kein bisschen abgenutzt. Das Album ist ein Dokument des Rückzugs. Das passt durchaus in die Zeit, in der es erschien, in den Post-Punk, der dem Expressiven des Punk ein Gegengewicht sein wollte. Und doch waren andere frühe Düsterrocker wie Bauhaus und The Cure immer mehr Rocker oder Popper, als dass sie es mit dem Fürsten der Finsternis Andrew Eldritch aufnehmen konnten.

Anfang der Achtziger hatten die Sisters Of Mercy einige Singles veröffentlicht. Stücke wie Body Electric, Alice oder Temple Of Love waren im Tempo und den Harmonien noch nah am Punk, auch die rumpelige Coverversion von 1969 der Stooges passte gut ins Bild. Nur diese tiefe – oft kieksende – Stimme des Sängers und der viele Hall klangen ganz und gar nicht nach Punk. Die Sisters Of Mercy wirkten selbst noch unschlüssig, wohin die musikalische Reise gehen sollte. John Peel fand das unerhört genug, sie zu zwei Sessions einzuladen.

Mit First And Last And Always sagten sie dem Punk ade und fanden einen eigenen künstlerischen Ausdruck. Sie schalteten einen Gang zurück und drehten den Hall weiter auf. Andrew Eldritch sang nun noch tiefer. Die Gitarre spielte dezidierte Töne, im Vergleich zu den kraftvollen Akkorden heutiger Gotikrocker mutet ihr Gedengel naiv an. Schlagzeuger sind Andrew Eldritch generell zu unbeherrscht und eigensinnig, deshalb hämmert im Hintergrund Doktor Avalanche, ein Computer. Der galoppierende Rhythmus des Titelstücks und der Sirtaki in Marian klingen erstaunlich – so würde heute niemand mehr Sehnsucht oder Trauer verschlüsseln. Die seit fünfzehn Jahren im Genre obligatorischen Frauenstimmen muss man hier nicht ertragen, die meisten Chöre bestehen aus der mehrfach aufgenommenen Stimme des Sängers. Das Album sei recht dünn produziert, heißt es heute oft. Vielleicht ist es gerade deshalb so gut?

Die Texte sind düster, doch weder nihilistisch noch martialisch. Eldritch singt von den unterschiedlichen Stadien des Scheiterns einer Beziehung, von beginnender Wortlosigkeit, von Verletzungen, der misslingenden Rettung aus den Untiefen der Melancholie – und von den Amphetaminen, die das Leid auch kaum zügeln können. Das Album gipfelt in Some Kind Of Stranger, da geht die Beziehung ins Metaphysische über, die schließlich doch zärtliche Berührung geht aus von einem Engel.

First And Last And Always war stilbildend. Keinem der Nachgänger gelang es, das Album zu übertreffen. Nicht einmal den Sisters Of Mercy selbst. Im Jahr 1987 nahm Eldritch mit Hilfe der Sängerin Patricia Morrison und Meat Loafs Produzenten Jim Steinman das furchtbar pathetische Floodland auf, vier Jahre danach – mit wiederum anderen Musikern – das krachige Rockalbum Vision Thing. Eldritch trug nun immer dicker auf, zuletzt auf einer neuen Version von Temple Of Love und dem letzten auf Platte erschienenen Stück Under The Gun, das ist fünfzehn Jahre her. Seitdem hat die Band nichts mehr veröffentlicht: Zuerst verweigerte Eldritch sich seiner Plattenfirma East West Records. Als der Vertrag nach jahrelangen Streitigkeiten gelöst wurde, fand er keine neue. Es heißt, er verlange drei Millionen Dollar Vorschuss und volle künstlerische Freiheit.

Auch ohne Platte sind die Sisters Of Mercy in ständig wechselnder Besetzung regelmäßig auf Tour. Schaut man sich die Live-Mitschnitte neuer Stücke an, so mag es einen traurig stimmen, dass es keine neuen Alben gibt.

So unanhörlich aktuelle Gotikrockplatten oft sind: Mit First And Last And Always kann der Herbst gerne kommen, die meisten norddeutschen Winter übersteht man damit auch. Künden dann die Schneeglöckchen und Krokusse vom Frühling, wandert die Platte wieder in die Kiste.

„First And Last And Always“ von The Sisters Of Mercy ist im Jahr 1985 auf CD und LP bei WEA erschienen und im Jahr 2006 auf CD bei Warner Music mit einigen Bonusliedern wiederveröffentlicht worden.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(42) Wareika Hill Sounds: „s/t“ (2007)
(41) Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (1977)
(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)
(39) GAS: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)
(38) Liquid Liquid: „Slip In And Out Of Phenomenon“ (2008)

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Im Schein zweier Monde

Während im Club die letzten lauten Töne poltern, begibt sich Morgan Geist mit „Double Night Time“ auf einen Streifzug durch die Nacht

Jeder kennt das Gefühl: Die Party ist vorbei, fröstelnd steht man auf der Straße. Die Musik ist aus, die Kleidung klebt auf der schweißnassen Haut. Wo eben noch viele Menschen waren, ist man nun allein. Der Heimweg führt durch die nächtliche Stadt. Der Wind weht den Geruch von Feuer über den Asphalt. Die Stadt ist ein Labyrinth, bedrohlich und anziehend zugleich. Man möchte darin verschwinden, in den dunklen Straßenschluchten unsichtbar werden.

Diesem Gefühl hat der New Yorker Morgan Geist sein neues Album gewidmet. Auch auf Double Night Time ist es Nacht. Bereits mit seinem Projekt Metro Area hat er Tanzmusik für die schattigen Momente im Club produziert. Aber wo Metro Area noch die Discokugel aufblitzen ließen, gehen auf Double Night Time die Lichter ganz aus. Während in den Clubs die letzten lauten Töne poltern, begibt sich Morgan Geist schon auf seinen einsamen Streifzug.

Im Moment der Ekstase liegen Glücksgefühl und Melancholie nah beieinander. Morgan Geist beschwört diese Uneindeutigkeit immer wieder herauf. Die minimalen Kompositionen strahlen Sehnsucht aus: Hier wird ein Klavierlauf angedeutet, dort erschallt eine verwaiste Jazztrompete. Die Rhythmen und der spröde Bass schieben sich unaufdringlich nach vorn. Double Night Time ist eine Platte von unterkühlter Eleganz, glasklar und koordiniert klingt die Musik.

Dabei ist es kein Techno- oder Disco-Album. Die neun Stücke verweisen auf Italo-Disco und Dance-Pop, streifen New Wave und zickigen Elektrofunk. Viele Stücke sind tanzbar, auch wenn man nach wenigen Minuten beunruhigt die Tanzfläche verlässt. Immer wieder schleicht sich ein finsterer Unterton ein. Selbst auf einem charmanten Disco-Stück wie Most Of All rasseln die Streicher wie in den Filmen Alfred Hitchcocks, während Skyblue Pink mit seinen gespenstischen Klängen Erinnerungen an die Musik aus Blade Runner weckt.

So hätte Double Night Time eine bedrückende Angelegenheit werden können, wäre Morgan Geist nicht ein unverbesserlicher Romantiker. Vielleicht wartet in der Dunkelheit ja eine Bekanntschaft, die alles verändert. Vielleicht verbirgt sich hinter einem der erleuchteten Fenster die wahre Liebe. „What if I flew to you through the sky / What would you do?“, singt Jeremy Greenspan im Lied The Shore. Das ist Kitsch – aber er macht die Melancholie, die Double Night Time durchweht, erträglicher. Und so muss man sich nach dieser Sternenfahrt um das Einschlafen keine Sorgen machen. Nach einem geschmackvolleren Schlummerlied als Lullaby wird man jedenfalls lange suchen müssen.

Zwischen Melancholie und Romantik ist das Album auch eine Hommage an die großen Zentren der Tanzmusik. Der melancholische Techno aus Detroit, der urbane Glamour New Yorks und Chicagos schwüle Euphorie – hier kommen sie alle im Schein zweier Monde zusammen. Der nokturnen Stadtrundfahrt leiht Jeremy Greenspan, der Sänger der kanadischen Band Junior Boys, seine Stimme. Er verbindet die Stücke, er gibt dem Album das rettende Fünkchen Wärme, bevor es endgültig von der Einsamkeit verschluckt wird. Auf Liedern wie Ruthless City und dem famosen Detroit klingt Greenspan wie einer, der sich auf allen Tanzböden der Welt herumgetrieben hat und sich nun müde auf die dunkle Rückbank eines Taxis flüchtet.

Im Klang seiner Stimme scheint die Nacht niemals zu enden. Doch dann tauchen am Horizont plötzlich die Lichter der Stadt auf. „Detroit…“, seufzt er erleichtert. Langsam wird es hell. Die Party geht weiter.

„Double Night Time“ von Morgan Geist ist bei Environ/Alive erschienen.

Mehr zum Album hören Sie am Donnerstag, den 25. September, von 22 bis 23 Uhr in der Sendung „60 Minutes“ auf ByteFM. Hier öffnen Sie den Livestream »

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