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Zuckerli und große Kunst

Der Brite Antony Hegarty lieh dem Tanzprojekt Hercules & Love Affair seine androgyne Stimme. Sein neues Mini-Album macht Lust auf die Platte, die im Januar erscheinen soll

Antony Hegartys Stimme steht für sich. Schutzlos wirkt sie, abgetrennt von der Welt. Voller Ausdruck und Gefühl singt er im Grunde nur für sich selbst. Antony Hegarty klingt, als wäre er der letzte Mensch auf Erden.

Dieses Gefühl vermittelte er auf seinem Album I Am A Bird Now, mit dem ihm 2005 weltweit der Durchbruch gelang. Damals kämpfte er gegen Bloc Party, die Kaiser Chiefs und Coldplay um den renommierten englischen Mercury Prize für das beste Album des Jahres – und gewann. Während die Konkurrenz mit den Fans kuschelte, bestand Antony Hegarty auf seiner Einzigartigkeit als Künstler.

In seinen tieftraurigen Stücken besang der in New York lebende Brite seine Metamorphosen, seinen ewigen Wunsch, als Frau aufzuwachen. Er sang vom Begehren, vom Vergeben, von Schuldgefühlen und Angst. Hegarty begleitete sich selbst mit ausdrucksstarkem Klavierspiel, seine zurückhaltende Band The Johnsons steuerte Schlagzeug und Bass bei. Nur hin und wieder brach ein wuchtiger Geigenchor durch die Wolken. Diese androgyne, zittrige Stimme berührte und schmerzte dem Hörer. Die Texte rührten an einen urmenschlichen Kern. Und es gelang Hegarty, komplizierte Gender-Themen der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.

Dieser Blick zurück ist nötig, um das neue Minialbum von Antony & The Johnsons, Another World, einzuordnen. Denn in den vergangenen zwei Jahren war Hegarty vor allem in zahlreichen Kollaborationen zu hören, er sang mit Björk und Leonard Cohen und lieh dem Discoprojekt Hercules & Love Affair seine Stimme. Er setzte sich neuen Einflüssen aus. Sind diese auf den fünf Stücken von Another World zu hören?

“I need another world / This one’s nearly gone“, erklingt seine Stimme gleich zu Beginn im Titelstück, untermalt von sanftem Klavier und schräger Flöte. Das Lied klingt reduziert und vertraut. Auch das folgende Shake The Devil ist skizzenhaft – und bricht doch mit den Erwartungen: Nach einer minutenlangen Einleitung spielt ein Saxofon den Blues, ein aufgeräumtes Schlagzeug gibt den Takt an. Und plötzlich klingt Antony Hegarty fast enthusiastisch und kraftvoll. Aus seinen Worten sprechen Tatkraft und – kaum zu glauben – Hoffnung. Gospel und Rhythm’n’Blues erklingen. Doch wer seine Stimme hört, vergisst, dass man Musik bisweilen nach Genres sortiert.

Im Gegensatz zu I Am A Bird Now erhält Hegarty auf Another World eine gleichmäßige Spannung. Es gibt keine furiose Epiphanie, keinen Ausbruch. Manches klingt unfertig, nicht alle Stücke sind überzeugend. Another World klingt also wie genau das Zuckerli, das es sein soll: Es erinnert die Musikwelt an den großen Künstler Hegarty und bereitet sie auf sein drittes Album vor, das Anfang 2009 erscheint.

Und letztlich ist man ja um jeden Ton froh, den Antony Hegarty in die Welt schickt. Vielleicht ist er doch nicht der letzte Mensch auf Erden.

„Another World“ von Antony & The Johnsons ist auf CD und LP bei Rough Trade/Indigo erschienen.

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Prügeln, Trinken, Onanieren

Vier junge Mädchen aus Hessen nennen sich Fräulein Wunder und machen knallbunten Pop für ihre Altersgruppe. Grauen und Hoffen liegen da dicht beieinander

„Wenn ich ein Junge wär’… / Da hätt‘ ich nix vermisst / Weil es viel besser ist / Weil ich’s viel geiler find / Dass ich ein Mädchen bin“, singt Chanty von der Mädchenband Fräulein Wunder. Na klar, sonst müsste sie ja auch auf ihre „pinken Schockklamotten“ und die „tollen Brüste“ verzichten. Fräulein Wunder sind vier Schülerinnen aus der hessischen Provinz, Wenn ich ein Junge wär ihr frecher erster Hit. Im Musikvideo treten sie als Jungs verkleidet auf und persiflieren deren mutmaßliche Hauptbeschäftigungen: Prügeln, Trinken, Angeben und Onanieren.

Chanty, Steffy, Pia und Kerstin sind zwischen 17 und 18 Jahren alt und tragen den selben Künstlernachnamen: Wunder. Auf der Hülle ihres Debütalbums hüpfen sie durch ein puppiges Wunderland. Ein passendes Bild, schließlich haben Wunderländer zwei Seiten, Grauen und Hoffen liegen dicht beieinander. Das ist bei ihrem Album nicht anders. Manchmal schaltet man sofort entsetzt weiter, manchmal tanzt man erfreut mit.

Sie singen davon, wie die Queen zu regieren und toller als Dornröschen zu sein, verrückte Dinge zu tun und – natürlich – von der Liebe. Die Stimme der Sängerin changiert zwischen Göre und glockenklarem Gesang, dazwischen kiekst sie und schlägt Purzelbäume. In manchen Liedern – etwa Ich schenk mir die Welt und Jeden Tag – erinnern Fräulein Wunder an die Neonbabies, an Ideal und Nena. Die meisten anderen sind hingegen nur schwer zu ertragen, dann erklingt schmalzige Massenware der Sorte Juli oder Silbermond. Kein Wunder, schließlich hat Simon Triebel von Juli bei der Aufnahme geholfen, ebenso wie Inga Humpe von 2raumwohnung. Produziert wurde das Album von Uwe Fahrenkrog-Petersen, dem ehemaligen Klangtüftler von Nena.

Um die Band vor der Albumveröffentlichung bekannt zu machen gab es beim Sender Viva mehrere Wochen lang kurze Filme über Fräulein Wunder zu sehen. Wer sich alle Folgen ansieht, der zweifelt nicht am Ehrgeiz und am Talent der vier Mädchen, doch ein bisschen an ihrem Verstand. Ihr Gekreische ist künstlich, ihr Geplapper hohl. Alles ist „geil“, „voll krass“ oder „cool“: Die Abendgarderobe, eine auf Chantys Handgelenk tätowierte Schleife, Steffys Probleme mit ihrem Freund, der Auftritt der Band beim Rock am Ring.

Soll man nun verzweifeln und die Mädchen als Plastikprodukt einer großen Plattenfirma verspotten? Nein, denn man kann immerhin hoffen, dass sie künftig weitere dieser rotzfrechen Texte zu ihren schnellen Takten sprudeln lassen. Gleich ob gewollt oder ungewollt, Fräulein Wunder treten als selbstbewusste junge Frauen auf. Sollte das andere Mädchen animieren, selbst eine Band zu gründen, wäre das doch ein Erfolg.

Das Debütalbum von Fräulein Wunder ist als CD bei Vertigo/Universal erschienen.

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Zwischen gestern und morgen

Das Berliner Produzenten-Kollektiv Jazzanova huldigt alten Helden und schafft doch etwas Neues. Aus HipHop, Soul, Reggae und Jazz entsteht „Of All The Things“

Aktuelle Musik muss sich immer gegen die Töne der Vergangenheit verteidigen. Wie kann man der Tradition huldigen, ohne ein Imitat zu produzieren? Ständig erscheinen Platten, bei denen man sich fragt, weshalb man nicht einfach zum Original greift. Auch im Soul ist das so. Neben den Futuristen, die vor lauter Produktion die Lieder vergessen und den Erben des Schlafzimmersoul musizieren zahllose traditionsbewusste Soulmänner und -Frauen, die einem Stevie Wonder und Marvin Gaye wieder näher bringen.

Das sechsköpfige Kollektiv Jazzanova war bislang für die Verbindung von fortschrittlicher Produktion und Traditionsbewusstsein bekannt. Beim ersten Hören ihrer neuen Platte Of All The Things beschleicht einen das Gefühl, sie hätten sich nun ganz auf die Seite der Traditionalisten geschlagen. Waren ihre bisherigen Produktionen verschachtelte digitale Basteleien, haben sie nun zahlreiche echte Musiker in ihr neuerdings mit allerhand analoger Gerätschaft ausgestattetes Studio eingeladen. So klingt der Soul auf Of All The Things wie in den Sechzigern und Siebzigern.

Alles schon dagewesen also? Von wegen, Jazzanova gelingt es, etwas Neues zu schaffen, das den Geist des Originals atmet. Zum Einstieg grüßen lässig gehauene Congas, eine verhuschte Orgel und eine prägnante Gitarre. Phonte, der Sänger auf Look What You’re Doing To Me klingt wie Justin Timberlake und ein Isley-Bruder in einem. Hier geben sich Tradition und Moderne noch die Hand. Auf Let Me Show Ya dann wirbeln die Streicher, jubilieren die Bläser und singt der Chor der Engel als seien die Tage des symphonischen Soul nicht längst vergangen. Das Arrangement könnte von Curtis Mayfield sein, die Mischung aus ernsthafter Predigt und überkandideltem Himmelsversprechen ebenso. I Can See wiederum hat etwas von Northern Soul.

Jürgen von Knoblauch – einer der drei DJs bei Jazzanova – erzählt, dass jedes Stück auf Of All The Things eine Vorlage habe, ein Stück, aus dem etwas übernommen wurde, um daraus etwas Eigenes zu formen. Welches die Vorlagen sind, verrät er nicht. Manchmal ist es jedoch leicht zu erraten: Die Streicher des funkelnden Poplieds Lie stammen eindeutig aus Michelle von den Beatles.

Schwieriger ist etwa die Vorlage der elegischen Ballade Little Bird auszumachen. Dramatisch steigert sich das Stück bis zum Crescendo der Streicher. Rockin‘ You Eternally ist eine Coverversion – und der Komponist Leon Ware singt hier selbst. In den Händen von Jazzanova wird aus Rockin‘ You Eternally genau der deliriöse Schlafzimmer-Soul, den Leon Ware in den Siebzigern für Marvin Gayes Meisterwerk I Want You produzierte.

Und die Reise durch das Geschmacksuniversum Jazzanovas geht immer weiter: Hier ein butterweicher Abstecher in den HipHop, dann über beschwingten Jazz zum brasilianischen Pop. Das plüschige Dial A Cliche beschließt diese wunderbare Platte. Da hat man das Raten längst aufgegeben und genießt, wie Jazzanova den Vorbildern Tribut zollen und doch etwas Ebenbürtiges geschaffen haben.

„Of All The Things“ von Jazzanova ist auf CD und LP erschienen bei Verve/Universal.

Mehr von Jazzanova ist zu hören am Donnerstag, dem 06.11., um 22 Uhr beim Netzradio ByteFM an. Markus Schaper widmet der Band seine Sendung „60minutes“.

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Aus U und E wird Ü

Seit einigen Jahren lässt die Deutsche Grammophon ihre Klassik auf Pop trimmen. Die Technoproduzenten Carl Craig und Moritz von Oswald nahmen sich nun Ravel und Mussorgsky zur Brust

Begegnen sich Klassik und elektronische Clubmusik, reagieren Puristen meist skeptisch. Dabei besteht – anders als in der Rockmusik, in der das Orchester vor allem Schmuck ist – hier noch eine ästhetische Übereinkunft. Beide Stilrichtungen sind gleichermaßen an Klangforschung und an Texturen interessiert, die mit Hörgewohnheiten brechen. Beiden wohnt das Eigenbrötlerische inne und die ewige Last, sich nur dem Fachpublikum wirklich zu öffnen. Trotz gegenseitigen Respekts und dieser Gemeinsamkeiten gehen Klassik und Clubmusik sich lieber aus dem Weg. Umso erfreulicher ist es, wenn jemand den Graben überwindet.

Die Serie Recomposed der Deutschen Grammophon basiert auf der Idee des Brückenschlags. Die Reihe soll Klassik clubtauglich machen. Angesagte Pop-Produzenten dürfen sich Stücke aus dem Katalog des Klassiklabels aussuchen und sie neu mischen. So bearbeitete bereits der Hamburger Produzent Matthias Arfmann Aufnahmen der Berliner Philharmoniker, und der finnische Techno-Kabarettist Jimi Tenor tobte sich an Werken der Neuen Klassik aus.

Die dritte Ausgabe der Serie bestreiten nun die Technoproduzenten Carl Craig und Moritz von Oswald. Ein Coup der Deutschen Grammophon, zu Recht gelten sie als zwei der wichtigsten Protagonisten der elektronischen Tanzmusik. Mit seinen experimentellen Stücken zwischen Techno, Jazz und Soul prägte Carl Craig aus Detroit das Genre, Moritz von Oswald erfand im Berlin der frühen neunziger Jahre den Dub-Techno und veröffentlicht auf dem Label Rhythm & Sound minimale Bassmusik zwischen Roots-Reggae und Dub. Zusammen bearbeiten sie nun Maurice Ravels Bolero und seine Rhapsodie Espagnole, sowie Ausschnitte aus dem Zyklus Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgsky und reduzieren sie auf minimale Erkennungsmerkmale, kombiniert mit eigenen Klängen. Das Ergebnis ist ein in sich geschlossenes Musikstück in sechs Sätzen.

Oberflächlich betrachtet haben Vorlage und Neubearbeitung nicht viel gemein. Zu Beginn der Re-Komposition steht eine sanft gleitende Einleitung melancholischer Synthesizer-Akkorde. Erst nach vier Minuten schält sich der markante Rhythmus des Bolero heraus. Die Musiker lassen sich viel Zeit: Sparsam eingesetzte Elemente geraten erst nach und nach in Bewegung, einzelne Klänge treten hervor, etwa die Solotrompete aus Mussorgskys Bilder einer Ausstellung.

Das endlose Steigerungsprinzip der Kompostion Ravels betonen Carl Craig und Moritz von Oswald, indem sie mikroskopische Klangeinheiten immer wieder neu kombinieren. Erst mit dem Einsatz der Basstrommel verlässt der Bolero das klassische Terrain – er ist zu einem treibenden Technostück mutiert, dessen repetitive Klänge sich ineinander schrauben. Die Parallelen zwischen U- und E-Musik sind hörbar – nahezu unbemerkt haben die beiden Arrangeure die Clubmusik mit der abendländischen Klassik in Einklang gebracht.

Erst im fünften Satz sind die Originalaufnahmen der Berliner Philharmoniker zum ersten Mal deutlich zu hören. Dunkel und schwer arbeitet sich das Prélude A La Nuit der Rhapsodie vorwärts, Carl Craig und Moritz von Oswald setzen es mit Pausen und Hallschleifen effektvoll in Szene. Die Musiker schaffen einen faszinierenden Spannungsbogen, das geheimnisvolle Motiv dreht sich um sich selbst, und mündet schließlich in einen fiebrigen Dub-Techno.

Im letzten Satz kommt die Re-Komposition wieder zur Ruhe: Die Orchesterspuren kreisen wie hungrige Vögel über afrikanischer Perkussion. Das Experiment endet offen, Carl Craig und Moritz von Oswald improvisieren mit elektronischen Klängen und rhythmischen Effekten. Der Klang verhallender Trommeln beschließt die Platte, das ist schlüssig. Schließlich haben Trommeln noch jeden musikalischen Graben überwunden.

„Recomposed“ von Carl Craig & Moritz von Oswald ist bei Deutsche Grammophon/Universal erschienen.

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TR/snthsnd.98 hat Herzschmerz

„Intimacy“ nennen Bloc Party ihr drittes Album. Doch von wegen Kuschelrock: Brachial wälzt sich ein elektronisches Klangmonster aus den Lautsprechern. Viele Fans dürften sich die Ohren reiben

Der Virenscanner schlägt stillen Alarm, ein kleines Fenster blinkt mich an. „Im Verzeichnis /Eigene Musik/IndieRock/BlocParty/Intimacy ist das trojanische Pferd TR/snthsnd.98 enthalten. Quarantäne, Ignorieren oder Löschen?“

Dabei sah alles so gut aus. Die englische Band Bloc Party gibt im Jahr 2008 kein einziges Interview, reist um die Welt und stellt im August mal eben ihr neues Album für siebeneinhalb Britische Pfund ins Netz. Erstmal keine CD, keine Platte, kein Vertrieb, nur Daten. So funktioniert die moderne Musikwelt, ist das noch eine Erwähnung wert?

„Sind das noch Bloc Party?“, fragte man sich schon angesichts der Vorabsingle Mercury im Sommer. Da dröhnen die Bläser wie bei James Bond neben elektronischem Hack, das Stück hat keinen richtigen Refrain und ist weit entfernt von den ursprünglichen Klängen der Band. Weniger Rock, mehr Elektronik, das ist nicht ohne Risiko in einem Geschäft, das zum großen Teil von Konzerteinnahmen lebt.

Der Virenscanner wartet auf eine Entscheidung. Kurzes Nachsehen im Netz bestätigt: Der Download ist in Ordnung, die Kategorisierung macht Probleme. Bleibt nur, die heuristische Erkennung auszuschalten und sich selbst ein Bild zu machen. Also, „Ignorieren“ und los:

„I want to declare a war“ brüllt Ares, der Gott des Blutbads. Kurz blitzt die Unsicherheit wieder auf: Wenn doch was kaputt geht? Moment, darum geht es ja, um die Rohheit der Straße, ums Kämpfen. Dizzee Rascal könnte da noch mehr erzählen, aber der rappt woanders. Gegen Ende hält der Sänger Kele Okereke kurz Inne und wundert sich, dass die nasebrechenden Hände mit ihren Berührungen auch Wunder bewirken könnten. Drum heißt das Album wohl Intimacy.

Intimacy? Die Platte ist kein Kuschelrock, soviel ist schnell klar. Brachial und ausproduziert wälzt sich ein Klangmonster aus den Lautsprechern. Bei Biko blickt es über den Fluss Styx – und stellt fest, dass die Welt nicht nett ist zu den kleinen Dingen. Hier singt Okereke, dass man nicht allein sei, dort wünscht er sich zurück in eine gute Zeit. Am Ende ist alles Trugschluss, ein leeres trojanisches Pferd. Kaum hat man sich damit abgefunden, machen die hellen Glocken und der technoid treibende Rhythmus von Signs die Verzweiflung ertragbar. Ist das der Ausweg?

One Month Off klingt, als solle es die langjährigen Anhänger mit dem Album versöhnen, trotz der vielen Computerspielgeräusche. Zephyrus stößt ihnen gleich wieder vor den Kopf, der Gott des Westwindes weht uns zum Ausgangspunkt zurück. Die Melange aus elektronischen Chören, lamentierendem Gesang und angezerrtem elektronischen Schlagzeug ist immerhin so ambitioniert, dass man nicht gleich weiterdrückt.

Und schließlich verteilen Bloc Party dann die Belohnung. Wer bis zu Stück Nummer 9 ausgeharrt hat, bekommt Better Than Heaven, Talons und Ion Square zu hören – da hat die Band ihren Markenzeichenklang ins Jahr 2008 übertragen. Ion Square setzt den Schlusspunkt des Albums, es ist eine treibende Nummer, die mit melancholischer Leichtigkeit und warmen Synthesizer-Arpeggien recht versöhnlich klingt. Kele Okereke richtet ein warmes Schlusswort an die Hörer. Bei all dem Schmerz, der die Band bis hierhin trieb, ist „I carry your heart here with me, I carry it in my heart“, eine der intimsten Zeilen des Albums.

Plötzlich wird klar, dass der Virenscanner zurecht warnte. Jetzt ist es zu spät, das trojanische Pferd ist längst da und wird nicht mehr gehen. Der Titel hatte es ja angekündigt, wer Intimität möchte, der muss ein paar Schranken öffnen. Intimacy kann sich nur annähren, wer ein kleines Risiko eingeht.

Wem der Download zu riskant ist oder zu wenig betastbar, der kann dieser Tage das Album schließlich als klassischen Tonträger erstehen – und bekommt sogar noch zwei Stücke obendrauf.

„Intimacy“ von Bloc Party ist als CD und LP bei Cooperative/Universal erschienen.

Wer Bloc Party im Interview hören möchte, klicke am Freitag, dem 31. 10., um 22 Uhr das Netzradio ByteFM an. Michael Seifert widmet der Band seine zweistündige Sendung „Almost Famous“.

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Zäh wie Bitumen

Vielleicht hätten The Cure auf ihr 13. Album verzichten sollen. Außer großer Zahlensymbolik hat es nicht viel zu bieten.

Der dunkle Zauber warf seinen Schatten voraus: Ende vergangenen Jahres verkündeten The Cure, dreißig neue Lieder aufgenommen zu haben. Am 13. September 2008 solle das 13. Album der Band erscheinen. Vier Monate im Voraus begann die Gruppe damit, jeweils eine Single mit zwei neuen Stücken zu veröffentlichen. Die Lieder – angefangen mit The Only One im Mai – erschienen jeweils am Monatsdreizehnten.

Selbst als die Veröffentlichung des Albums um sechs Wochen verschoben wurde, folgten The Cure einem Notfallplan, der die Symbolik der 13 aufrechterhielt: Sie veröffentlichten ein Minialbum mit fünf Remixen der Singles. Vier mal zwei plus fünf? Genau, 13. Das Album heißt – für alle, die es ganz explizit wollen – 4:13 Dream, es sind 13 Stücke drauf. Wozu diese überbetonte Symbolik? Sind die Lieder so schwach?

4:13 Dream ist ein zerrissenes Album. The Cure wildern in ihrer eigenen Vergangenheit. Underneath The Stars ist aus dem selben Garn gewebt wie der düstere Klangteppich Disintegration, nur ein bisschen ausgewaschen. The Only One und The Perfect Boy sind fröhliche Poplieder, wie die Band sie Mitte der Achtziger sang. Sirensong erinnert an Wish und Sleep When I’m Dead hätte auf Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me nicht gestört, Freakshow ist ähnlich exzentrisch wie viele Stücke auf dem schlechten Wild Mood Swings.

Nur: Die zitierten Werke waren stark innerhalb der stimmungsvollen Dramaturgie der jeweiligen Alben. 4:13 Dream hingegen klingt wie ein Gemischtwarenladen.

Die Zerrissenheit wäre vielleicht sogar unerheblich – oder zumindest weniger auffällig – wenn die Lieder nicht so belanglos wären. Stücke wie It’s Over und Switch mühen sich redlich, nach The Cure zu klingen, haben melodiös aber kaum etwas zu bieten.

Auf früheren Alben ist es der Band so oft gelungen, der Schwere eine betörend leichte Melodie entgegenzusetzen, da durchbrach ein Kieksen Robert Smiths weinerlichen Tonfall. Nun hört man, wie The Cure versuchen, Schwermut und Schmunzeln in die Waage zu bringen – und wie es immer wieder misslingt. Vor allem, wenn Porl Thompson eine Schippe grobes Gitarrenkorn auflegt, ist die Einfallslosigkeit frappant!

Besser sind die Lieder, in denen die Band behutsam zu Werke geht. In The Only One etwa. Es überragt alle anderen Stücke und ist das einzig richtig gute. Zwei, drei andere Lieder sind immerhin in Ordnung. Größere Inseln im aufgewühlten Meer des Gitarrenkreischens gibt es leider nicht.

Manches Stück – etwa Sleep When I’m Dead – wäre wohl gar nicht so unerträglich, wenn das Album ordentlich produziert wäre. 4:13 Dream klingt furchtbar breiig – wie schon die letzten drei Alben der Band. Vor allem dem Bass fehlt der pointierte Plopp, zäh wie Bitumen breitet sich sein dumpfes Grollen über allem aus.

Vielleicht sind die Ohren des Herrn Smith einfach schlecht geworden über die Jahre? Er ist ja auch schon beinahe 50 und ließ seine Trommelfelle an unzähligen Abenden vom eigenen Krach durchwalken. Es heißt, er betrachte die Band als seinen Besitz, er habe auch auch diesmal an den Reglern gedreht, gemeinsam mit dem Hitparadenfüller Keith Uddin.

Im Volksmund ist die 13 das „Dutzend des Teufels“, in vielen Hochhäusern gibt es keinen 13. Stock. In Flugzeugen folgt Reihe 14 auf Reihe 12, selbst die Angst vor der 13 hat einen Namen: Triskaidekaphobie. Vielleicht hätten auch The Cure auf ihr 13. Album verzichten sollen? Noch vor seinem 50. Geburtstag am 21. April 2009 solle das 14. erscheinen, kündigte Robert Smith bereits an.

„4:13 Dream“ von The Cure ist auf CD und LP bei Geffen/Universal erschienen.

Hier geht’s zur klingenden Diskografie aller bisherigen Alben von The Cure »

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Alles ist Rhythmus

Die Chilenin Dinky tanzt voraus: Ihre Clubmusik lebt von den Zwischentönen im Wumms. Auf „May Be Later“ türmt sie Klänge, deren Herkunft sich nur erahnen lässt

Ist das der Nachbar, der da brabbelt? Die Tür muss mal wieder geölt werden. Oder maunzt die Katze? Jetzt macht sie sich über die Töpfe her. Stimmen, Quietschen, Klappern: Es passiert viel in der Musik von Dinky. Der pochende Puls des Techno ist nur ein Klang von vielen.

Im Minimal-Techno herrscht eine neue Freiheit. Das stete Bum-Bum-Bum-Bum wird von Ellipsen überlagert. Klangschnipsel jeglicher Herkunft gesellen sich zu den guten alten Bekannten, zum geraden Wumms, zum rhythmischen Klavier. Da setzt der Taktschlag auch mal aus, ziehen Blaskappellen um die Häuser.

Der erfolgreiche DJ Ricardo Villalobos nahm sich mit seinen Produktionen einiges heraus und öffnete das Genre. Seine Stücke wurden immer länger und seltsamer, die Tanzenden liebten das. Wie Ricardo Villalobos wurde auch Dinky in Chile geboren, ihr bürgerlicher Name ist Alejandra Iglesias. In New York begann sie eine Karriere als Tänzerin und Choreografin. Am Tage tanzte sie, in der Nacht ließ sie tanzen. Nach dem 11. September 2001 änderten die Vereinigten Staaten ihre Visa-Politik, Dinky musste ausreisen. Seitdem lebt sie in Berlin.

Mehr noch als die Melodien liegen Dinky die Zwischentöne am Herzen. Als Kind hatte sie Klavierunterricht, heute hört sie häufig moderne Klassik. Ihr Album May Be Later sei von dem Pianisten Erik Satie inspiriert, erzählt sie. Sie schätze seinen Umgang mit Disharmonien, die eine Spannung hervorriefen, die im zeitgenössischen Pop oft fehle. Von Satie stamme auch die Idee, kleine musikalische Motive zu wiederholen – heute hilft dabei der Sampler.

Dinky füttert ihren Sampler mit frühem Jazz und Blues aus Chicago und afrikanischer Musik. Und auch wenn der Ursprung der Klänge auf May Be Leter sich meist nur erahnen lässt, liegt Dinky viel an der Tradition der Schwarzen Musik. Ihre Stücke orientieren sich nicht an der europäischen Funktionsharmonik, sondern an Mikrotonalität und Synkopen. Viele basieren auf orientalischen Skalen. Ihr Keyboard habe da so einen Schalter, erzählt sie, den habe sie einfach umgelegt, weil ihr der exotische Klang gefiel.

So klingt das Album ebenso wegweisend wie tanzbar. Durch Mars Cello eiert ein verfremdeter Gong, kehlige Stimmen wispern insektenhaft, Schaben und Rascheln erzeugen eine unheimliche Stimmung. Der stete Puls wird von Handklatschen und einem vibrierenden Bass begleitet. Burdelia klingt wie eine Samba-Schule im Weltall: Polyrhythmen umtänzeln Fiepgeräusche. Anders als Ricardo Villalobos erzeugt Dinky Dichte. Ihre Stücke sind sehr konzentriert. Hier mäandert nichts, hier wird geschichtet. Ein richtiges Lied gibt es auch, auf She Is Moving klingt der Sänger Big Bully wie Jamie Lidell.

Manchmal erinnert May Be Later an Brian Enos und David Byrnes Klassiker der Klangcollage, My Life In The Bush Of Ghosts. Eno und Byrne schufen damals im Jahr 1981 ein neues Verständnis von Weltmusik: Alles ist Klang! Aus allem lässt sich Musik machen! Die Geräusche, Stimmen und Instrumente aller Welt existieren gleichberechtigt nebeneinander. Dinky macht sich dieses Verständnis zu eigen: Man kann in ihre Stücke eintauchen und immer wieder Neues entdecken. Und man kann dazu tanzen, denn alles ist Rhythmus.

„May Be Later“ von Dinky ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Vakant/Rough Trade.

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Diese Band ist ein Sofa

Travis haben sich in den vergangenen zehn Jahren kaum verändert: Man hört ihre Lieder – und vergisst sie sofort wieder. So auch die des neuen Albums „Ode To J. Smith“

Travis, das sind die Guten im Britpop, die Bescheidenen, die Ehrlichen, die Band ohne Skandale, ohne Abgründe, die Harmlosen. Die mit der Extraportion Liebe und Gefühl. Der Weg der vier Schotten von der Kunsthochschule in Glasgow in die Hitparade war lang, doch die Mühen sind längst vergessen. Schon seit einigen Jahren ist ein neues Album von Travis immer wieder ein Spektakel – und auch außerhalb ihrer Heimat füllen sie heute große Hallen. „Musik kann ein Stuhl sein, auf den man sich setzt“, sagte der Sänger Francis Healy einmal in einem Interview. Jetzt haben Travis einen neuen Stuhl gezimmert, und zwar einen recht untypischen, wenn nicht gar unbequemen.

Ode To J. Smith heißt das sechste Album, die Stücke darauf ranken sich um das Leben der imaginären Figur J. Smith. Und es beginnt tatsächlich erfrischend: Zum hämmernden Piano erzeugt die E-Gitarre Verzerrtes, das klingt nach Rockmusik. Eine Rockband sind Travis dennoch nicht, sie haben ein Kleid aus Dornen angezogen, im Innern sind sie noch immer weich wie Kuchenteig.

Mit ihren Verkleidungen gehen Travis bisweilen recht weit: Da gibt es esoterische Männerchöre über Gitarren-Riffs, Freunde von Rammstein könnten das mögen. Und es gibt Hardrocksoli, psychedelische Anleihen bei den Doors, sogar ein paar Sprenkel Rockabilly. Kurz wundert man sich, doch schon einige Sekunden später ist es wieder da: Das gute Gefühl, auf einem Stuhl zu sitzen, den man schon lange kennt. Das Problem der Ode an Herrn Schmidt: Ein Stuhl ist wie der andere. Egal in welchem Kostüm, ob rockig oder sanft, eines hat sich bei Travis seit ihrem ersten Album vor zehn Jahren nicht verändert: Die meisten ihrer Lieder sind von erschreckender kompositorischer Schluffigkeit. Man hört sie – und vergisst sie wieder. Sofort.

Oder ist das gerade das Kunststück? Obwohl Travis in ihrer langen Karriere nur wenige Stücke geschrieben haben, die sich ins Gedächtnis einbrannten, waren sie doch immer eingängig. Beim Hören ihrer Stücke schmelzen viele Menschen wie Butter in der Sonne. Das mag an der herbstlich-melancholischen Stimme von Francis Healy liegen. Er verwandelt jedes glatte Popliedchen in ein Rührstück, eine Romanze, eine Schmonzette. Kann man das verurteilen?

Diese Band ist kein Stuhl. Diese Band ist ein Sofa, auf dem man sich ausstrecken, sich einsam fühlen und auch mal ein bisschen weinen kann. Sicher wird man ohne Rückenschmerzen aufwachen. Diese Band ist eine erfolgreiche Koalitionsverhandlung mit sich selbst, ein Rettungspaket für das Gefühlsleben.

„Ode To J. Smith“ von Travis ist als CD und LP bei Vertigo/Universal erschienen.

Travis treten am 22. November in Essen beim Rockpalast-Festival auf.

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Whiskey zu Wasser

Über die Jahre (44): Das Debütalbum der Tindersticks bewies es im Jahr 1993 ein für allemal: Die unglücklichen Menschen schreiben die aufregendsten Lieder

Im Sommer 1992 packen die erfolglosen Musiker Stuart Staples und David Boulter ihre Habseligkeiten in einen Ford Transit und verlassen Nottingham. Sie steuern die M1 hinunter nach London. Mit einigen alten und einigen neuen Freunden mieten sie ein Haus im Stadtteil Kilburn, in der Küche richten sie ein Studio ein.

Nach der Arbeit und an Feiertagen schreiben sie Lieder und spielen sie in ein altes Aufnahmegerät. Zwei Stücke pressen sie auf eine Single und veröffentlichen sie unter dem Namen Tindersticks. Kurz darauf mieten sie ein Studio und nehmen 23 Stücke auf, das winzige Label This Way Up zahlt die Rechnung. Das Debütalbum der Tindersticks erscheint dort im Herbst 1993. Eine dürre Frau im rotwallenden Kleid ziert die Hülle, sie tanzt.

Die unglücklichen Menschen schreiben die besten Lieder. Die Tindersticks scheinen damals sehr unglücklich gewesen zu sein. Wie schwere Regentropfen auf Kopfsteinpflaster plumpsen die Klaviertöne in eine kuschelige Orgeldecke, verwunschene Klöppeleien auf dem Vibrafon wirbeln wie aufgeschlagene Daunen durch den Raum. Der Schlagzeuger kämpft gegen den Sekundenschlaf, der Gitarrist hat vergessen, sein Instrument zu stimmen. Über all das legt sich die Stimme von Stuart Staples. Doch von vorn:

Mit Nectar beginnt die Platte, das lullt sich ins Ohr. Bis der Sänger erklingt, verheißt das Stück Fröhlichkeit, die Gitarre jauchzt, die Schellen hüpfen. Nach – Moment – elf Sekunden erhebt Stuart Staples seine Stimme, oder besser: er versenkt sie. So tief, so zart, so unsicher klingt er. Er lässt sich nass regnen, die Daunen kleben an ihm. Nur im Refrain reißen die Streicher nach oben aus. Das folgende Tyed schleppt sich, steigert sich, vereint schräge Streicher und schrille Trompeten in schließlich überraschender Harmonie, steigt immer weiter an, fällt plötzlich ab und endet in einem See aus Klang.

Tyed ist ein Spiegel der ganzen Platte. „Turn my whiskey into water“, singt Staples und schenkt großzügig von beidem ein, Whiskey und Wasser. Die Tindersticks wägen nicht ab, immer wollen sie alles zur selben Zeit: Tempo und Langsamkeit, Geduld, Behutsamkeit und aufreibende Hektik, Harmonie und schräge Töne, ja, Harmonie aus schrägen Tönen. Sie orchestrieren das Chaos. Auf die schwermütige Grundierung tragen sie mit euphorischem Pinselstrich tausend Farben auf, sie wirbeln im Affekt.

In den seltenen Momenten der Ruhe wartet der Hörer ungeduldig auf den nächsten Ausbruch. Stuart Staples erzählt derweil von einem Dutzend gescheiterter Beziehungen, immer wieder von Neuem klagt er sein Leid: „Was there once something so pure that left me whole and precious? But now, broken, wondering. Everything I crave I become, everything I left forgotten, everything I love I become. Cos that’s what happens when you reach the bottom.“ Puh.

Das Album folgt einer genialen Dramaturgie. Nach einer Stunde kulminiert es in Her. Einem enervierenden Gitarrengedaddel folgt ein zweieinhalbminütiger Vulkanausbruch. Alles klagt, die Stimme, die Instrumente, und doch ist da eine Kraft, die Pompeji glatt ein zweites Mal verschütten könnte.

Die Tragik eines ganzen Lebens strahlt hier in einem einzigen Lied. Ein Zittern, dann greift Stuart Staples tief in die Textkiste des Existenzialisten: „Scared of my shadow, afraid of myself. Never thought I could be so shallow, resort to playing a man.“ Mariachi-Bläser verlegen das Drama nach Guadalajara, eine atonal schrillende Gitarre zerrt die Geschichte zurück nach England.

Ein kurzes Durchatmen, dann bäumt die Band sich wieder auf. Drunk Tank entfesselt einen Sturm, erst jetzt sind wir über den Berg. Ein ganzes Orchester vermag man zu hören, es schallt von überall. Was soll nun noch kommen? Die gelungene Abwicklung: Paco De Renaldo’s Dream ist chaotisch, zu monotonen Folgen des Klaviers erzählt Stuart Staples einen Traum, zum ersten Mal mit sicherer Stimme. Und The Not Knowing ist der Epilog, verträumte Oboen und Klarinetten lösen die Spannung. „The not knowing is easy“, singt Staples.

So prätentiös es klingen mag: Dieser Platte muss man Raum schaffen, ihre ganze Größe entfaltet sie bei einem Glas Rotwein im Kerzenschein. Schön waren die Tindersticks auch später noch, auch euphorisch, traurig und kraftvoll. Aber nie wieder klang das alles so zusammen wie auf dieser ersten Platte, der mit der dürren Tänzerin.

Das unbetitelte Debütalbum der Tindersticks ist im Jahr 1993 auf CD und Doppel-LP bei This Way Up erschienen und im Jahr 2004 auf Doppel-CD bei Island/Universal wiederveröffentlicht worden – erweitert um zwölf der in der WG-Küche entstandenen Demoaufnahmen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(43) The Sisters Of Mercy: „First And Last And Always“ (1985)
(42) Wareika Hill Sounds: „s/t“ (2007)
(41) Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (1977)
(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)
(39) GAS: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)

Eine vollständige Liste der bisher in dieser Rubrik besprochenen Platten finden Sie hier.

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Biene Maja auf der Überholspur

Das Mühlheimer Quartett Bohren & Der Club Of Gore zelebriert die gruselige Langsamkeit. Auch auf „Dolores“ musizieren sie mit unendlicher Geduld. Und doch, es hat sich etwas Neues eingeschlichen

Die Angst kommt in Gestalt einer übernächtigten Jazz-Kombo. Das Klavier und das Vibrafon spielen geisterhafte Töne. Hin und wieder legt sich ein sanft geblasenes Tenorsaxofon über das knochige Gerüst aus Schlagzeug und Kontrabass. Aus den Schatten kriecht der Klang einer Orgel. Die schaurigen Melodien erzählen vom Abstieg in einen Abgrund.

Das Mühlheimer Quartett Bohren & Der Club Of Gore zelebriert die Langsamkeit. Scheinbar endlos dehnen sich die Lieder, bis am Ende nur noch der Bass düstern summt. Sie überwinden die kitschige Trägheit des Lounge-Jazz, indem sie ihn bis ins Extrem verlangsamen. Ihre Musik funktioniert wie ein guter Horrorfilm, der im Moment des Schreckens die Zeit still stehen lässt. Sie bildet das nackte Grauen musikalisch ab. Zu dieser Musik lässt man am besten die Rolläden herunter.

Bohren & Der Club Of Gore klingen so unheimlich, weil sie den wärmenden Klang einer Jazz-Kombo umkehren. Vertraute Instrumente wirken plötzlich bedrohlich. Wie lustvoll und genießerisch das Quartett dabei zu Werke geht, zeigen die Titel mancher Stücke: Constant Fear, Skeletal Remains oder On Demon Wings, solche Namen schreibt man eher zünftigen Todesmetallern zu.

Auf ihren Platten wühlt die Band in Gebeinen und feiert die Schönheit von Särgen. Stalker und Schlitzer wandeln durch die geschwärzten Klanglandschaften. Erleuchtet wird diese Halbwelt von den Schaufenstern der Waffengeschäfte und Bestattungsinstitute. Mit jedem Album begeben sich Bohren und sein Club tiefer in den Schlund des Grauens. Maximum Black lautet ihr Motto.

Fünf Alben hat die Band in den Jahren seit 1994 eingespielt. Auf dem vorletzten – dem abstrakten Konzeptalbum Geisterfaust – hatte sie das Tempo noch einmal drastisch verlangsamt. Die Musik war nun beinahe zum Stillstand gekommen. Angesichts dieser Verschleppung erschienen selbst tektonische Erdverschiebungen als rasantes Spektakel. Mit Geisterfaust war das letzte Fünkchen Wärme aus der Musik gewichen: Hier regierte der Horror mit eiskalter Knochenhand.

Das neue Werk Dolores klingt, wie Bohren & Der Club Of Gore eben klingen müssen. Mit unendlicher Geduld malen sie in den für sie typischen Klangfarben, sie bleiben unverwechselbar. Und doch hat sich etwas Neues eingeschlichen, winzige musikalische Veränderungen sind zu vernehmen. Da ist eine Kirchenorgel, die der Musik Erhabenheit verleiht. Da scheinen menschliche Stimmen durch die dichten Arrangements zu wehen – es ist der Vocoder des Bassisten Morten Gast.

Dolores klingt aufgeräumt und konzentriert, nur noch selten schleichen die Töne dermaßen in Zeitlupen aus den Lautsprechern, wie noch auf Geisterfaust. Bohren & Der Club Of Gore beschleunigen und spielen nun so etwas wie Filmmusik, jedes Stück erzählt eine Geschichte, beschreibt ein Bild. Die Melodien sind greifbar geworden, das liegt auch an der überschaubaren Spieldauer der Stücke. So nah am Pop waren Bohren & Der Club Of Gore noch nie.

Die eiskalte Unerbittlichkeit von Geisterfaust hat sich in zerbrechliche Melancholie verwandelt. Lakonisch klingen die Soli des Saxofonisten Christoph Glöser, auch manch schrulligen Witz wagen sie: Ein Stück heißt Schwarze Biene (Black Maja), ihre Hommage an Lurchi nennen sie Unkerich. Keine Angst, von einer neuen Leichtigkeit kann man hier nicht sprechen, denn mit Liedern wie Welk und Welten haben Bohren & Der Club Of Gore auch einige schwarze Monolithen in den Raum gestellt.

Auch wenn auf Dolores hin und wieder das Tageslicht aufblitzt: Die Rolläden werden noch lange unten bleiben.

„Dolores“ von Bohren & Der Club Of Gore ist auf CD und Doppel-LP bei PIAS/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie AMBIENT
Gas: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)
Miles Davis: „On The Corner“ (Columbia 1972)

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