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Furt mit den Klagen

Über die Jahre (32): Naked Lunch aus Österreich wollten im Jahr 2007 die Schwermut besiegen. Auf „This Atom Heart Of Ours“ ließen sie das Schöne und das Triste harmonisch klingen – ohne dem Kitsch zu verfallen.

Naked Lunch This Atom Heart Of Ours

Anfang vergangenen Jahres erschien This Atom Heart Of Ours, das fünfte Album der Klagenfurter Band Naked Lunch. Produziert wurde es – wie das düstere Songs For The Exhausted zuvor – von Olaf Opal, er arbeitete auch mit The Notwist zusammen. This Atom Heart Of Ours ist kein Abgesang, sondern ein Neuanfang, die Band klingt nun zuversichtlich. Filigran feilen die drei Musiker an der Verbindung von Gitarren und leiser Elektronik, das brüchige Timbre des Sängers Oliver Welter lässt keinen Kitsch zu.

Welter schreibt die Stücke an der Gitarre. Mittlerweile hat er einen eigenen Ton gefunden. „Wir haben eine Geschmackspolizei in der Band, die immer die Sirenen anwirft, wenn einer von uns auch nur von einem einzigen Klang Bauchweh bekommt“, erklärt er.

Über seine Stücke sagt er: „Zentraler Gedanke ist meist die eigene Hölle“. Gemeinsam mit Herwig Zamernik und Stefan Deisenberger malt er diese Hölle auf This Atom Heart Of Ours in leuchtenden Farben aus. Im Titelstück überraschen Naked Lunch mit versöhnlichen Zeilen: „The bells they were ringing with a beautiful sound. A new day rising, a way that we found.“ Die Stimme klingt weltverloren, die Gitarre traurig. Und dennoch: Schwermut will besiegt werden auf diesem Album.

Sie lässt sich mit Schönheit zwingen, oder besser: durchdringen. Das Schöne und das Triste klingen zusammen. Wie der englischen Band The Good, The Bad & The Queen gelingt es Naked Lunch, ein Gefühl zu musikalisieren – das Traurige im Glück und das Glück in der Traurigkeit. Zerbrechlich klingen sie, verloren. In My Country Girl singt Welter „I don’t like where I live, but I love to live with you“, das ist eine Absage an die Heimat Kärnten und im selben Moment eine rührende Liebeserklärung.

This Atom Heart Of Ours ist ein verspieltes und zugleich staubtrockenes Album. Die Band orientiert sich weniger an The Notwist als zuvor, stattdessen jubilieren Chöre und Orgeln, ganz ohne spirituelles Pathos. Dann und wann wehen Störgeräusche hinein, knackt und kracht die Elektronik. Man fühlt sich erinnert an die frühen Jahre der Rockband. Kurz darauf umfangen einen die Harmonien wieder und man träumt weiter. Ganz am Ende dann, in In The End, heißt es: „My arms will hold you in the end, you will forgive me in the end, my love will find you in the end“. In Zukunft wird Liebe sein, wird Freiheit sein, doch bis dahin, so ahnen wir auch beim Blick auf die Hülle, ist es ein steiniger Weg.

„This Atom Heart Of Ours“ von Naked Lunch ist im Jahr 2007 als CD und LP bei Louisville Records erschienen.

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(26) Codeine: „The White Birch“ (1994)

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Sekt auf Schweiß

Der Berliner Alec Empire spielt Rock ohne Gitarren. Das Wummern der Synthesizer auf „The Golden Foretaste Of Heaven“ bringt sogar den binären Code zum Tanzen.

Alec Empire The Golden Foretaste Of Heaven

Null und Eins treffen sich im Club.
Eins: „Wer spielt denn?“
Null: „Alec Empire. Kennst du den?“

Wie aus dem Nichts tritt ein Musikkritiker hinzu.

Kritiker: „Wenn ich mich kurz einmischen darf …“
Eins: „Na, wenn’s denn sein muss.“
Kritiker: „Danke. Also, früher hat er bei Atari Teenage Riot gespielt, einer Radauband aus Berlin. Unhörbar, sag ich euch. Ein Chaos aus digitalem Lärm und Gekreische, dabei verdampften Gehirnwindungen und Schaltkreise. Ein bisschen Punk und viel Techno. Seit fünf Jahren macht er allein Musik und hat Dutzende anderer Musiker produziert. Irre.“
Eins: „Aha.“

Die ersten Töne von New Man scheppern los. Klotziger Takt, rotzige Klänge, es klingt gar nicht nach Techno.

Null: „Das ist jetzt aber rockig. Sind das E-Gitarren?“
Kritiker: „Nein, nein, er benutzt keine Gitarren. Das sind alles Synthesizer. Russische.“
Alec Empire: „Keep on Dancing.“

Die Stimme sägt aus den Lautsprechern, Ice heißt das nächste Lied, „Three Strokes of A Razor“, singt Empire. Der Musikkritiker postuliert, das klinge nach dem englischen Rock’n’Roll der Siebziger, und die Melodie sei von Gary Numan abgekupfert. Aber niemand hört ihm zu.

Dann steht er an der Bar. Versucht jemanden zu beeindrucken. Digitales Kreischen legt sich über den Saal, die Musik wird langsamer. Fast kuschelig, würde es nicht stets fiepen, von oben, von unten, von überall her. Kleine Stromschläge durchzucken 1000 Eyes. Sieben Minuten lang.

Kritiker: „Eigentlich heißt er ja Alexander Wilke. Hat mit 14 angefangen mit Musik, erst Gitarre, dann Computer, erst Charlottenburg, dann London. Jetzt ist er 35. Wollte damals den Techno politisieren, das waren die Neunziger. Inzwischen ist er viel braver geworden, das hat alles Rockstruktur, Strophe und Refrain. Weißt du, das ist eigentlich eine Liebesplatte! Keine Rebellion mehr, keine Parolen, wie damals mit Atari Teenage Riot. Zehn Lieder, neunmal geht’s um Frauen, einmal um Satan. Das hab ich recherchiert.“
Jemand: „Waaas?“

Ein elektronischer Rhythmus schlägt Purzelbäume, rast über schrille Tonflächen, stolpert nie. Das Schlagzeug stampft dahinter. Down, Satan, Down.

Alec Empire: „Come on Satan, drag me down! Down!“
Satan: „Oh yeah.“

Schweiß tropft über die Knöpfchen auf der Bühne. Null und Eins tanzen und zappeln, sie können nicht schwitzen, sind ja nur Zahlen. Die Bässe von On Fire dröhnen in die Lendengegend, beinahe ist das glitzernder Glam-Rock. Eins und Null trinken Sekt auf Eis. Das passt am besten.

Alec Empire (noch verzerrter): „We make love for hours and hours.“
Hormone: „Sind wir zu spät?“
Null: „Gerade richtig, jetzt kommt Robot Love. Das pluckert ganz entspannt.
Eins: „Kenn ich! Das war eine Single im vergangenen Jahr.“
Kritiker: „Ja, das war die erste Platte auf seinem Label Eat your Heart Out.“

Später am Abend. Null und Eins trinken um die Wette, schwitzen jetzt auch, sind aus der Puste. Der Musikkritiker sitzt beseelt am Tanzflächenrand. Bug On My Windshield wummert unerbittlich. Wütend schwillt es an, der Synthesizer pfeift dazwischen. Es hat nicht viel Text.

Alec Empire: „You’re a bug on my windshield.“
Null: „Jaja, Liebesplatte, jaja.“
Kritiker: „Wartet doch den nächsten Song ab. No/Why/New York, eine Ballade. Dazu könnt ihr schwofen.“
Eins: „Aber nicht mit dir.“

Die Hormone holen ihre Jacken, hier gibt’s nichts mehr zu tun. Die Musik geht von vorne los.

Sonne: „Ich geh jetzt auf.“
Alle: „Uns doch egal.“

„The Golden Foretaste Of Heaven“ von Alec Empire ist als CD und Doppel-LP bei Eat Your Heart Out/Cargo erschienen.

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Zum Freudentag zehn Pflaumen

Die Plattenfirma Thrill Jockey aus Chicago wird 15 Jahre alt. Zum Geburtstag gibt es „Plum“, ein Pappkistchen mit zehn Vinyl-Singles. Die Künstler des Labels spielen sich darauf gegenseitig nach.

Thrill Jockey Plum

Da stockt das Hören. Zwanzig Stücke auf zehn Singles, das heißt: alle drei bis fünf Minuten aufspringen, die Nadel abnehmen, das Vinyl umdrehen oder wechseln, die Nadel wieder auflegen und das Scheibchen in Bewegung bringen. Plum nennt das Label Thrill Jockey ein Pappkistchen mit zehn Singles, aufgenommen zum Fünfzehnjährigen, limitiert auf 2.000 Stück. Die Künstler der Plattenfirma spielen sich gegenseitig nach. Plum gibt es nicht auf CD, die zwanzig Stücke sollen für alle Zeiten exklusiv bleiben. Beim Label kostet der Spaß 35 US-Dollar plus Porto und Zoll, in Deutschland bekommt man das Paket für rund 45 Euro.

Wer singt nun hier? Nur wenige Künstler tragen einen großen Namen. Der Kiste ist kaum Information zu entnehmen, es gibt kein erläuterndes Büchlein, auf den Plattenhüllen sind nur die Namen der Beteiligten verzeichnet. So trifft der Hörer lauter Unbekannte, fühlt sich ein bisschen blind. Namen und Pflaumen tropfen, irgendwann horcht er einfach und fragt sich gar nicht mehr, ob er all diese Leute kennen müsste.

Eine Angela Desveaux macht den Anfang. Sie singt ein sprödes Country-Liedchen, das Original stammt von der Band Abouretum. Two Moons schleppt sich, die Slidegitarre klagt ein langes Solo. Ein nettes Stück, aber ein mitreißender Beginn ist das nicht.

Auf der Rückseite singt John Parish mit einer Partnerin Vampiring Again von Califone. Marta Collica heißt die Dame. Die beiden sanften Stimmen passen gut zusammen, das Stück klingt charmant und etwas ländlich. Die Gitarren steigern sich, am Ende geht es hier richtig laut zu.

Aufstehen, Platte wechseln.

Auf jeder Single ist eine andere Pflaumensorte abgebildet, ihre Blätter, ihre Frucht und ihre Kerne. Die zweite Single ziert eine rot leuchtende Pflaume, ob es hier etwas feuriger zugeht? Nun kommen die auf der ersten Single Nachgespielten zum Zug. Arbouretum singen Bus Stop von Thalia Zedek, ein schunkelndes Rocklied mit schrammeligen Gitarren. Feuriger ist das, ja.

Eine der ersten Bands des Alternative Country war Freakwater aus Kentucky. In den vergangenen zwölf Jahren veröffentlichte das Duo sechs Alben bei Thrill Jockey, auf Plum werden sie gleich dreimal nachgespielt. Den ersten Versuch unternehmen Califone, sie tragen auf der Rückseite Jewel vor, mehrstimmig, akustisch, blechern.

Aufstehen, Platte wechseln.

Und wieder Califone. The Sea & Cake aus Chicago spielen deren Spider’s House in ganz untypischem Klang. Die Blechbläser tönen, sie zerwirbeln die für Califone so typische glatte Oberfläche. Im Jahr 1995 war Thrill Jockey von New York nach Chicago umgezogen, wegen der Steuern und der Miete, heißt es. Das Label hat den Klang Chicagos geprägt, Ende der Neunziger erblühte hier der sogenannte Post-Rock. Bands wie Tortoise und The Sea & Cake brachen die üblichen Rock-Strukturen auf und fügten ihm ein paar Bluenotes hinzu. Viele Jazzkapellen versuchten sich nun als Rocker.

Auf der Rückseite der dritten Single sind The Zincs zu hören. Jim Elkington, der Gitarrist der Band Sophia, hat zuhause mithilfe eines Schlagzeugcomputers, eines Keyboards und einer Gitarre Howe Gelbs Blue Marble Girl aufgenommen. Welch reizvolle Kargheit. Sie erinnert an die Schlafzimmerlieder der Band Casiotone For The Painfully Alone.

Aufstehen, Platte wechseln.

Bei aller Liebe zur Gestaltung, diese Zusammenstellung anzuhören ist reichlich umständlich. Hätte man nicht eine CD beilegen können? Die könnte man dann anhören, und die Plaumenkiste machte sich gut im Plattenschrank.

Es folgt die gemeine Hauspflaume. Vorn singen Tortoise das Lied Fallslake von Nobukazu Takemura. Die Stimme ist verzerrt, ein bisschen wie bei Daft Punk. Der Rest klingt sehr bekannt, ein flirrendes Schlagzeug, eine leicht übersteuerte Orgel, ein lebendiger Bass. Das Stück wäre auch instrumental ganz wunderbar.

Nach kurzer Unterbrechung ist die Gruppe Pullman zu vernehmen, das Zweitprojekt von Tortoises Douglas McCombs. In ihren Händen beginnt Three In The Morning zu Schweben. Keyboards breiten eine Fläche aus, der Bass tut darauf vorsichtige Schritte, die Gitarre spielt ein Solo in Zeitlupe, ihre Töne zersägen den Raum. Von dem verschwurbelten Jazz des Chicago Underground Quartet ist kaum etwas übrig.

Das Konzept von Plum hat auch sein Gutes. Three In The Morning möchte nachhallen und darf das. In den dreißig Sekunden bis Thalia Zedek auf der fünften Single Flat Hand anstimmt, kann es wirken und sich setzen.

Also, Pause. Dann die Platte wechseln.

Auch Thalia Zedeks Beitrag ist im Original von Freakwater, wieder wird mehrstimmig gesungen. Die Country-Klänge halten sich zurück. Post-Rock und Country waren in den vergangenen Jahren die musikalischen Pole des Labels, auch in der Pflaumenwelt liegen sie weit auseinander. Und das obwohl die personellen Verzweigungen bei Thrill Jockey zahlreich sind.

Eleventh Dream Day bespielen die Rückseite. Douglas McCombs steht am Bass, Janet Beveridge Bean von Freakwater singt im Hintergrund und spielt einen simplen Rhythmus auf dem Schlagzeug. Die Band macht aus der behutsamen Ballade I Like The Name Alice von Sue Garner und Rick Brown ein dröhnendes Rockstück. Douglas McCombs spielte auch beim Original mit.

Aufstehen, Platte wechseln.

Single Nummer sieben, und wieder Freakwater. Diesmal nimmt Bobby Conn sie auseinander. Sein Washed In The Blood ist eine ausgelassene Tanznummer, die Fiddle ist nur noch als Sample im Refrain zu vernehmen. Wenn derart Neues entsteht, macht Plum am meisten Spaß.

Mutig gehen auch Adult auf der Rückseite zu Werke. Ihr Underwater Wave Game – ursprünglich von Pit Er Pat gesungen – ist verdrehter Elektrorock, überkandidelt instrumentiert und kieksend gesungen.

Aufstehen, Platte wechseln.

Karibische Klänge fließen aus dem Lautsprecher. Pit Er Pat aus Chicago tragen nun, unterstützt von sanften Bläsern und einer leiernden Gitarre, Flew Out Of My Window von The Lonesome Organist vor. Das Stück hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, damals war es eine klaustrophobische Nummer, von Jeremy J. Jacobsen auf Gitarre, Xylofon und singender Säge eingespielt. Er jodelte ein bisschen dazu, Pit Er Pat belassen es beim Instrumentalen.

Sue Garner und Rick Brown nahmen sich ein Stück der abgedrehten Japanerinnen OOIOO vor. Es gelingt ihnen, das wilde Getrommel, Gepfeife und Geschrei von UMO noch zu überbieten. Sie verändern nicht viel, allein sie legen eine Schippe drauf. Die Trommeln hallen tief, der Bass grunzt. Sue Garner schnarrt eine Mischung aus Englisch, Japanisch und Fantastisch ins Mikrofon, im Hintergrund quietscht eine Blockflöte.

Hinterher braucht der Hörer eine längere Pause, zwei Minuten mindestens. Dann: Aufstehen, Platte wechseln.

David Byrne macht offensichtlich gern mit bei schrägen Projekten. Kürzlich trug er zu David Shrigleys Worried Noodles bei, nun singt er Thrill Jockey das Geburtstagsständchen. Vor fünf Jahren hatte er hier mit Musikern der Bands Belle & Sebastian und Mogwai einen Soundtrack veröffentlicht. Nun arrangiert er Ex-Guru von den Fiery Furnaces ein bisschen um. Außer der Stimme verändert er nicht viel, ein bisschen schade ist das.

Directions In Music spielen auf der Rückseite Jeff Parkers Toy Boat. In den letzten fünf Jahren hatte Parker zwei luftige Jazz-Alben bei Thrill Jockey veröffentlicht. Hier klingt es nach Tortoise, rockig und jazzig, deren Bundy K. Brown spielt mit. Directions In Music holen den Bass nach vorne und verleihen Toy Boat Schwere.

Aufstehen, Platte wechseln.

Nun dürfen die bereits vielgeehrten Freakwater selbst ran, ihre Version von Passengers der Zincs ist noch spröder als das Original. Catherine Irwin und Janet Beveridge Bean singen zweistimmig und begleiten sich an Gitarre und Mandoline. Es rauscht und knackt, das Stück könnte auch in den zwanziger Jahren in den Appalachen entstanden sein. Gackern da Hühner im Hintergrund? Die Stimmen der beiden Frauen passen ganz herrlich nicht zusammen. Das Lied ist viel zu kurz, am besten hört man es gleich zweimal.

Rund 80 Künstler und Bands haben in den vergangenen fünfzehn Jahren bei Thrill Jockey Platten veröffentlicht, immerhin ein Viertel darf hier gratulieren. Der nächste ist Archer Prewitt, Gitarrist von The Sea & Cake. Er impft The National Trusts Mrs. Turner den Gospel ein. Minutenlang singt er im Chor vom Nice girl, gooo-hoood Girl, Trompete und Saxofon wetteifern, ein bisschen geklatscht wird auch.

Aufstehen, Platte wechseln.

Die zehnte Single. Wieder ist die Verbindung direkt, Mouse On Mars mischen The Sea & Cakes Middlenight neu zusammen, das ist ein bisschen zu anstrengend. Auf der Rückseite ist Howe Gelb zu hören, er schließt den Kreis. Boxers ist ein Stück von John Parish, ihn hörten wir auf der ersten Single.

Das Knacksen der Auslaufrille hallt noch ein paar Minuten durch die Lautsprecher. Jetzt braucht der Hörer erstmal ein bisschen Ruhe.

„Plum“ ist auf Vinyl bei Thrill Jockey erschienen.

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Wild tanzt die kleine Terz

Im zwanzigsten Stockwerk eines Warschauer Hotels beginnt die Reise des Jazztrompeters Paul Brody, in einem New Yorker Club endet sie. Neben ihm sitzt der erstaunte Béla Bartók.

David Murray Sacred Ground

Langsam wird die Erde abgetragen. Noch sind kaum Wurzeln zu sehen, nur Verästelungen. Die Melodie des Stücks Warzaw balanciert vorsichtig, die Rhythmen sind gebrochen, die Trompete stößt raue Töne aus.

Auf dem Weg nach Warschau las der Trompeter Paul Brody ein Gedicht des polnischen Dichters Czesław Miłosz, er beschreibt darin das Warschauer Ghetto. Im zwanzigsten Stockwerk eines Hotels schrieb Brody in dieser Nacht die Melodie des Stücks Warzaw. Sie ist beeinflusst von den Improvisationen John Coltranes und den Rhythmen Steve Colemans, von Ornette Colemans harmolodischem Konzept, von Béla Bartók und Charles Ives.

Mit dem Stück beginnt Paul Brodys neue CD For The Moment, erschienen bei John Zorns Label Tzadik. Tzadik ist hebräisch und bedeutet Der Wahrhaftige. John Zorn sagt, dass er vor allem an die Integrität seiner Künstler glaube. Auf den Platten bei Tzadik sei die Vision des Künstlers zu hören.

Das Titelstück nahm Paul Brody gemeinsam mit Zorn in New York auf. Brody erzählt, er habe die arabischen Melodien immer bewundert. Sie klängen wie eine lange Reise, eine Wanderung durch Berg und Tal. Schon immer habe er sich Klezmer-Melodien so vorgestellt, wie eine einzige lange Melodie, die nicht mehr aufhört.

Die Klezmer-Musik klinge manchmal traurig, sagt Brody, der Grund sei die kleine Terz. Diese Ähnlichkeit zur Tonleiter des Blues fasziniere ihn. Die Betonung einer Note verändere den Charakter eines Klangs vollkommen, wie ein musikalisches Hologramm. For The Moment erinnert an einen wilden Tanz, weniger an eine Reise durch beschauliche Landschaften. Die Traurigkeit der kleinen Terz klingt deutlicher in Pure As A Teardrop, einer flüsternden Melodie mit dem Sprechgesang Michael Alperts.

Seine Beschäftigung mit jüdischer Musik führte Paul Brody zu Béla Bartók. Der ungarische Komponist besuchte Dörfer und kleine Städte in den Bergen, um die alten Melodien aufzuschreiben. Ihm ist das Stück Bartoki gewidmet. Es beginnt tänzerisch, Christian Dawids Klarinette wird bald von Brodys Trompete übertönt. Schließlich entladen sich blecherne Bass-Rhythmen. Es klingt, als trete Bartók auf in einem New York Club. Der Komponist wäre sicher erstaunt.

Der elektrisch verzerrte Bass Martin Lillichs prägt die Stimmung vieler Stücke, sie erinnert an die Steelguitar Mark Ribots und den New Yorker Downtown-Sound der neunziger Jahre.

Überall begegnen Paul Brody Geschichten, er schreibt sie auf und macht Lieder aus ihnen. Und so werden die uralten, fast vergessenen Wurzeln sichtbar und treiben wieder aus.

„For The Moment“ von Paul Brody ist bei Tzadik erschienen.

Lesen Sie im Interview, was Paul Brody zum Jüdischen im Jazz und in seiner persönlichen Geschichte erzählt »

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Eintauchen, dann ausatmen

In den vergangenen Jahren beschallte der Däne Raz Ohara die Berliner Clubs mit harten Rhythmen. Sein neues Album mit dem Odd Orchestra kommt behutsamer daher, gefällig gar.

Raz Ohara

Es gibt so viele Geschichten über Raz Ohara. Im Alter von 18 Jahren kam er aus Dänemark nach Berlin, erwanderte sich lebenshungrig die Stadt und ihre Menschen und bezog ein Zimmer über einem Jazz-Club. Er scharte Musiker um sich, spielte mit ihnen. Er verlor sie wieder, weil sie starben oder verrückt wurden. Raz Ohara ist ein Künstler, und so erzählt man über ihn.

Zwei Alben nahm er für das Label Kitty-Yo auf. Das zweite, The Last Legend, entstand im Jahr 2001. Kurz zuvor war sein Vater, ein Seemann, ertrunken. Raz Ohara entdeckte nun die Clubszene Berlins und begann, Techno-Konzerte zu geben. Er veröffentlichte unzählige Maxis. Im vergangenen Jahr reiste er mit dem Elektronik-Musiker Apparat um die Welt.

Sein neues Album nahm er mit Orchester auf, wenn auch nur mit einem ganz kleinen. Oliver Doerell ist das Odd Orchestra, bislang arbeitete er mit dem Ambient-Projekt Dictaphone. Ohara und Doerell schickten sich im vergangenen Jahr Musikfragmente hin und her und bastelten daraus schließlich in einem kleinen Berliner Studio ein Album. Zeitweise hauste Ohara zwischen den Gerätschaften.

Das Album trägt keinen Titel, auf der Hülle steht einfach nur Raz Ohara And The Odd Orchestra. Im Mittelpunkt der elf gefühlvollen Elektropopstücke steht Oharas Stimme. Kürzlich verfeinerte sie das Album Walls von Apparat. Diese Stimme kommt einem nah. Sie klingt, als singe Ohara mit großen, offenen Augen. Auf den älteren Platten fiel sein lautes, hektisches Einatmen auf, das hat er sich fast abgewöhnt. Stattdessen hört man nun beseeltes Ausatmen.

Den Gesang umgeben Klavier, Streicher, Gitarre und Rhythmen, die erzählen eigene Geschichten. Alles hier klingt gelassen, ja gefällig. Man kann in diese Musik eintauchen, man kann es ebenso gut lassen. Am Ende der Lieder stehen weder Ausrufe- noch Fragezeichen. Sie sind einfach da, drängen sich nicht auf und überfordern den Hörer nicht.

Erschienen ist das Album bei dem Berliner Technolabel Get Physical, offensichtlich orientiert man sich dort neu. In seiner Pressemappe stellt die Plattenfirma Raz Ohara als einen entrückten Künstler vor. Er spricht bedeutungsschwere Sätze und lässt den Blick schweifen. Das steht ihm gut. Raz Ohara passt zu seiner Musik. Diese behutsamen, hübschen Poplieder könnten vielen gefallen.

Das unbetitelte Album von Raz Ohara And The Odd Orchestra ist erschienen bei Get Physical Music/Rough Trade.

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Hhhmm, Beutelrattenfleisch!

Über die Jahre (31): Neil Young begleitete 1996 den fiebrigen Westernstreifen „Dead Man“ an Gitarre, Harmonium und verstimmtem Klavier. Auf CD wird das zu einem Film für die Ohren.

Neil Young Dead Man

Man spricht über die Filme des Amerikaners Jim Jarmusch. Namhafte Schauspieler stehen Schlange, um zu geringen Gagen in seinen Filmen aufzutreten. Seine Bilderwelten und Geschichten strotzen vor Lakonie und Eigensinn, abgründiger Humor trifft auf erzählerischen Tiefgang.

Wie vielen anderen guten Regisseuren liegt Jarmusch die musikalische Begleitung seiner Filme am Herzen. Sein Kollege David Lynch arbeitet immer mit Angelo Badalamenti zusammen, Jarmusch sucht sich immer neue Komponisten. Der Jazzmusiker John Lurie half ihm bei Stranger Than Paradise und Mystery Train, Tom Waits’ Klänge unterlegten Night On Earth und der HipHopper RZA war bei Ghost Dog dabei. Bei seinem letzten Film Broken Flowers setzte er die Musik des äthiopischen Jazzers Mulatu Astatke ein.

Im Jahr 1996 erschien Dead Man, ein Film, mit dem sich Jarmusch an ein neues Genre heranwagte, den Western. Seine Vision hatte nichts von John Wayne’scher Cowboy-Romantik, an Zitaten sparte er dennoch nicht. Dead Man war der Fiebertraum einer unwirtlichen Welt, hier ernährte man sich von zähem Beutelrattenfleisch und weichgekochten Bohnen.

Die statischen Bilder des Films erinnern an ein Kammerspiel, dabei beobachtet die Kamera doch zwei Reisende. Das von Johnny Depp gespielte Greenhorn William Blake flieht angeschossen vor ein paar Schurken, der von seinem Stamm verstoßene Indianer Nobody begleitet ihn. Nobody ist überzeugt, dass sein Gefährte der verstorbene englische Dichter William Blake ist. Die Neu-Amerikaner gewinnen gerade den Westen, die amerikanischen Ureinwohner werden verdrängt.

Neil Young begleitet den Film an Gitarre, Harmonium und einem verstimmten Klavier. Die Filmmusik beginnt mit Rauschen. Young reibt die Seiten, ein warmer Wind weht. Die Gitarre setzt verhaltene Töne. Sie wirkt verstört, als suche sie etwas. Erhabenheit erfüllt den Raum, als sie ihr Motiv findet.

Filmkomponisten arbeiten gern mit Leitmotiven, ein Meister des Western-Genres ist der Italiener Ennio Morricone. In Spiel mir das Lied vom Tod ließ er eine Mundharmonika immer wieder eine Tonfolge jammern. Neil Young verließ sich in Dead Man auf den rauen Klang seiner Gitarre. In wenigen Akkorden kann sie den ganzen Film erklären. Sie spielt in schier endlosen Weiten, niemals introvertiert, immer erzählend. Es gibt keine Lieder im herkömmlichen Sinn, kein Schlagzeug. Und auch Neil Youngs berühmtes Nölen ist verstummt.

Er improvisierte die Musik zu mehreren Vorführungen des Streifens, selten war Filmmusik so minimalistisch. Auf der CD hört man zusätzlich Dialogfetzen, Szenengeräusche und ein Gedicht des echten William Blake, vorgetragen von Johnny Depp. Es zirpen die Grillen, Stimmen kommen und verschwinden. Als Teil des Films bildet die Musik einen Subtext, auf CD entsteht ein ganz eigener Hörfilm. Und den sollte man unter Kopfhörern genießen.

„Dead Man“ von Neil Young ist im Jahr 1996 als CD und Doppel-LP bei Vapor Records/Warner Music erschienen.

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Brüll drei Worte zum Pogo

Über die Jahre (30): Anfang der achtziger Jahre brachte die schottische Band The Exploited den Irokesenschnitt in den Punk. Ihr Album „Troops Of Tomorrow“ vertonte die Wut einer Generation

The Exploited Troops Of Tomorrow

Wenn Wattie Buchan gerade keinen seiner Texte brüllt, kümmert er sich um sein Piercing in der Unterlippe. Seine Zunge tastet und richtet, was er da tut, weiß man nicht. Immer wieder spuckt er auf den Boden, sein Irokesenschnitt leuchtet rot. Seine Band The Exploited knüppelt sich derweil durch die Stücke. Die Aufpasser vor der Bühne in Hannovers Scum-Club interessiert das alles nicht, sie starren böse in die Menge. Da nur ein paar Millimeter Platz zwischen ihnen und dem Publikum sind, wippen die Besucher zögerlich mit den Füßen, keiner wagt den Pogo. Erst als Wattie Buchan die Aufpasser an die Seite schickt, wird wild getanzt. Beim letzten Stück stürmen ein paar Leute auf die Bühne und schreien ins Mikrofon. Den Text von Sex And Violence können sie alle auswendig, er besteht nur aus drei Wörtern.

The Exploited haben sich im Jahr 1980 in Edinburgh gegründet, sie gehören zur zweiten Generation des britischen Punk. Im folgenden Jahr veröffentlichen der Sänger Wattie Buchan, der Gitarrist John Duncan, der Bassist Gary McCormack und der Schlagzeuger Andrew Campbell ihr Debütalbum Punk’s Not Dead. Es klingt hart, schnell und wütend. Anders als die Sex Pistols, The Clash und viele andere Bands der ersten Punk-Generation haben The Exploited nichts mit Mode und Kunsthochschulen zu tun – sie kommen von der rauen Straße.

Im Jahr 1982 erscheint das zweite Studio-Album, Troops Of Tomorrow. Es gilt als eine ihrer wichtigsten Veröffentlichungen. Professioneller produziert als das Debüt, ausgereifter und dennoch ungeschliffen, transportiert es die Wut junger Menschen aus der Arbeiterklasse. Es spiegelt die politische Situation im Großbritannien der Thatcher-Ära, thematisiert den Kalten Krieg und die hohe Arbeitslosigkeit. Eine Vertonung dieser Zeit, ein Wutausbruch eines Milieus, das dafür keine klügeren Worte fand oder finden wollte.

So aggressiv die Musik und der Gesang sind, so simpel sind viele der Texte, nicht nur auf diesem Album. Die gebrüllten Worte sind kaum verstehen, die Botschaften kommen meist trotzdem an. Mit seinem harten schottischen Akzent schreit Wattie Buchan gegen den Kapitalismus und die Obrigkeitshörigen, gegen die Armee und den Falkland-Krieg. Die damalige Premierministerin Margaret Thatcher nennt er eine „fucking cunt“, er schimpft auf die Polizei und die USA. Im Lied Alternative befindet er, die Armee sei keine Alternative zur Arbeitslosigkeit – als ehemaliger Berufssoldat spricht er aus Erfahrung. Das Titelstück ist eine Coverversion der britischen Punk-Band The Vibrators. Andrew Campbell verlässt The Exploited vor den Aufnahmen, auch seine Nachfolger Danny Heatley und Steve Roberts trommeln nur für kurze Zeit. Auf dem folgenden Album ist von der ursprünglichen Besetzung nur noch Wattie Buchan übrig: Er wurde zum Kern der Band. Über die Jahre kommen und gehen viele Musiker, der raue Klang bleibt.

Die Nietenlederjacken und das Logo der Band – ein brüllender Totenschädel mit Irokesenschnitt – prägen die Szene. Es heißt, The Exploited brachten eine neue Frisur in den Punk. Dennoch sind sie in den meisten Abhandlungen über das Genre nur eine Randnotiz. Sie sind umstritten, zu stumpf das Auftreten, die Musik zu nah an Oi! und dem Arbeiterklassen-Mob. Vielen Punks klingen ihre Alben zu sehr nach Metal.

Wattie Buchan sagt stets, man solle für sich einstehen und für das, woran man glaubt. In seinem Fall sind das Punk, Anarchie und Chaos. Noch heute ist er ein Rüpel mit einer Vorliebe für Schimpfwörter und ohne Sinn fürs politische Korrekte. Man muss das nicht mögen. Aber Exploited sind eben Exploited: Ihre Lieder sind eingängig, stumpf – und manchmal richtig gut.

„Troops Of Tomorrow“ von The Exploited ist im Jahr 1982 erschienen und über Captain Oi! erhältlich.

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Das milde Lächeln Miesepeters

Im Greyhound-Bus fuhr Raymond Raposa durch Amerika und nahm seine Lieder auf. Als Castanets hat er sie nun in ein Album gefügt, das wie ein zerkratzter Monolith in karger Landschaft steht.

Castanets In The Vines

Vermutlich täuscht der erste Eindruck. Bestimmt ist der rauschebärtige Finsterling Raymond Raposa ein echter Witzbold. Ein lustiger Geselle, der seine dunkle Seite in einem feuchten Kellerstudio auslebt und dort Platten aufnimmt. Castanets nennt er sich dann, In The Vines heißt sein neuestes Werk.

Raposa brach im Alter von 15 Jahren die Schule ab, tauschte sein Surfbrett gegen die akustische Gitarre und verließ seine kalifornische Heimatstadt San Diego. In Greyhound-Bussen fuhr er vier Jahre lang kreuz und quer durch die USA. Während dieser Zeit entstand sein musikalisches Alter Ego Castanets, unterwegs nahm er mit sparsamen technischen Mitteln Lieder auf und brannte sie auf CD.

Schließlich wurde Sufjan Stevens auf Castanets aufmerksam. Im Jahr 2004 veröffentlichte er Raposas Debüt Cathedral auf seinem Label Asthmatic Kitty, später dann das zweite Album First Light’s Freeze. Um Asthmatic Kitty tummeln sich auch andere seltsame Gestalten, wie die Neo-Progressiv-Rocker The Curtains und die spröde Sängerin Liz Janes. Man hilft sich gegenseitig aus; wenn Raymond Raposa ein Album aufnimmt oder auf Tour geht, ist auch Liz Janes oft dabei. Auf der aktuellen Single Strong Animal ist sie neben Sufjan Stevens im Chor zu hören. So gut können Synergien klingen.

Raposa verbindet ganz unterschiedliche Stilelemente. Der Delta-Blues Charley Pattons hat ihn beeinflusst, sagt er. Ebenso die beklemmenden Aufnahmen des im Jahr 2000 verstorbenen Hip-Hoppers DJ Screw.

Beklemmend klingt auch In The Vines an manchen Stellen. Wie ein zerkratzter Monolith steht es in karger Landschaft. Das eröffnende Rain Will Come verheißt nichts Gutes. Raposas Stimme hallt, als stünde er in einem riesigen Saal, knarzig singt er davon, dass wir das Ende dieses Stücks schon kennen. Fiepsende Störgeräusche und Rückkopplungen setzen ein und drehen seiner akustischen Gitarre den Hals um. Ohne Unterbrechung schließt This Is The Early Game an. Und plötzlich nimmt man erleichtert zur Kenntnis, dass der Miesepeter wohl ein mildes Lächeln im Gesicht trägt, während die Slide-Gitarre sanft wimmert.

Von solchen Kontrasten leben Raposas Alben. Die düster dräuenden Wolken werden hin und wieder von schüchternen Sonnenstrahlen durchbrochen. Sodass es am Ende doch scheint, als sei die Welt eigentlich gut.

„In The Vines“ von Castanets ist als LP und CD bei Asthmatic Kitty/Cargo erschienen.

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Opulenz zum Quadrat

Konstantin Gropper alias Get Well Soon hat in Mannheim Popmusikdesign studiert. Sein erstes Album ist trotzdem gut, bunt und schwelgerisch.

Rest Now Weary Head You Will Get Well Soon

Einst hatte Mannheim Goethe, Schiller und Mozart. Heute sind Jule Neigel, Joy Flemming und Xavier Naidoo geblieben. Hier fließt der Neckar in den Rhein, von der Nachbarstadt Ludwigshafen aus stinkt die BASF herüber. Die Innenstadt ist quadratisch angelegt, man wohnt in H7, Q4 oder L9.

In Mannheim kann man seit vier Jahren Musikbusiness und Popmusikdesign studieren. An der Popakademie Baden-Württemberg lehren Heinz Rudolf Kunze, der ehemalige Chef von Universal Music, Tim Renner, sowie Mitglieder der Söhne Mannheims und der Fantastischen Vier. Den großen Durchbruch hat noch keiner der Akademiker geschafft. Ist das so schlimm? Es gibt wahrlich genug Popmusik mit Design.

Konstantin Gropper ist Mitte 20 und hat kürzlich das Studium in Mannheim abgeschlossen. Ihm wünscht man den großen Erfolg. Unter dem Namen Get Well Soon hat er sein Debütalbum Rest Now, Weary Head! aufgenommen. Ein Musterstudent kann er nicht gewesen sein: Was hier zu hören ist, klingt wenig quadratisch, nicht glatt und schon gar nicht konstruiert. Die Pressemitteilung zur Platte sagt nichts über einen Bachelor-Abschluss. Hingegen raunt sie von seiner oberschwäbischen Herkunft und seinem Umzug nach Berlin, von seiner frühen Ausbildung an klassischer Gitarre und Cello.

Groppers Album lässt sich leicht ins aktuelle Popgeschehen einordnen. Die traurigen Trompeten Beiruts ertönen hier (You/Aurora/You/Seaside), der schwere Folk von Bright Eyes dort (Christmas In Adventure Parks). Wie seine Kollegen nimmt Konstantin Gropper die Lieder meist allein auf und holt sich nur für Auftritte Hilfe. Auch er trägt den Scheitel streng. Er kleidet die getragenen Melodien in opulente Gewänder aus britischem Pop. So mischt sich Leichtigkeit unter Schwermut, das Überkandidelte verschwimmt in Tränen.

Seine Kompositionen sind klar, doch nicht berechnend. Immer wieder schlägt Gropper Haken, tauscht die Mittel des Pop gegen die der klassischen Musik. Das Album beginnt mit dem Prelude und endet 60 Minuten später mit der Coda.

Und wie beim klassischen Orchester klingen auf der Platte derart viele Instrumente und Stimmen, dass es acht Leute braucht, solch ein Dröhnen auf die Bühne zu bringen. Glockenspiel, Banjo, Akkordeon, Trompete, Geige, Klavier, Gitarre, Bass und Schlagzeug – aus den Lautsprechern quillt eine wahre Lust am pastösen Farbspiel. Manchmal kippt die Opulenz in den Kitsch, Help To Prevent Forest-Fires ist weniger elegisch als schmierig, Witches! Witches! Rest Now In The Fire geht unter in süßlichen Chören und jubilierenden Streichern. Der hineingeschaukelte Walzer ist eine Strapaze.

Den Erstsemesterkurs „Texten in deutscher Sprache“ bei Herrn Naidoo hat Gropper offenbar geschwänzt, er singt Englisch, ein gutes dazu. Er erzählt davon, dass man in Alaska keine Kühlschränke brauche und davon, dass das Leben sowieso keine Zukunft habe. Alles ohne erzwungene Reime. Aus Titeln wie I Sold My Hands For Food So Please Feed Me und Ticktack! Goes My Automatic Heart sprüht ein feiner Humor.

Gerade dieses Ticktack! Goes My Automatic Heart fällt durch seine Kargheit auf. Gropper singt zur Gitarre, begleitet von seinem eigenen „Oohh-oohh-oohh-oohh“ und elektronischem Zirpen. Ebenso Born Slippy Nuxx, die Coverversion des Techno-Hits von Underworld aus dem Jahr 1996. Der verschleppte Rhythmus und das sanft gestrichene Cello müssen keine Tanzfläche füllen.

Konstantin Gropper mag Stanley Kubricks Werke, das kann man auf seiner Internetseite nachlesen. Ein bisschen so wie dessen Filmkunst ist auch Rest Now, Weary Head!. Bunt und schwelgerisch, ein Genuss, den man am besten fassen kann, wenn man den Kopf abschaltet und sich berauschen lässt.

„Rest Now, Weary Head!“ von Get Well Soon ist als LP und CD bei City Slang erschienen.

„Papa was a Musiklehrer“ – hier geht’s zu Konstantin Groppers Porträt beim ZEIT ZUENDER »

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