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Ein schwarzer Amerikaner in Paris

Im selbstgewählten Exil schreit David Murray den Blues heraus, sein Saxofon ist die Tonspur des Unrechts. Und Cassandra Wilson singt dazu.

David Murray Sacred Ground

In diesem Jahr wurde beim Sundance Film Festival der afro-amerikanische Regisseur Marco Williams für seinen Dokumentarfilm Banished ausgezeichnet. Er war tief in den Süden der USA gereist, nach Missouri und Arkansas, und hatte dort weiße Gegenden besucht, Pierce City, Harrison oder Forsyth County. Sie entstanden in der Zeit von 1890 bis 1930, zwischen Bürgerkrieg und Großer Depression. Tausende schwarzer Familien mussten ihre Häuser verlassen und fliehen. „Geh oder stirb“ war das Motto dieser Vertreibung.

Der Saxofonist David Murray hatte die Musik zu diesem Film komponiert. Er blieb am Thema und bat den afro-amerikanischen Dichter Ishmael Reed um zwei Liedtexte für Cassandra Wilson, die aus dem Süden stammt und schon in der preisgekrönten Komposition Blood On The Fields von Wynton Marsalis die Hauptpartie gesungen hat. Auf einem Youtube-Videoclip ist zu sehen, wie sie ins Studio kommt und den Song am Klavier probiert. Ein anderes Video zeigt sie bei der Aufnahme. Es gibt auch eine Clip mit Ishmael Reed, der den Text spricht, begleitet von David Murray am Klavier.

David Murray war zwanzig, als er 1975 nach New York kam. Er spielte in der New Yorker Loftszene mit Cecil Taylor und Anthony Braxton und ging zwei Jahre später in Europa auf Tournee. 1978 machte er seine ersten Aufnahmen für das italienische Black Saint Label und gründete das Black Saint Quartet. In dieser Besetzung hat er jetzt das Album Sacred Ground aufgenommen, mit dem jungen Pianisten Lafayette Gilchrist an der Stelle des verstorbenen John Hicks.

Das Cover zeigt Murray mit seiner Bassklarinette. Aus seinem Rücken wachsen Wurzeln, die sich in der dunklen Erde verankern. Auf der Suche nach dem schwarzen Erbe, das ihn zuletzt bis zu den westindischen Inseln und in den Senegal geführt hatte, ist er jetzt zu seinen afro-amerikanischen Wurzeln zurückgekehrt: zum Blues als der Tonspur von Leid und Vertreibung.

David Murray lebt in Paris. Zu seinen seltenen Auftritten in New York kommt ein schwarzes Publikum, sehr unüblich für Jazzkonzerte in den Uptown Clubs von Manhattan. Man schätzt es, wie soziales Engagement und das Erbe des Jazz in seiner Musik mitschwingen.

Bei allem Geschichtsbewusstsein möchte Murray doch die Zeit nicht zurückdrehen. Der Jazz von gestern kann nicht der von heute oder morgen sein, das sieht er anders als mancher Weggefährte. Die Behauptung des Saxofonisten Wynton Marsalis, Murray könne gar nicht spielen, hat ihn trotz seiner mehr als zweihundert Aufnahmen getroffen.

Auf Sacred Ground spielt er wirbelnde Töne. Blueshaltig und klangmächtig, mit multiphonen Schreien und Überblasungen, an Coleman Hawkins, Ben Webster und Pharoah Sanders erinnernd. Wie besessen klingt Murrays Klage über das Leiden, das Unrecht, die Ohnmacht. Eine Linie, die sich fortsetzt bis zu ihm, bis heute.

„Sacred Ground“ von David Murray und Cassandra Wilson ist bei Sunny Moon erschienen.

David Murray auf Tour in Deutschland:
09. 11. 2007 Jazzforum, Bayreuth
11. 11. 2007 Festival Jazz-Transfer, Saarbrücken
14. 11. 2007 Stadthalle, Dinslaken
15. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
16. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
17. 11. 2007 Radialsystem, Berlin
18. 11. 2007 Sendesaal Radio Bremen

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Drei Seiten einer Oper

Robert Wyatt von Soft Machine denkt in Schallplattenlänge. Kein Akt seiner „Comicopera“ ist länger als 20 Minuten, keiner klingt wie der andere.

Robert Wyatt Comicopera

Robert Wyatt auf einen Stil festzulegen ist unmöglich. Mal spielt er Pop, mal Jazz, mal Folk, meist alles auf einmal. Auch sein neues Album Comicopera lebt vom Facettenreichtum des Musikers, der seit einem Sturz aus dem dritten Stock im Jahr 1973 an den Rollstuhl gefesselt ist. Wie eine wirkliche Oper ist das Album in drei – musikalisch und thematisch allerdings vollkommen unterschiedliche – Akte unterteilt, jeder hat die Länge einer Schallplattenseite. Das sei die zeitliche Einheit, in der er musikalisch denken und planen könne, sagt er. So sei auch seine erste lange Komposition entstanden, Moon In June auf dem dritten Album seiner ehemaligen Band Soft Machine. Länger ginge nicht.

Der erste Akt heißt Lost In Noise, obwohl er recht zugänglich und gar nicht krachig ist. Er beginnt mit Stay Tuned, einem Stück geschrieben von Anja Garbarek. Robert Wyatt ist ein Meister der Coverversion. Er hat die Fähigkeit, fremde Stücke – sei es Biko von Peter Gabriel oder At Last I Am Free von Chic – so zu interpretieren, dass sie wie für ihn geschrieben klingen. In diesem Fall ist das Arrangement üppiger als das des Originals. Er lässt gar eine Sopranistin Vokalisen singen. Mehr Oper gibt es nicht auf diesem Album.

Das Instrument, mit dem Wyatt sich fremde Stücke zu eigen macht, ist seine traurige Stimme. Sie verleiht auch einfachen Stücken Tiefe. Bei A.W.O.L ist das so, es ist eines von vier Stücken, das seine Lebensgefährtin Alfreda Benge für ihn schrieb. Es handelt von einer Frau, die ihren Mann verloren hat. Wyatts Stimme kommuniziert die Einsamkeit und Verlorenheit der Frau so eindringlich, dass man weinen möchte. Gleichzeitig spendet seine Stimme Trost wie kaum eine zweite. Berührend ist auch das autobiografische Stück Just As You Are, eine Auseinandersetzung mit seiner überwundenen Alkohol-Krankheit. Er singt von den Lügen, die er Alfreda Benge in dieser Zeit erzählte, und davon, dass sie sich um das einzige betrogen fühlte, was sie von ihrer Beziehung verlangte, um die intelligente Unterhaltung. Monica Vasconcelos singt in dem Duett Benges Stimme. Das Stück stimmt traurig. Kennt man den biografischen Hintergrund nicht, funktioniert es als einfaches Liebeslied.

Im zweiten Akt The Here And The Now mischt sich das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen. Wir hören Wyatt, den Zweifler. Be Serious – Paul Weller steuert hier eine beschwingte Jazz-Gitarre bei – beneidet die Muslime, Christen, Hindus und Juden um die Sicherheit, die ihnen ihre Religion bietet. „It must be great to be so sure.“ Robert Wyatt ist Atheist.

Manchmal klingt er wie ein Verzweifelnder. Garcia Lorcas Cancion De Julieta ist das zentrale Stück des letzten Aktes Away With The Fairies, es ist ein Jazz-Trauermarsch voller sirrender Streicher und sanft geschlagener Hi-Hats. On The Town Square ist eine Feier des Kollektivismus – eine instrumentale Calypso-Nummer mit Saxofon-Solo.

Ein anderes instrumentales Stück auf dem neuen Album heißt Anachronist. Wyatt trägt diesen Titel schon seit Jahren wie eine Auszeichnung. Er trat der kommunistischen Partei Englands bei, als die kommunistischen Regime in Europa zusammenbrachen, als Geste des Danks. Mit der kubanischen Revolutionshymne Hasta Siempre Commandante erweist er am Ende des Albums Ché Guevara Tribut, er habe seiner Generation Hoffnung gegeben. Das beschwingte Latino-Jazz-Klavier nimmt sich dissonante Freiheiten heraus, die Perkussion torkelt. Die Utopie des Stücks ist ins Wanken geraten, aber es ist alles, was geblieben ist. Es endet mit sehnsuchtsvoll hauchenden Frauenstimmen und einem an Evan Parker erinnernden Solo. Das ist der Klang der Freiheit – oder zumindest der freien Improvisation.

Das bringt uns zu Wyatt, dem Jazz-Musiker. Robert Wyatt war bis zu seinem Unfall Schlagzeuger und Sänger bei Soft Machine, aktiv an den beiden musikalischen Polen der Band, Jazz und Pop. In Mob Rule und Out Of The Blue klingen jazzige Skalen, als seien sie falsch gestimmt. Mob Rule ist skizzenhaft – eine weitere seiner Stärken – Out Of The Blue ein tumultöses, kakophones Meisterwerk. Ein Arrangement aus Stimmsamples, Bläsersätzen und Keyboard-Stichen, überragt von Wyatts ungewöhnlich insistierendem Gesang.

In einem ist Comicopera wie eine richtige Oper: in seiner Emotionalität. Verwirrung und Verzweiflung, Hilflosigkeit und Einsamkeit, aber auch Hoffnung, Sehnsucht, Trost und Freude, es ist alles da.

„Comicopera“ von Robert Wyatt ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Domino Records.

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Vier aufs Kopfsteinpflaster

Das kanadische Trio Cobblestone Jazz bringt dem Techno warme Klänge – und endlich wieder improvisatorischen Esprit nach Berlin.

23 Seconds Cobblestone Jazz

Am Anfang ist der Odem der Maschinen. Ein Stöhnen wie aus zeitlosen Ursphären haucht aus dem Vocoder im Eröffnungsstück The Waiting Room. Es führt ein in eine Welt analoger Vierviertelschläge und organisch brummelnder Elektronik. 23 Seconds heißt das Debüt des kanadischen Trios Cobblestone Jazz, der Titel betont nicht ohne Grund die Emphase des Augenblicks inmitten der sich ewig schlängelnden Technovibrationen.

Einer der drei Kanadier, Danuel Tate, ist studierter Pianist und spielt seit seiner Jugend in Jazzbands. Fern der Fertigmuster aus dem Kochstudio der Computerklänge vereinfacht er mit seinem Keyboardspiel die komplexen Harmonien des Jazz zu springlebendig hüpfenden Elektrohymnen. Das Stück Lime In Da Coconut ist so ein Knaller, gebaut aus einer einzigen Melodie, um die herum er variiert und phrasiert, bis einem auch ohne Diskokugel die Lichter vor den Augen tanzen. Die beiden anderen im Bunde sind der DJ und Produzent Tyger Dhulas und der Technostar Mathew Jonson.

Die Unberechenbarkeit museumsreifer Drumcomputer gibt bei Cobblestone Jazz den Ton an. Sie haben einen Hang zu den schönsten Traditionen der elektronischen Musik und verstehen sich aufs Einfache im Überschwang der technischen Möglichkeiten. In 23 Sekunden kann viel passieren, vielleicht ist das die Botschaft des Albumtitels.

Schon bei der fast 15 Jahre zurückliegenden Kooperation mit Juan Atkins und Moritz von Oswald für die Platte Jazz Is The Teacher forschte Mathew Jonson an der Improvisationsfähigkeit der Technomusik. Nun steht wieder Berlin im Fokus des transatlantischen Austauschs, hier befinden sich das Studio von Cobblestone Jazz und Jonsons Wohnsitz.

Wenig spektakulär, doch umso ergreifender knatschen gemütliche Basssynkopen aus den alten Synthesizern, mit dem Track W erobern sie gerade die Clubs weltweit. In einem Dreieck aus Jazz, House und Techno krabbeln die sparsamen musikalischen Ideen wie elektrifizierte Ameisen hin und her, immer wieder aufgescheucht durch Vocoder im Dauereinsatz. Im Morphing der Echos und Klangverschiebungen transzendiert diese Beweglichkeit in ein unaufgeregtes Fließen und Schweben, feenartig verzerrt umwehen klassische House-Chöre und künstliche Streicher das wummernde Beatgerüst. Trance nannte sich diese atmosphärisch suggestive Musik einmal, doch Cobblestone Jazz machen keinen Kuschelrock für den Techno-Wühltisch.

Sie sind keine Nesthocker, die – überdrüssig der computerisierten Klangästhetik der letzten zehn Jahre – an den heimischen Ofen zurückwollen. Ihnen ist die analoge Produktionsweise ein musikalisches Ziel, dem sie in der Improvisation nachgehen. Ungehemmt darf sich der Hörer den eigenen Vorstellungen hingeben, wie die vier satten Grundschläge des Techno auf das alte Kopfsteinpflaster vor der Jazzbar trommeln, bevor sie den Clubtanzboden erreichen.

23 Seconds ist ein Doppelalbum, das ist keineswegs vermessen. Unwiderstehlich toben auf der zweiten CD die beiden Vorjahreshits India In Me und Dump Truck, kontrapunktisch zu einer 40 Minuten langen, einem Jazz-Konzert gleichenden Live-Aufnahme.

„23 Seconds“ von Cobblestone Jazz ist als Doppel-CD und Dreifach-LP erschienen bei !K7/Wagonrepair.

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Komposition 119m

Beim Jazzfestival in Willisau nahm der amerikanische Saxofonist Anthony Braxton ein neues Solo-Album auf. Seine wundersame Musik erzählt von den Widersprüchen des Lebens.

Anthony Braxton Solo Willisau

Der afroamerikanische Altsaxofonist Anthony Braxton pflegt eine innige Beziehung zu Deutschland. Seine Karriere begann vor 30 Jahren beim Jazzfestival in Moers, er bewundert Bach und Beethoven. Karlheinz Stockhausen sei neben Iannis Xenakis, John Coltrane und Sun Ra eines seiner Vorbilder, erzählt er. Er habe ihm vor Augen geführt, dass man bis ins hohe Alter unabhängig musizieren könne.

Anthony Braxton ist 62 Jahre alt. In den vergangenen 30 Jahren hat er eine eigene musikalische Sprache entwickelt, einen ehrlichen künstlerischen Ausdruck. Braxton begreift sich als professionellen Musikstudenten, als jemand, der sein Leben lang lernt. Er setzt sich gerne zwischen die Stühle: Genau genommen, sagt er, sei er nicht einmal Jazzmusiker. Sein Werk sei uneindeutig wie sein Leben zwischen schwarzer und weißer Kultur, zwischen Jazz und Klassik, zwischen linker und rechter Politik. Es interessiere ihn, wie die Menschen ihre Hoffnung zurückgewinnen können.

Sein neues Soloalbum wurde im Jahr 2003 beim schweizer Jazzfestival in Willisau mitgeschnitten. Die Kompositionen auf der CD tragen Titel wie 328 c, 191 j und 344 b. Kleine bunte Grafiken stehen neben den Titeln im CD-Heftchen, es gibt keinen erklärenden Text, keine poetische Einleitung. Erstaunlich zurückhaltend mutet das an, zumal für einen Künstler, der im Gespräch über die gedankliche Einheit von Erfahrung, Idee und Transposition referiert.

Neben sieben Eigenkompositionen interpretiert Braxton auf Solo Willisau den Jazzklassiker All The Things You Are von Jerome Kern. Er fällt mit dem Thema ins Haus, insgesamt klingt seine Version fast konventionell angelegt. In der Komposition 119 m spielt er Töne, die an die Melodien und Gesten des Sprechens erinnern, aber unverständlich bleiben.

Das Leben sei befremdend und wunderschön zugleich, sagt Anthony Braxton im Gespräch über sein neues Werk. Genau davon handelt die wundersame Musik auf diesem bezaubernden Album. Man spürt, dass er ein glücklicher Menschen sein muss, weil seine Arbeit immer gebraucht wird. In normalen Zeiten blühe und entwickle sich die Musik, in harten Zeiten umso stärker. Gerade Musik, die jenseits des großen Marktes existiere, sei wichtig für eine demokratische Gesellschaft, sagt Braxton. Die Reiche zerfielen, doch der Mensch entwickele sich weiter. Jetzt aber habe er keine Zeit mehr zu verschwenden, die Arbeit rufe.

„Solo Willisau“ von Anthony Braxton ist bei Intakt Records erschienen.

Cecil Taylor und Anthony Braxton sollten in Italien erstmals im Duo spielen. Als es fast so weit war, kamen die Veranstalter tüchtig ins Schwitzen. Lesen Sie hier die Reportage von Fredi Bossard »

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Klangteppich, himmelwärts

Michaela Melián dreht die Musik auf ihrer zweiten Solo-Platte „Los Angeles“ um einen Rhythmus, der nicht mehr da ist. Aber man vermisst ihn gar nicht.

Michaela Melian Los Angeles

Michaela Melián gehört zur Münchner Band Freiwillige Selbstkontrolle, kurz FSK. Seit den späten Siebzigern haben sie von New Wave über Americana bis Post-Rock eigentlich jedes Genre erkundet, zuletzt nahmen sie ein Album auf mit dem Pionier des Detroit Techno, Anthony Shakir. Der Minimalismus von Velvet Underground hat die Band geprägt: Lieder entstanden aus repetitiven Kürzeln, die Texte waren häufig Auflistungen und wurden kühl vorgetragen. Die Textur war wichtiger als die Dramaturgie. So ist es nicht erstaunlich, dass Michaela Melián nun beim minimalen Techno angelangt ist.

Los Angeles ist ihr zweites Soloalbum, das erste hieß vor drei Jahren Baden-Baden. Beide Alben schließen mit einem Stück von Roxy Music. Auch diese Band war für FSK immer eine wichtig, sie liebte das Künstliche. Ihr ambivalenter Vortrag machte es schwer, zwischen Ironie und Affirmation zu unterscheiden. Der spätere Erfinder der Ambient-Musik, Brian Eno, war anfangs Mitglied von Roxy Music.

Melián interpretiert nach A Song For Europe nun Manifesto, zum zweiten Mal ein Stück aus der Zeit nach Brian Eno. Manifesto erschien im Jahr 1979, Eno steckte zu der Zeit mitten in seinem Ambient-Projekt, Roxy Music erreichten gerade ihre Hochglanz-Pop-Phase, die so einflussreich in den Achtzigern werden sollte. In ihrer Version führt Melián die späten Roxy Music wieder mit Eno zusammen. Die seltsamen Klänge der Synthesizer und die Streicher-Arabesken erinnern an das Experimentelle, das mit Eno aus dem Klang der Band verschwand.

Die Musik von Michaela Melián lädt zur Spurensuche ein, ihr geht es um Kontexte, Referenzen und Zitate. Sie arbeitet als Künstlerin, in ihren Werken verbindet sie oft Objekt und Klang. Auch die Stücke auf Los Angeles sind für Ausstellungen entstanden. An diese ursprüngliche Verwendung erinnern Namen wie Föhrenwald (ein Hörspiel, das sie für den Bayerischen Rundfunk produzierte) und Locke-Pistole-Kreuz. Zudem basieren alle Stücke auf Samples, die auf die Kunstwerke verweisen, manchmal ist es nur das Knacken einer Platte. Melián lädt den Hörer ein, die Referenzen zu verfolgen.

Er kann es auch lassen und sich einfach in die Musik vertiefen. Meliáns FSK-Kollege Carl Oesterhelt hat wie schon bei Baden-Baden die Elektronik bedient, Melián spielt Cello, Bass, Ukulele, akustische Gitarre, Orgel und Melodica. Sie webt einen Klangteppich voller kleiner Details, der in die Wolken davonzuschweben scheint.

Los Angeles klingt, als sei es um einen stumpfen Techno-Beat herum entstanden, der im letzten Moment wieder entfernt wurde. Um diese Leerstelle drehen sich die Stücke. Oft erwartet man, dass ein harter Rhythmus einsetzt. Beim sechsten Stück Stift tut er es tatsächlich. Man hat ihn nicht vermisst, man möchte ihn jetzt nicht missen. Er ist der Herzschlag, der uns auch dann begleitet, wenn wir ihn nicht wahrnehmen.

„Los Angeles“ von Michaela Melián ist als CD erschienen bei Monika. Zwei Stücke des Albums sind in längeren Versionen auf der Vinylmaxi „Convention Manifesto“ erhältlich.

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Kanadische Schuhgucker

Young Galaxy aus Montréal vermengen Leichtes und Schweres. Ihr Debütalbum erinnert an den britischen Shoegazer-Pop der frühen neunziger Jahre

Young Galaxy

Zweiundzwanzig Jahre ist es her, da gründeten sich die Stone Roses in Manchester. Nach ein paar erfolglosen Singles erschien im Jahr 1989 ihr Debütalbum. Der Sänger Ian Brown und der Gitarrist John Squire waren eine magische Gemeinschaft. Ihre Musik klang wie das fehlende Stück Popmusik zwischen den Byrds und den Sex Pistols. Das Großmaul Brown sang leichte Melodien, im Hintergrund klang es nach der akustischen Version von Black Sabbath. Das Besondere an den Stone Roses war diese nie ganz greifbare Mischung aus psychedelischer Schwere und sorgloser Fröhlichkeit. Beinahe pausenlos hibbelte der Schellenkranz. „I Wanna Be Adored”, schnarzte Ian Brown, und auch die Königin bekam ihr Fett weg: „Tear me apart and boil my bones, I’ll not rest till she’s lost her throne. My aim is true my message is clear, its curtains for you, Elizabeth my dear.”

Der Vorhang fiel bald, jedoch nicht Elizabeths: Nach einem zweiten Album löste sich die Band Mitte der neunziger Jahre auf.
Viele Nachahmer versuchten, ähnlich magische Momente zu erschaffen. Eine ganze Generation britischer Musiker starrte konzertelang versunken auf den Boden. Shoegazer wurden sie genannt, Schuhgucker. Kurz darauf entfesselten Blur und Oasis den Britpop. Sie hatten von den Stone Roses gelernt.

Auch in Kanada erzählen Musiker die Geschichte des britischen Pop, als sei sie ihre eigene. Young Galaxy kommen aus Vancouver, seit einigen Jahren leben die Musiker in Montréal. Ihr Debütalbum ist reich an ergreifenden Momenten und Wiederklängen. Die Lieder sind ruhig und düster; sie klingen, als hätten sie etwas zu verbergen. Der Bass ist weit nach vorne gemischt, dahinter räkelt sich das sanfte Vibrato einer Orgel. Aus dem Dunkel stechen immer wieder überraschende Gesangslinien hervor, manchmal froh, immer harmonisch.

Auf der Albumhülle führt eine Straße zum Horizont, erst auf den zweiten Blick wird sie zu einem Fluss. Ein leichter Wind bewegt das Wasser. Das Bild ist nicht schön, aber es passt zur Musik. Lazy Religion und Swing Your Heartache fließen langsam heran, werfen im Refrain leichte Wellen und entschwinden dann in der Ferne. „It’s time for you and I to face the signs and realize that living’s a battle. For all the times we cried absorbed the lies and realized life is not a rehearsal“, singt eine Männerstimme. Die Melodie ist nicht annähernd so trist wie der Text. Im Refrain stimmt eine Frauenstimme ein, „C’mon babe, swing your heartache“, jemand prügelt auf den Schellenkranz ein.

Eine weitere Parallele zu den Stone Roses: Ein Duo treibt die Band. Stephen Ramsay spielt Gitarre, Catherine McCandles Klavier, den Platz am Mikrofon teilen sie sich. “Als wir begannen, das Album zu machen, wollten wir den großen kosmischen Klang von Spiritualized mit der emotionalen Resonanz von Fleetwood Mac verheiraten”, erklärt sie. „Es sollte klingen wie warme silberne Flammen, die aus den Lautsprechern schießen“, ergänzt er. Zehn weitere Musiker sind auf dem Album zu hören.

Come And See klingt noch, als habe Ian Brown es geschrieben, die akustische Gitarre bestimmt das Tempo, der Gesang hängt etwas nach. In vielen der flotten Stücke klingen andere Bands an. Outside The City ist eine Reminiszenz an den Post-Punk, die verträumte Solo-Gitarre in Wailing Wall klingt nach The Cure. In Embers erinnert Catherine McCandles Stimme an die von Dolores O’Riordan. An dieser Stelle erschöpft sich der Vergleich zu den Stone Roses: Niemals hätte Ian Brown eine Frau an sein Mikrofon gelassen.

Das unbetitelte Debütalbum von Young Galaxy ist als CD und LP erschienen bei Arts & Crafts

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Der Saiten-Fex gibt Bass

Hin und her geht es auf Marcus Millers Album „Free“: Neben prickelnden Jazzstandards und konzisem Funk stehen schlafmütziger Soul und enervierende Bass-Improvisationen

Marcus Miller Free

Natürlich kann man sich bei vielen Alben fragen, warum es sie überhaupt gibt. Was will uns diese Sängerin, jene Band mit ihrem Werk sagen? In der Regel finden sich Hörer, die diese Frage wenigstens für sich beantworten können. Solo-Alben von Schlagzeugern oder Bassisten verlangen nach besonderer Rechtfertigung. Gemeinhin gelten diese Musiker als Protagonisten der Begleitung, solistisches Auftrumpfen wird von ihnen nicht erwartet.

Marcus Miller ist Bassist, Miles Davis entdeckte ihn einst. Ihn scheren solche Vorurteile nicht. Seine CD Free ist rührend altmodisch geraten. Er nahm sich je eine Handvoll eigener und fremder Kompositionen und lud alte Freunde – den Saxofonisten David Sanborn, den Gitarristen Keb’ Mo’ – und neue Freundinnen wie die Soul-Sängerin Corinne Bailey Rae ins Studio ein. Er hatte dort das Sagen, die unterschiedlichen Bassgitarren, das Fender-Rhodes-Piano, die Hammond-Orgel und die Klarinette spielte er selbst. Im CD-Büchlein listet er die eingesetzten Instrumente penibel auf. Die elektrische Bassgitarre hält er für ein Solisten-Instrument wie die Gitarre und das Saxofon, sein Bassspiel verblüfft die Zuhörer mit Virtuosität und mitunter aberwitziger Geschwindigkeit.

Was soll man dagegen einwenden? Aus allen Ecken und Winkeln von Free slappt und poppt es. Marcus Miller wurde groß in einer Jazz-Szene, die vom Funk beeinflusst wurde. Es macht sogar Spaß, den Tricks des Saiten-Fexes zu folgen, immer wieder fragt man sich: Wie hat er das nun wieder gemacht?

Eines stört: Free ist ein Sammelsurium von Stilen. Es ist kein Jazz-Album, auch keine Pop-CD. Es will beides ein wenig sein, aber nicht so richtig. Seine eigenen Kompositionen – wenn man diese Ostinato-Abhandlungen so nennen will – basieren auf einem mehr oder weniger simplen Riff, das er durch Improvisationen variiert. Der eigentliche Bass bleibt im Hintergrund, mitunter wird er mit Hilfe eines Synthesizers erzeugt. Bei Pluck ist das so und bei Funk Joint. Das Stück Free hingegen ist ein veritabler R’n’B-Song, Corinne Bailey Rae singt sich unnachahmlich durch die Melismen. Aber stimmen hier Form und Inhalt? Kann man den Wunsch nach Freiheit

Den Gegenpol bietet Jean Pierre, eine Komposition von Miles Davis. Das Stück beginnt interessant, Marcus Miller spielt das unverwechselbare Thema auf seiner Bassgitarre, ein Wechselspiel von Bruchstücken des Themas zwischen tiefer und hoher Bassgitarre beginnt. In Rede und Gegenrede gibt es ein Improvisationsgeplänkel zwischen ihm und dem Mundharmonika-Spieler Gregoire Maret – das war es dann aber auch. Am Ende wird das Stück einfach ausgeblendet. Das anschließende Higher Ground von Stevie Wonder ist dann wieder konziser, es ist der Höhepunkt der CD.

Sicher, man staunt über Marcus Millers instrumentales Können, seinen rhythmischen Einfallsreichtum und seinen Sinn für Klanggestaltung. Doch man wünscht dem einen anderen Rahmen. Eine Band mit ähnlich kraftvollen Musikern, die ihm zeigen, dass ein Bassgitarrist durchaus auch einfach mal nur begleiten kann.

„Free“ von Marcus Miller ist erschienen bei Dreyfus Records/Soulfood Music.

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Alles auf Xhosa

Die Südafrikanerin Simphiwe Dana widmet ihr zweites Album dem Widerstand gegen die Apartheid und den drängenden Problemen in ihrer Heimat

Simphiwe Dana

Die erste Begegnung mit Simphiwe Dana, beim Capetown Jazzfestival 2005: Lange Schlangen hatten sich vor dem Konzertsaal gebildet. Die meisten Menschen mussten draußen bleiben, der Raum war zu klein. Die zu der Zeit 25-jährige Sängerin aus Gcuwa war gerade nach Johannesburg gezogen, ihr Debütalbum Zandisile hatte Platinstatus erreicht.

Enttäuscht saßen die Abgewiesenen in der Lobby vor einer Großbildleinwand, auf der das Konzert übertragen wurde. Junge Paare mit blassen Gesichtern im Neonlicht, vor sich Getränke in Plastikbechern. Dann die Durchsage: Es solle ein zweites Konzert geben, noch am selben Abend.

Nach dem zweiten Konzert wirkt sie kaum erschöpft. Sie spricht von den Problemen Südafrikas, vom schweren Erbe der Apartheid. Von Aids, Gewalt in Familien und auf den Straßen, von mangelnder Schulbildung und dem fehlenden Selbstvertrauen junger schwarzer Südafrikaner.

Die nächste Begegnung: In Berlin vor dem Brandenburger Tor, am One World Day im Sommer 2006. Ein Autounfall hatte sie fast das Leben gekostet, sie war im achten Monat schwanger. Ihrem Kind ist nichts passiert, doch der Unfall hat sie verändert. Sie möchte ihre Bekanntheit jetzt noch intensiver nutzen, um auf die Probleme Südafrikas aufmerksam zu machen.

Schon auf Zandisile hatte sie in ihrer Muttersprache Xhosa gesungen, um sich zu ihrer Identität zu bekennen. Sie distanzierte sich von Englisch und Afrikaans, den einzigen erlaubten Sprachen während der Apartheid. Auf ihrem zweiten Album The One Love Movement On Bantu Biko Street geht Simphiwe Dana nun einen Schritt weiter. Bereits der Titel stellt den Bezug zur schwarzen Widerstandsbewegung her.

Biko Street bezieht sich auf den Bürgerrechtler Steve Biko, der im Jahr 1977 im berüchtigten Police Room 619 zu Tode gefoltert wurde. Offiziell hieß es, er sei an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben. „So viele Anführer unseres Kampfes haben keine Straße, die nach ihnen benannt ist“, sagt sie. Bantu ist ein Begriff, der im 19. Jahrhundert von einem weißen Anthropologen für die verschiedenen Völker Mittel- und Südafrikas verwendet wurde. The One Love Movement macht Simphiwe Danas Liebe zu Bob Marleys Musik und seinen politischen Texten deutlich. Sie ist der Meinung, dass es notwendig sei, sich selbst zu lieben und an die eigenen Fähigkeiten zu glauben, um etwas erschaffen zu können.

Sie spielt auch auf die Zukunft Südafrikas an. Eine Folge der Apartheid sei das Gefühl, aufgrund der Hautfarbe „nichts wert“ zu sein. Sie bemängelt ein fehlendes Bewusstsein für die Familie. Viele Väter verlassen ihre Familien, auch Simphiwe Danas eigener Vater. Ihre Mutter zog sie und ihre drei Geschwister alleine groß. In den Vororten Johannesburgs und Kapstadts werben Plakate für ein positives Väterbild, ein schwarzer Mann hält ein Neugeborenes in den Armen.

Ihre auffälligen Turbane und Hüte entwirft sie selbst, ihre Kleider lässt sie von südafrikanischen Designerinnen gestalten. Auch von ihrer Schwester Siphokazi Dana, die für das Label Stoned Cherrie arbeitet. Simphiwe Dana hat ein eigenes Studio, im Hinterhof ihres Hauses in Johannesburg. Die Wände und Böden sind mit Teppichen und Tüchern bedeckt. Hierhin zieht sie sich oft zurück.

Zwei Jahre hat sie an The One Love Movement On Bantu Biko Street gearbeitet. In Südafrika erschien es Anfang des Jahres und gewann den South African Music Award gleich vierfach. Die Arbeit an dem Album sei ein Prozess gewesen, ein Weg, sagt sie. Wie die Bantu Biko Street. Ein Weg der Erinnerung, der nach vorne weist, in die Zukunft.

„The One Love Movement On Bantu Biko Street“ von Simphiwe Dana ist als einfache CD und limitierte Doppel-CD bei Skip Records/Soulfood Music erschienen.

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Und hinten brummen die Männer

Róisín Murphy, die Sängerin von Moloko, legt ein konsequentes Disco-Album vor – ohne Überraschung und zukunftsweisende Idee.

Roisin Murphy Overpowered

Solisten haben es nicht leicht. Sie sind die Marke, das Gesicht, der Name, sie repräsentieren das Produkt, während hinter ihrem Rücken ein Stab von Helfern und Blutsaugern wirbelt. Der Künstler ist das Kunstwerk. Doch die wenigsten berühmten Solisten des Pop sind musikalisch so vielseitig, dass sie den Komponisten, Produzenten und Ausführenden in sich vereinen. Outsourcing ist die Lösung: Die Musik besorgen andere. Der Solist gibt lediglich seinen Körper und seine Stimme. Wen wundert es, wenn solcher Projektmusik Intimität und Wärme fehlen?

Die Irin Róisín Murphy bekam einen Plattenvertrag bei EMI, weil sie die Manager an Robbie Williams erinnerte. So steht es im Heft zu ihrer neuen CD Overpowered – unkommentiert, denn Miss Murphy war über diese Parallelen vermutlich so erstaunt wie der Leser.

Zehn Jahre lang waren sie und ihr Lebenspartner Mark Brydon das Duo Moloko. Ihre intensive Zusammenarbeit endete im Jahr 2003 in dem Album Statues, ein saftiges, ergreifendes Werk zwischen Disco und Weltschmerz.

Da stand sie nun, Róisín Murphy, die extravagante und extravertierte Sängerin, und suchte nach neuen Perspektiven für sich und ihre Stimme. Sie traf den Londoner Elektronikbastler Matthew Herbert und zog sich mit ihm in sein Klanglabor zurück. 2005 kam Ruby Blue heraus, eine Platte, die Murphys markanten Gesangsstil mit Herberts jazziger musique concrète verbindet.

Projekt fertig, auf zum nächsten. Sie wollte ein Disco-House-Album machen und bot sich der Plattenfirma EMI an. Das Geld war da, man verpflichtete die besten Produzenten in Philadelphia, Miami, New York, Las Vegas, Barcelona, London, nahm die besten Musiker, um den alten Phillie-Sound zu rekonstruieren und zu modernisieren. Das ist durchaus gelungen.

Overpowered ist ein konsequenter Tanzbodenfüller, doch es fehlt ihm an Zauber und Neuigkeit. House-Klischees der Siebziger und Achtziger werden ausgebreitet, hier ein Klatschen, dort ein Hecheln, dazu pumpende Synthesizer-Bässe und ganz viel Hall. Ab und zu brummen Männerchöre im Stakkato, wie man es von Timbalands Hitparaden-Pop kennt. Alles ist poliert, eingängig, beingängig – Kylie Minogue und Sophie Ellis Bextor hüpfen nebenan. Gewiss, Disco ist Murphys Konzept. Aber es entbehrt jeder Überraschung.

Dies ist umso enttäuschender, brachte doch Róisín Murphy bisher immer etwas Unerhörtes, Frisches. Ihre Musik war State of the Art, Idee und zukunftsweisende Botschaft. Overpowered drängt nirgendwohin. Es kommt über Damals und Heute nicht hinaus.

Ist das symptomatisch für den Pop-Betrieb? Sind Solisten bei großen Plattenfirmen gezwungen, sich von ihren Idealen zu verabschieden? Was bleibt dann für morgen?

Robbie Williams jedenfalls prophezeit man keine große Zukunft mehr. Sein letztes Album war kein Erfolg, weil er sich die falschen Produzenten ausgesucht hatte. Vielleicht hat Róisín Murphy mehr Glück und findet bald zu alter Form zurück.

„Overpowered“ von Róisín Murphy ist erschienen bei EMI.

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Viereinhalb Minuten gut

Auf seiner Suche nach sich selbst traf Dave Gahan von Depeche Mode seinen Gott. Richtig gute Ideen für neue Lieder hatte der aber offenbar auch nicht.

Dave Gahan Hourglass

Kingdom erschien vor zwei Wochen als erste Single von Dave Gahans neuem Album Hourglass, ein fantastischer Stampfer, der auch seiner Band Depeche Mode gut gestanden hätte. Der Bass drängt, die elektronischen Kollegen fiepsen, schnarren und plärren, ein mutterloses Kreischen verschleppt den pfiffigen Refrain. Dave Gahan singt mit gepresster Stimme einen etwas müden Text, aber den kann man ja ignorieren. „If there’s a kingdom beyond it all, is there a God who loves us all, do we believe in love at all?“

Die Werbemaschine der Platte brüllt seit Anfang August. Jede Woche konnte man sich auf der offiziellen Website und bei Youtube ein neues kurzes Video aus dem Studio anschauen. Man sah Dave Gahan und seinen beiden Musikern dabei zu, wie sie erste Erfahrungen mit einer Videokamera sammelten. Sie grüßten die Fans, spielten mit den Möbeln und der Fernbedienung, machten schlechte Witze und blöde Gesichter. Schnipsel der Stücke Kingdom und Down waren dort zu hören, so zugerichtet, dass kein Raubkopierer irgendetwas damit anfangen konnte. Andere Hörer leider auch nicht.

Nun ist das Album da. In einem Filmchen erläutern Dave Gahan, die Musiker Christian Eigner und Andrew Phillpott und der amerikanische Journalist Ken Scrudato, weshalb es so fabelhaft geworden ist. „Hourglass ist das Album, dass Dave immer machen sollte“, erzählt der wild frisierte Ken Scrudato. „Das Album war immer in ihm, aber es konnte erst jetzt aus ihm heraus.“ Denn „er musste das durchmachen, was er durchmachte um an diesen Punkt zu kommen.“ Vor zehn Jahren war Gahan nach einer Überdosis Heroin einige Minuten lang klinisch tot. „Ich versuchte herauszufinden, wer ich bin“, sagt er. Es sei ein erwachsenes Album, sagen seine Musiker, „die philosophischen Fragen, mit denen sich Dave befasst, sind spezifisch für seinen Pfad zur Erlösung, zum Heil.“

Warum sollte das jemanden interessieren? Beim vielen Nachdenken über sich und die Erlösung traf er seinen Gott. Gute musikalische Ideen liefen ihm selten über den Weg. So wichtig das Album für die Spiritualität des Herrn Gahan sein mag, so belanglos quält es sich am Hörer vorbei. Ein Stück ist richtig gut (man höre oben). Alles andere gelangt nicht einmal in die Nähe schlechterer Lieder von Depeche Mode. Man kann es in zwei Kategorien einteilen, Deeper And Deeper und Use You sind überambitioniertes Gebrezel, die sieben restlichen sind ödes Geschmachte. Die Melodien sind austauschbar, das Gefiepe im Hintergrund kleistert nur Fragmente zusammen. „Meiner Meinung nach ist es die beste Platte, die ich machen konnte“, sagt Dave Gahan.

In dem erwähnten Film über das Album erzählt er auch davon, wie er seiner Band das Stück I Saw Something zum ersten Mal vorsang. Der Schlagzeuger Christian Eigner habe ihn bloß schweigend angeschaut. Was er wohl gedacht hat? Kommt mir irgendwie bekannt vor? 21 Days verzichtet auf eine Melodie. Miracles klingt, als hätten die beiden Musiker Eigner und Phillpott stundenlang betrunken herumgespielt und dem Sänger dann die besten fünf Minuten geschickt, damit er sie betextet. Wahrscheinlich war auch er betrunken: „I don’t believe in miracles, and they happen everyday. I dont believe in Jesus, but im praying anyway“. Halleffekte überziehen die meisten der Stücke, die sich mühevoll auf viereinhalb Minuten strecken. Endless dauert beinahe sechs Minuten. A Little Lie klingt immerhin noch einigermaßen akzeptabel, kommt aber fünfzehn Jahre zu spät. Die Simple Minds haben das Stück schon in x Variationen gesungen.

Wer also braucht Hourglass? Ken Scrudato glaubt es zu wissen: „Menschen werden Hourglass hören und Inspiration finden, die ihnen hilft, die Fragen ihres Lebens zu beantworten. Und ist es nicht genau das, was wir von Musik wollen?“

„Hourglass“ von Dave Gahan ist als CD, als CD mit Bonus-DVD und als Doppel-LP bei EMI erschienen.

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