Lesezeichen
 

Jünger des goldenen Rüssels

Im vergangenen Jahr löste der Saxofonist David S. Ware sein Quartett auf, es bekam kaum Angebote. „Renunciation“ ist ein Mitschnitt des letzten Konzerts.

David Ware Renunciation

Der Elefantengott Ganesha steht im Hinduismus für den Schutz des Hauses. Seit 30 Jahren beschäftigt sich der amerikanische Saxofonist David S. Ware mit der Mythologie der Gottheit. Sie herrscht über Poesie, Musik und Wissenschaft und ist das Symbol für Weisheit und Intelligenz, den Schutz bei Veränderung und Glück für den Weg. Auf der Hülle von David S. Wares im Jahr 2005 erschienener 3-CD-Box Live In The World war der Rüssel des Ganesha abgebildet, er sah wie ein goldenes Saxofon aus. Auch in den Anmerkungen zu seiner neuen CD Renunciation preist er den Elefantengott. Er könnte den Schutz gut gebrauchen, derzeit läuft es für den Musiker nicht rund.

Beim New Yorker Vision Festival im Sommer 2006 kündigte er an, der Auftritt sei der letzte seiner Band. Mit dem David S. Ware Quartet – neben ihm der Pianist Matthew Shipp, der Bassist William Parker und wechselnde Schlagzeuger – spielte er 18 Jahre lang zusammen, mit ihm war er bekannt geworden. Nun sollte Schluss sein. Aufgeregt und enttäuscht reagierten das Publikum und die Kritiker. Die neue CD Renunciation ist ein Mitschnitt dieses letzten Konzerts des Quartetts.

Zwei Menschen verdankt David S. Ware, dass er überhaupt bekannt wurde: seiner französischen Managerin Anne Dumas und dem Saxofonisten Branford Marsalis. Marsalis entdeckte ihn und vermittelte ihm im Jahr 1997 einen Vertrag mit dem großen Label Columbia. Zwei CDs und knapp drei Jahre später war Schluss, nicht nur für David S. Ware, auch Marsalis wurde als Talentsucher bei Columbia gefeuert. Anne Dumas verhalf dem Quartett in dieser Situation zu Auftritten in Europa, in seinem Heimatland gab es keine Angebote mehr.

Schon während seiner Zeit bei Columbia trat David S. Ware selten auf. Wenn er erst mal einen großen Plattenvertrag habe, würde sich alles ändern, hätten ihm die Manager damals gesagt. Es ginge nicht um die Musik, lamentiert er, die Manager reagierten nur, wenn sie Dollars ahnten. Müßig zu entscheiden, ob er frustriert oder realistisch ist. In die gängigen Jazzclubs passt David S. Ware nicht. Es stört ihn, wenn die Leute während seiner Konzerte trinken und essen und wenn sie sich unterhalten. Man spürt diese Haltung in seiner Musik, man liest sie in den Begleittexten seiner Alben.

David S. Ware löste sein Quartett auf, weil es in den Vereinigten Staaten keine Angebote mehr bekam. Er wolle die langjährige Arbeit nicht schmälern, schreibt er zu Renunciation. Das letzte gemeinsame Konzert sei vor allem als Kritik an den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten zu verstehen. Ware fordert bessere Arbeitsbedingungen für Kreative, er weiß, dass nur etwas passiert, wenn Menschen, die die Musik lieben, sich für sie einsetzen.

Seine Musik ist wie ein Gebet – beschwörend, kraftvoll, tief, hymnisch. Es geht ihm um Bewusstsein und Wertesysteme, um die Fragen, wie man sich und die Welt wahrnimmt und wofür man lebt. Er brauche nicht viel zum Glück, sagt er. Wundervolle Musik machen, die Tiefe hat und doch schwebt, darum ginge es ihm. Er ist sich sicher, dass Ganesha ihn dabei unterstützen wird.

„Renunciation“ von David S. Ware ist erschienen bei AUM.

...

Weitere Beiträge aus der Kategorie JAZZ
The Bad Plus: „Prog“ (Do The Maths/Heads Up/Emarcy 2007)
Abbey Lincoln: „Abbey Sings Abbey“ (Verve/Universal 2007)
Ulrich Gumpert: „Quartette“ (Intakt Records 2007)
Joshua Redman: „Back East“ (Nonesuch/Warner 2007)
Jazzland Community: „Jazzland Community: Live“ (Jazzland Recordings 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Von Etta bis Übermorgen

Willkommen zur Geschichtsstunde: Hot Chip legen für die Reihe „DJ Kicks“ ihre Lieblingslieder auf die Plattenteller.

Hot Chip DJ Kicks

Ist es nicht aufregend von seinem Schwarm eine Mixkassette zu bekommen? Er wählt seine Lieblingsstücke aus und zeigt sich und seine Gefühle, das ist sehr persönlich. Natürlich geht er ein hohes Risiko ein. Man stelle sich vor: Der Angebetete überreicht unsicher das handbeschriftete Teil, man wartet gespannt, zelebriert den Moment des Anhörens und spult dann von einem peinlichen Lied zum nächsten. Der Zauber ist verflogen, der Schwarm Vergangenheit.

Die Indiepopper des letzten Jahres, Hot Chip aus London, geben einen solchen Einblick in ihre Herzen. Für das Berliner Tanzmusiklabel !K7 haben sie die 28. Folge der DJ Kicks zusammengestellt. Sie machen das gut, zum Glück, man kann also weiter für sie schwärmen.

In der Reihe sind in den vergangenen 12 Jahren viele Alben erschienen, die das Zeug zur Lieblingsplatte haben. Ob Kruder & Dorfmeister oder Erlend Øye, Andrea Parker oder Four Tet, immer wieder gruben die Künstler außergewöhnliche Stücke und Bands aus. Eine gute DJ Kicks-Platte führt den Hörer in ihm unbekannte Gefilde und gewährt neue Blicke auf die Kompilierenden. Ihre musikalische Sozialisation, ihre Vorlieben und natürlich auch Peinlichkeiten treten zu Tage. Oft ist die Auswahl der Stile überraschend, weit weg von der eigenen Musik.

So auch bei Hot Chip. Beinahe schizophren geht es zu. Die 24 Stücke weisen in alle Richtungen, nur an ihr eigenes Hitalbum The Warning aus dem Jahr 2006 erinnert beinahe nichts. Hier ein bisschen Old School HipHop, Soul und Pop, dort Minimal-Produktionen der Franzosen Nôze und Audion, gemischt in Film 2 von Grauzone. Plötzlich ein paar Breaks, dann wieder verträumter Gesang. Auch die Technoproduzenten Gabriel Ananda und Dominik Eulberg kommen hier unter und laden zum nachmittäglichen Tanz im Wohnzimmer ein.

Doch der Tanz stockt, man reißt die Augen auf. Kaum ein Stück wird ausgespielt und der Mix ist nicht sonderlich engagiert. Hot Chips DJ Kicks klingt halbherzig, so als legten sie es nur drauf an, Unpassendes zu mischen. Weder wollen die fünf Musiker beweisen, dass sie mixen können, noch taugt die CD als Geschenk an Tänzer, die in ekstatischen Bewegungen die Welt vergessen wollen. Vielmehr halten Hot Chip eine kleine Musikgeschichtsstunde ab, bei Etta James und Ray Charles fangen sie an, über New Order und Joe Jackson landen sie in der Gegenwart, bei dem Produzenten Marek Bois, auch bekannt als Daypak. In der Mitte der CD wagen sie mit My Piano einen Blick in die Zukunft, auf ihr im kommenden Jahr erscheinendes drittes Album.

Hot Chip stellen auf DJ Kicks ihre Lieblingslieder zusammen. In einem Internetforum schreibt jemand: „Scheißgeile Platte, scheißmieses Mixing“. Eine richtige Mixkassette also, schließlich geht es dabei nicht um DJ-Künste und immer ein wenig mehr um einen selbst als um den Beschenkten und seine Bedürfnisse.

„DJ Kicks“ von Hot Chip ist erschienen bei !K7

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
A Certain Frank: „Nowhere“ (Ata Tak 2007)
„Pingipung Blows: The Brass“ (Pingipung Records 2007)
Sally Shapiro: „Disco Romance“ (Klein Records/ Diskokaine 2007)
Apparat: „Walls“ (Shitkatapult 2007)
The Student Body Presents: „Arts & Sciences“ (Rubaiyat 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Das Leben, was sonst!

In asturischer Sprache singt die spanische Band MUS ergreifende Melodien. Als ließe sie die Zeit einfach los.

MUS La Vida

Eine Fliege krabbelt an der Fensterscheibe. Es sieht aus, als verfolge sie ein Ziel, doch sie erreicht es nie. Irgendwann kommt für den Betrachter der Moment der Entscheidung: Macht einen ihre scheinbar sinnlose Suche nervös – oder gerät man in einen Zustand euphorischer Gelassenheit, als dehnten sich Augenblicke ins Endlose?

Ähnliches geschieht bei der Beobachtung eines Wasservogels am sommerlichen Badesee. Der Haubentaucher verschwindet unter der Wasseroberfläche, und während man nicht weiß, wann und wo er wieder auftaucht, zerrinnt die Zeit. Glücklich, wer sie einfach loslässt!

Dieses Glück des Loslassens vermitteln die zwölf Lieder der hierzulande vollkommen unbekannten Band MUS aus Spanien. Auf kleinen internationalen Labels haben sie bereits acht Platten herausgebracht, ihr neuntes Album heißt La Vida. Das Leben, was sonst! Direkt und schlicht sind die Lieder instrumentiert. Akustische Gitarren, Flöte, Geige, Schlagzeug sind im Stil klassischer Folkballaden arrangiert, auch mal mit mehr Orchestereinsatz oder im vollen Klang einer Rockband.

Und dann diese samtene Stimme der Sängerin Monica Vacas. Sie singt, als sänge sie nicht für uns, sondern für die Fliege an der Scheibe, den Haubentaucher am See. Sie singt in einer sehr alten romanischen Sprache, die nur noch in einigen Winkeln der Region Asturien im Norden Spaniens gesprochen wird.

Völlig falsch liegt, wer da Klischees von Latinofeuer im Kopf hat. Monica Vacas schwebt durch die melancholischen Melodien, sie betont und dehnt die Vokale wie ihre britischen Indiepop-Kolleginnen. Es klingt, als sängen die Mädels von Belle & Sebastian und Stereolab plötzlich mit fremden Zungen – zauberhaft!

Wie ein sanfter Wellengang liegen die Akkorde und getupften Töne des Komponisten Fran Gayo unter ihrer Stimme. Das ein oder andere Volks- oder Kinderliedmotiv mag Pate gestanden haben, im Refrain „Ay, ay, ay“ des Liedes Animas Del Purgatoriu, im ersten Stück der Platte, Per Tierres Baxes.

Monica Vacas und Fran Gayo sind das Herz von MUS. Auf der Website der Platenfirma sieht man ein Foto von ihnen, das erinnert an Juliette Greco und Georges Moustaki in jungen Jahren oder an das Paar Abi & Esther Ofarim. Das passt zu dem kleinen Label Green Ufos, denn hier passt nichts zueinander. Die neue Platte der Glam-Folk-Hop-Schwestern CocoRosie ist in ihrem Programm, ebenso die Achtziger-Jahre-Revue der Elektronikveteranen Piano Magic; neben herrlich abstrusem Fantasy-Computerkitsch von Southern Arts Society hat Tom Verlaine ein Zuhause für sein Alterswerk gefunden.

Und MUS, sie haben mit La Vida Marcel Prousts verlorene Zeit wiedergefunden.

„La Vida“ von MUS ist bei Green Ufos/Hausmusik erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (Rough Trade 1980/Domino Records 2007)
The Concretes: „Hey Trouble“ (Finger Lickin’ Records/Alive 2007)
Pepe Deluxé: „Spare Time Machine“ (Catskills/Groove Attack 2007)
Diverse: „Get While The Getting’s Good“ (aufgeladen und bereit 2007)
Patrick Wolf: „The Magic Position“ (Loog/Polydor 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Hüter des Feuerchens

Lässig schüren A Certain Frank die elektronische Glut an der Wiege von Philosophie und Pop.

A Certain Frank

Bei Düsseldorf wurde nicht nur dereinst unser Neandertaler Vorfahre gefunden, es lebt und arbeitet dort auch ein Urgestein rheinischer Pop- und Elektronikmusik. Frank Fenstermacher und Kurt Dahlke sind nur ein winziges bisschen weniger berühmt als der Höhlenmensch, in Popmusikepochen gerechnet sind sie schon urig lange wohlbekannt. In den achtziger Jahren würzten sie mit der Gruppe Der Plan und ihren grotesken Mitsinghits die Neue Deutsche Welle. Zudem riefen sie die Bands Fehlfarben und DAF ins Leben und gründeten ihr eigenes Label ata tak. Als Krönung ihrer Musikerfreundschaft bilden sie schließlich das Elektronik-Duo A Certain Frank.

Kurt Dahlke nennt sich dann Pyrolator – ihrer neuen CD nowhere liegt, im Transparentplastik der Hülle gut sichtbar eingeschlossen, ein Streichholz bei! Mach Feuer, alter Freund! Lass die entspannten Grooves und exotischen Klänge warm leuchten, diese modernen, aber niemals modischen Melodien. Denn was bei A Certain Frank wie Lounge-Musik zum Nebenbeihören klingt, kommt in Wirklichkeit aus tiefen Höhlen, von nowhere ist es now here, wie man den Album-Titel auch lesen kann.

Aus dem Nirgendwo ins Hier und Jetzt scheint auch Frank Fenstermachers Stimme zu tönen, wenn er seine Wortspiele wie im ersten Song L‘argent in eine karge, rauh gemurmelte Gesangslyrik verpackt. Das Französische zieht sich sparsam als Signalfarbe der Aufklärung durch Kurt Dahlkes schwelgerische Synthesizermalerei und die aus dem Computer gezauberte Exotik. Wie an einem Streichholz entzünden sich am Wohlklang kleine schrille Funken, melodische Ausrutscher auf dem Weg zur Disharmonie, kurz vorher abgefangen von weichen animalischen Rhythmen. Hier ein etwas zu scharfes Gitarrenschnarren, dort ein übersteuertes Dröhnen oder Pfeifen, überwuchert von Pianolianen, gebannt von Rumbarasseln.

Eine der Höhlen im Urwald heißt trancelingen. Technoides Geschepper weist den Weg, unten drunter wummert es fast wie aus dem Hause Basic Channel. Vorlaut schnattern die Bläser, die frechen Äffchen. Mal nimmt Frank Fenstermachers Saxofon den D-Zug durchs fremd knisternde Idyll, mal bringt es den von den vorigen Platten bekannten jazzigen Chillfaktor. Auch der ist nicht ohne – wer je als DJ die anonyme Abendgesellschaft mit Stücken von noendofno, nobody? no! oder nothing beschallt hat, weiß, welches Maß an nervöser Aufmerksamkeit sogar Kenner zur Nachfrage ans Discopult treibt.

Ein solches Geheimversprechen gibt auch das Stück the earth is round. Die im Refrain stetig wiederholte, ja recht simple naturwissenschaftliche Erkenntnis verhallt im Nebel der Vibraphonechos und verzerrt quäkender Kazoolaute. Daraus entsteigt mit zweigeschlechtlich anmutendem Tarzansingsang eine neue Dschungelgottheit. Auf verschlungenen Loops und elastisch federnden Dub-Beats tanzt sie durch die nächsten Stücke bis in den Himalaya.

Flockig versprengen Geräusche und Melodien ihren Esprit und wirbeln dabei immer wieder Elementares auf, wie im letzten Stück Wald. Von dort flüstern A Certain Frank synästhetisch mit dem Holzmotiv auf der CD-Scheibe, einer Nachbildung des ersten hierzulande gefundenen Holzrades aus dem 11. Jahrhundert vor Christus. Doch alles historisch Schwerwiegende wird hier so verführerisch zur leichten Muse, als sei Platons Höhle mit einer schicken Fototapete ausgekleidet, bambusgrün leuchtend wie der CD-Hintergrund. In Sokrates Becher lockt ein exotischer Cocktail, und als jüngste Gäste im Höhlenpop-Ambiente machen die französischen Dekonstruktivisten Small Talk und wippen dazu mit den Füßen.

„nowhere“ von A Certain Frank ist als LP und CD erschienen bei ata tak

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
„Pingipung Blows: The Brass“ (Pingipung Records 2007)
Sally Shapiro: „Disco Romance“ (Klein Records/ Diskokaine 2007)
Apparat: „Walls“ (Shitkatapult 2007)
The Student Body Presents: „Arts & Sciences“ (Rubaiyat 2007)
Gudrun Gut: „I Put A Record On“ “ (Monika 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

1 Stück = 22 Minuten

Die deutsche Gruppe Von Spar wurde mit Punk bekannt. Auf ihrem zweiten Album erprobt sie die große Misch-Form.

Von Spar Xaxapoya

Es dröhnt aus dem Orchestergraben, satte zweieinhalb Minuten lang werden die Instrumente gestimmt. Der Dirigent schlägt ein paarmal auf sein Pult, er mag den Rhythmus. Die Tasteninstrumente werden lauter, bald schreien sie in den höchsten Tönen. Nach fünf Minuten tritt die Basstrommel auf, kurz darauf ruft jemand unverständliche Worte. Nach sieben Minuten ist aus dem Stimmen der Instrumente ein Inferno geworden. Die Pauken werden gedroschen, dem Vokalisten droht die Heiserkeit. Eine Gitarre beginnt kleine Muster in die Klangmauer zu meißeln, hier und dort bricht auch eines der Keyboards aus der Repetition aus und entwirft eine süße Melodie. Neun Minuten sind vorüber.

Zwei weitere Minuten vergehen, die Gitarren schwingen sich in metallische Höhen. Sie quietschen und jaulen, als wären Iron Maiden oder Judas Priest am Werk. Der Sänger gibt’s auf, er röchelt noch leise im Hintergrund. Nach und nach verschwinden der Lärm, verstummen die Instrumente, sogar das Klöppeln des Taktstocks. Am Ende bleibt nur ein flauschiger Teppich aus Keyboardsäuseln, eine Minute lang liegt er da zur Erholung.

Von Minute dreizehn an kommen die Musiker aus der Pause zurück. Erst die Keyboards, sie sind jetzt melodiöser. Dann ein nervöses Pluckern, stammt das von einer Gitarre? Und ein sirenenartiges Geräusch. Nach fünfzehneinhalb Minuten setzt ein geradliniges Schlagzeug ein, auch der Sänger hat sich erholt und erzählt, in den Siebzigern geboren worden zu sein: Er suche nach Schönheit. Plötzlich wird aus dem wilden Lärmen ein richtiges Lied. Es klingt nach dem New Wave der frühen achtziger Jahre, elektronisch und treibend. Es bleibt aber verspielt, hier wird ein Chor gesampelt, dort scheint jemand im Hintergrund zu husten, hier heult eine Sirene, dort stimmt das Orchester die Instrumente aufs Neue. Nach weiteren vier Minuten wird sehr langsam ausgeblendet.

Xaxapoya heißt dieses Monstrum, es ist zweiundzwanzig Minuten lang. Es ist das erste Stück – oder die erste Seite – des neuen Albums der deutschen Band Von Spar. Das zweite Stück – oder die Rückseite – heißt Dead Voices In The Temple Of Error und dauert achtzehn Minuten. Mit Die uneingeschränkte Freiheit der privaten Initiative waren Von Spar vor einigen Jahren überaus erfolgreich. In Stücken, die so ähnlich klangen wie die letzten vier Minuten von Xaxapoya, brachten sie ihre Energie auf den Punkt. Ihre Texte waren deutsch und politisch, das hektische Organ von Thomas Mahmoud das Markenzeichen ihrer Musik.

Auch beim zweiten Stück Dead Voices In The Temple Of Error nehmen sich Von Spar Zeit, lassen sich von einer Idee zur nächsten treiben, von einem Genre ins andere. Sie beginnen mit einer Mischung aus Hörspiel und knisternder Elektronika (Minute 1 bis 4), schwingen sich dann langsam ein (Minute 4 bis 7), wandern durch die siebziger Jahre (Minute 7 bis 12 ) und den Death-Metal (Minute 12 bis 15) hin zu nervösen Klangexperimenten, die an Mike Patton erinnern (Minute 15 bis 18).

Was hat sie wohl bewogen, eine solche Platte aufzunehmen? Sie ist ausufernd und uneindeutig. Der Sänger hat kaum etwas zu singen. Ist es der Versuch, Erwartungen zu unterlaufen? Der Ausdruck gelebten Künstlertums?

Schwer zu sagen. Aber interessant ist das.

„Xaxapoya/Dead Voices In The Temple Of Error“ von der Band Von Spar ist als LP und CD erschienen bei Tomlab

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Tocotronic: „Kapitulation“ (Universal 2007)
Shellac: „Excellent Italian Greyhound“ (Touch & Go/Soulfood Music 2007)
Editors: „An End Has A Start“ (PIAS/Rough Trade 2007)
Tomahawk: „Anonymous“ (Ipecac 2007)
Battles: „Mirrored“ (Warp/Rough Trade 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Du singst wie an der Bushaltestelle

Über die Jahre (24): Sie vertauschen Gitarre und Bass wie The Police. Aber sie klingen so anders! „Colossal Youth“ von den Young Marble Giants erscheint 1980 – und jetzt wieder.

Young Marble Giants Colossal Youth

Stuart Moxham spielt auf seiner Gitarre rhythmische Muster, sein Bruder Philip auf dem Bass die Melodie dazu. Eine Rhythmus-Maschine tuckert, gelegentlich kommt von der Orgel eine traurige Melodie, und Alison Statton singt charmant dazu. Als Colossal Youth von den Young Marble Giants im März 1980 erscheint, ist es eine kleine Sensation. Punk ist eben vorbei, und jetzt gibt es kaum jemanden, der sich nicht sofort in die Band verliebt.

Das Trio aus Cardiff in Wales existierte damals bereits seit zwei Jahren. Die Moxham-Brüder waren hagere, kurzhaarige Jungs, Zigaretten in den Mundwinkeln. Alison, die Sängerin, trug ein Mädchen-Kostüm auf, buntes Kleid, weiße Söckchen, Turnschuhe. Das schattige Foto auf der LP und die schlichte Gestaltung der Hülle versprachen Melancholie und Freudlosigkeit. Und in gewisser Weise erinnert die Musik der Young Marble Giants auch an Bands wie Joy Division und The Passage: in ihrer Kargheit und ihrem Ernst. Da ist nichts unkontrolliert oder wütend, da schäumt nichts über wie bei der Pop Group, The Slits oder The Raincoats.

Das Jahr 1980 war reich an neuen Klängen und wagemutigen Platten, das Album Colossal Youth aber sollte keine Grenzen überschreiten. Die Stücke waren kurz und eingängig. Sie verströmten eine Leichtigkeit, die selten war in dieser Zeit. Der Gesang Stattons klang beiläufig, so als würde sie nur für sich singen. Als sie am Ende des Jahres im Leser-Pool des New Musical Express in der Kategorie Beste Sängerin den achten Platz belegte, wunderte sich Stuart Moxham. Es heißt, er sei zunächst dagegen gewesen, die Freundin seines Bruders in die Band aufzunehmen: „Alison ist keine Sängerin! Alison singt, als wäre sie an der Bushaltestelle oder sonst wo.“

Es ist die Einfachheit und Selbstverlorenheit, die Abwesenheit von Kunstwollen und Virtuosität, die den bleibenden Charme der Young Marble Giants ausmacht. In ihrer Musik verbinden sie unvereinbar scheinende Einflüsse. Stuart Moxhams resonanzloser, abgehackter Gitarren-Klang hat etwas vom frühen Rock’n’Roll – den Twang Duanne Eddys, die Rhythmik Eddie Cochrans. Philip Moxhams Bass führt häufig die Melodie, er klingt wie eine zweite Gitarre. Ungewöhnliches ist die Orgel mit der eingebauten Rhythmusmaschine. Sie klingt wie eine Referenz an die Musik, die das britische Fernsehen zum Testbild spielte, wenn das Abendprogramm vorbei war.
Die Young Marble Giants veröffentlichten noch die instrumentale Testcard E.P. und die Single Final Day, dann lösten sie sich auf. Das letzte Stück war ein Kinderlied über die Apokalypse. Stuart Moxham soll es in der Zeit geschrieben haben, die man braucht, es anzuhören: in 1 Minute und 39 Sekunden.

„Colossal Youth“ von den Young Marble Giants ist im Jahr 1980 bei Rough Trade erschienen. Soeben wurde das Album bei Domino Records als LP und Doppel-CD wiederveröffentlicht. Die zweite CD enthält neben Demo-Versionen der Stücke des Albums sowohl die „Testcard E.P.“ als auch die drei Songs der „Final Day“-Single. Eine limitierte Dreifach-CD enthält zusätzlich die Peel Session der Band.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(23) Sister Sledge: „We Are Family“ (1979)
(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Diese Stimme durchbohrt Wände

Eigentlich hatten Dizzee Rascal und Wiley die Stars eines neuen Stils werden sollen. Doch die Helden des Grime zerstritten sich. Auf ihren neuen Alben treten sie gegeneinander an.

Wiley Playtime Is Over

HipHop ist die Musik der regionalen Phänomene. Jeder Ort der Welt bringt seine eigene Spielart hervor. Schon immer klang Rap-Musik aus der Mutterstadt New York anders als die aus Los Angeles. Lange standen diese beiden Metropolen für Rap-Musik schlechthin. Später kamen Detroit, Atlanta und Philadelphia ins Rampenlicht. Musik ist von äußeren Umständen abhängig, selbst das Wetter spielt eine Rolle. HipHop hat sich zu einer weltweiten Sprache mit unterschiedlichen Dialekten entwickelt.

Rapper in England haben sich schwer getan, zu einer eigenen Form zu finden. Lange orientierten sie sich an den großen Brüdern aus Amerika. Beachtliche Einzelleistungen waren die Ausnahme, eine Bewegung war nicht zu erkennen.

Dann kam Grime. Eine Welle neuartiger Musik, die Anfang des Jahrzehnts aus den Piratenradios der Insel geblubbert kam. Einzelne Läden verkauften Mixtapes und unbeschriftetes Vinyl für DJs. Bald wurde Grime international wahrgenommen. Der ganz große Erfolg fehlt allerdings noch.

Diese Musik hat keine Mitte. Sie ist durch und durch extrem. Die Bässe wummern tiefer als anderswo. Darüber werden klirrend hohe Synthesizer und Samples geschichtet. Gerappt wird schnell. Entspannung ist hier nicht zu finden. Wenn ein Grimer eine Ballade versucht, klingt sie gehetzt. Grime ist Clubmusik. Wer so etwas zuhause hört, geht irgendwann die Wände hoch.

Jede Bewegung hat ihre Helden. Dizzee Rascal und Wiley veröffentlichten ihre Debütalben 2003 beim mächtigen Label XL Records. Stars sollten sie werden, und Grime sollte die Welt erobern. Doch die Verkäufe entsprachen nicht den Erwartungen. Wiley zerstritt sich mit seinem alten Kumpel Dizzee und verlor den Plattenvertrag.

Und nun kommen beide gleichzeitig mit neuen Alben zurück. Wiley macht auf Playtime Is Over Grime in Reinkultur. Die Bässe sind runder als vor drei Jahren, ansonsten hat sich wenig getan. Wer ein puristisches Grime-Album hören will, ist hier richtig. Rhythmisch vertrackt und jederzeit ungemütlich geht es zu. Die Stimme findet kaum Luft.

Rap lebt sehr vom Text. Wiley erzählt von seinem neuen Plattenvertrag. Wiley erzählt, wie er die Grime-Musik geprägt hat. Wiley erzählt, dass er sich nun vom Mikrofon zurückziehen wird, um jungen Künstlern den Vortritt zu lassen. Wiley ist neunundzwanzig und redet wie ein Methusalem von seinem Vermächtnis. Nicht sehr spannend.

Auf Letter To Dizzee wendet er sich an seinen alten Rivalen, wie im klassischen Drama. Hey, Kumpel, guck mal, was wir alles gerissen haben. Vergiss nicht, ich bin dein großer Bruder. Ruf mich an, und alles ist verziehen. Doch Dizzee Rascal ruft nicht an. Auf seinem Album Maths And English findet er für Wiley nur Schimpfworte.

Dizzee Rascal Maths and English

Dizzee Rascal will nach vorn. Er öffnet den Grime für Spielarten des amerikanischen HipHop. Die Klänge der frühen Neunziger transportiert er im Stück Pussyole (Oldschool) ins britische Jetzt. In texanischer Hitze trifft er auf die Gruppe UGK, Sirens ist dröhnend und gewaltig. Sogar am Jungle versucht er sich.

Maths And English ist ein abenteuerliches Album. Die Musik ist voller Zitate und streckt sich doch nach der Zukunft. Es gibt Enthusiasmus, Hunger und Handwerk. Und Stories. Rascal weiß sie zu erzählen, seine Stimme durchbohrt Wände. Lediglich die Duette mit der Sängerin Lily Allen und Alex Turner von den Arctic Monkeys sind misslungen. Es scheint schwer, eine Stimme zu finden, die mit Dizzees harmoniert.

Wer wird nun der Superstar des Grime – Wiley oder Dizzee Rsacal? Es ist wie im richtigen Leben: Man hört lieber dem zu, der nach vorne schaut. Wer ständig Sentiment und Frustration der Vergangenheit beschwört, dem schließen sich alsbald die Türen. Wiley hätte besser daran getan, sich nicht mit Dizzee Rascal zu messen. Dizzee Rascal hingegen kann von sich behaupten, dass er mit neunzehn einer war, der den Grime erfand. Und dass er ihn mit zweiundzwanzig zu neuer Höhe führt.

„Maths and English“ von Dizzee Rascal ist erschienen bei XL Recordings/Indigo, „Playtime Is Over“ von Wiley ist erschienen bei Ninja Tune/Rough Trade

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Mos Def: „True Magic“ (Geffen/Universal 2006)
J Dilla: „Donuts“ (Stones Throw 2006)
Mocky: „Navy Brown Blues“ (Four Music 2006)
Sway: „This Is My Demo“ (All City Music 2006)
Clueso: „Weit weg“ (Sony 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ehrt den samtenen Untergrund

The Concretes aus Stockholm spielen frisch mit den Klängen und Stimmungen der sechziger Jahre.

The Concretes Hey Trouble

The Concretes beschwören die Geister der Vergangenheit. A Whales Heart von ihrem neuen Album Hey Trouble ist ein meisterhaftes Stück Velvet-Underground-Verehrung. Der prägnante Basslauf scheint Ode to Street Hassle von Spacemen 3 entlehnt. Diese wiederum hatten ihn – der Titel verrät es – den Streichern auf Street Hassle des ehemaligen Velvet-Underground-Sängers Lou Reed nachempfunden. Die Trommeln klingen, als hätte seine Kollegin Mo Tucker sie direkt an Georgia Hubley, die Schlagwerkerin von Yo La Tengo weitergereicht. Der sehnsüchtige Gesang und die dichten Wolken aus Gitarren- und Orgel-Sounds erinnern an eine weitere Band der späten achtziger Jahre, deren Referenz Velvet Underground waren: Galaxie 500. Warum also hört sich die Musik von The Concretes nicht an wie ein weiterer Aufguss eines allzu vertrauten Idioms? Warum verbindet sich das wohlige Gefühl der Vertrautheit mit der überraschenden Freude, etwas Neuem zu lauschen? Wie gelingt das diesen jungen Schweden nun schon zum dritten Mal auf Albumlänge?

Wer weiß, ob die siebenköpfige Band aus Stockholm die Wiedergänger der späten Sechziger, Bands wie Yo La Tengo, Galaxie 500 oder Spaceman 3, überhaupt kennen. Sie nähern sich der Tradition mit einer Frische und Unbekümmertheit, die es unerheblich macht, ob sie sich der Referenzen bewusst sind. Die Zitate werden nicht bedeutungsschwanger ausgestellt – seht her, was wir alles kennen –, sondern in immer neue Zusammenhänge gestellt. Und The Concretes sind weit davon entfernt, Drogenmusik zu machen. Sie benutzen den reichhaltigen Schatz an Klängen und Melodien auch nicht wie Galaxie 500, um eine Kathedrale der Melancholie zu bauen. Und schon gar nicht als Sprungbrett für solistische Krachexkursionen wie Yo La Tengo.

Überhaupt ist das Ausufernde ihre Sache nicht. Ihre Stücke sind perfekt geformte Kleinode. Sie sind selten länger als vier Minuten, jede Note sitzt. Da klingen sogar die barocken Arrangements der Beach Boys, die schimmernden Gitarrenströme der Byrds und die Euphorie der Girl Groups der sechziger Jahre noch mit. Die Melodien sind atemberaubend und eingängig. Die schnellen Nummern atmen immer einen Hauch von Melancholie. Und auch in den traurigen Liedern scheinen dieser besondere Humor und diese freundliche Empathie durch, die so typisch sind für The Concretes. Nicht umsonst heißt die neue Platte Hey Trouble. Mit dieser Musik kann man sich beherzt jedem Ärger stellen.

„Hey Trouble“ von The Concretes ist erschienen bei Finger Lickin‘ Records/Alive

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Pepe Deluxé: „Spare Time Machine“ (Catskills/Groove Attack 2007)
Diverse: „Get While The Getting’s Good“ (aufgeladen und bereit 2007)
Patrick Wolf: „The Magic Position“ (Loog/Polydor 2007)
Hauschka: „Versions Of The Prepared Piano“ (Karaoke Kalk 2007)
Electrelane: „No Shouts No Calls“ (Too Pure 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik