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Musik ist kein Obst

Erst wurde „Love“ von Foetus falsch gepresst, dann ging diese Platte unter. Im Laden ist sie nur schwer zu finden – höchste Zeit, sie zu entdecken

Isis - Absence Of Truth

Im Spätsommer 2005 veröffentlicht Foetus das Album Love. Es gibt die üblichen Besprechungen in Musikmagazinen. Kaum stehen die ersten Exemplare in den Läden, stellt sich heraus, dass dem Presswerk ein Fehler unterlaufen ist. Statt des Albums war eine Vorabsingle mit vier Stücken vervielfältigt worden. Man ruft die gesamte Auflage zurück. In der Flut von Neuveröffentlichungen geht es unter, dass das Album einige Zeit später erneut veröffentlicht wird – dieses Mal korrekt gepresst.

So ist wohl auch zu erklären, dass Love in kaum einem Plattenladen zu finden ist. Denn vollkommen unbekannter ist der Mann, der sich mit dem Künstlernamen Foetus schmückt, nicht. Seit Anfang der Achtziger macht der Australier James George Thirlwell Musik und hat seitdem etliche Bewunderern gefunden.

Mit 18 kam er nach Europa und begann seine musikalische Karriere im Umfeld der Einstürzenden Neubauten. Er entwarf düstere Klangvisionen und veröffentlichte seine Produktionen unter unzähligen Projektnamen. Nebenbei agierte er als Remixer für die Nine Inch Nails und die Red Hot Chili Peppers. Zudem trieb er unter dem Namen Clint Ruin allerhand Schweinkram in den erotischen Kunstfilmen Richard Kerns.

Foetus’ Musik basiert auf Samples und erinnert an Filmmusik. Love ist mutig instrumentiert. Harfen treffen auf schmetternde E-Gitarren, das Waldhorn wird vom Theremin gezähmt. Das Thema des Spinetts scheint sich durch die ganze Platte zu ziehen. Hat Ennio Morricone nicht auch Mundharmonika mit Orchester kombiniert und sogar der Panflöte neues Leben eingehaucht? Thirlwell hat sich stets darauf konzentriert, seine kompositorischen Fähigkeiten auszuweiten, auch mithilfe ungewöhnlicher Instrumente.

Seine Klangvision klingt am deutlichsten aus dem Stück Don’t Want Me Anymore. Es erzählt vom Verlassenwerden und taumelt wie ein angeschlagener Boxer von einem Zustand in den nächsten. Richtig aus dem Ruder gerät es, als ein schepperndes Schlagzeug einsetzt, das nicht den Rhythmus, sondern einen Puls spielt. Das Tempo verändert sich, und der Hörer verliert die Orientierung in deliranten Klangschichtungen.

Thirlwell hat nicht die typische Stimme für so etwas, das fällt auf. Wo sonst oktavensichere Schmachtheinzeln wirken, raunt sich sein rauhes und verlebtes Organ durch den Orchestergraben. In den höheren Lagen wirkt seine Stimme gedrungen. Doch auch das passt, die Koexistenz von Schönem und Hässlichem. Sie entwickelt ihre Qualität im Ringen um Balance.

Schade, dass diese Platte verschollen ist. Aber Musik ist kein Obst — sie überlebt ihre Umstände.

„Love“ von Foetus ist erschienen bei Birdman Records/Rough Trade

Hören Sie hier „Don’t Want Me Anymore“

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Im Gedränge der Klänge

Isis aus Los Angeles lieben die Melodien, die Anspielungen und die Abwechslung. Leider wird auf „In the Absence Of Truth“ zu viel gebrüllt

Isis - Absence Of Truth

Ein paar Sekunden ist nichts zu hören, dann erhebt sich eine sanfte Harmonie. Ein Schlagzeug bollert hinein in düstere Flächen aus synthetischen Klängen. Hallbelegte Töne der elektrischen Gitarre tauchen auf, wie kleine Lichtblitze im Nebel. Das Schlagzeug wird hektisch, doch das scheint nur so.

Immer lauter grummelt der Bass aus dem Hintergrund nach vorne, der Synthesizernebel verdichtet sich. Minutenlang fügen Isis Schicht um Schicht hinzu, ein Brei entsteht. Im dichten Gedränge der Klänge kaum mehr wahrnehmbare Disharmonien schleichen sich ein, ganz so, als würde eine Explosion vorbereitet.

Wieder falsch. Nach einer Ewigkeit halten sie inne, entrümpeln das Stück. Der Takt wird gewechselt, die Tonart, die Stimmung. Aaron Turner singt langgezogene Worte in den frisch gewaschenen Klangteppich. Seine Stimme kommt von hinten, eine schöne Melodie. Die Harmonien erinnern an den Rock der siebziger Jahre und an Marillion und Porcupine Tree.

Später wird die Gitarre dann nachdrücklich, Aaron Turner singt sich hoch ins Hymnische. Der Bass grunzt Heavy-Metal-Muster. Plötzlich rutscht die Stimme anderthalb Oktaven ab und ist nur noch als kehliges Geschrei zu vernehmen. „Die!“ – Stirb! kann das nur heißen, was einem da entgegengebrüllt wird. Auch wenn man ihn die ganze Zeit eigentlich erwartet hat, so recht passen mag der plötzliche Ausbruch nicht in das kaum aggressive Wrist Of Kings.

So ähnlich ist es bei fast jedem Stück auf Isis‘ viertem Album In The Absence Of Truth. Die Musik ist eher sphärisch als hart, die Gitarren und der gedroschene Bass treten nur selten aus dem Klangnebel hervor. Die Stimme ist meist leise, das Schlagzeug trocken und hallfrei. Früher oder später packt es den Sänger dann aber, und er zerbrüllt die ansonsten so melodiösen Klanggebilde mit unverständlicher Lyrik. Zu schade!

Wenn man sich Mühe gibt, kann man es ignorieren. Man sollte es tun, denn die Stücke stecken voller Ideen und Referenzen. Not In Rivers, But In Drops macht Anleihen bei The Cures düsterem Album Pornography, der Bass scheppert böse. Da wirkt eine Kraft, die ohne stählerne Härte auskommt, die auch ohne Lautstärke funktioniert und ohne kreischende Instrumente, die in den Vordergrund drängen. Over Root And Thorn baut auf einem sich für achteinhalb Minuten stetig wiederholenden Gitarrenmuster auf, langsam, düster und melodiös. Aber nie langweilig. Und aus der Selbstversunkenheit von Holy Tears hört man Pink Floyd heraus.

Parallel zu In The Absence Of Truth erscheint ein Minialbum für die In The Fishtank-Serie des niederländischen Labels Konkurrent. Zu hören sind drei Stücke, die Isis gemeinsam mit der schottischen Band Aerogramme aufgenommen haben. Da wird nicht gebrüllt.

„In The Absence Of Truth“ von Isis ist als CD erschienen bei Ipecac und wird als Doppel-LP Ende Januar bei Robotic Empire erscheinen

Hören Sie hier „Dulcinea“

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Gealterte Jungs

Take That sind zurück und besingen die „Beautiful World“. Nach zehnjähriger Trennung tragen sie ein paar nette Popliedchen souverän vor

Take That - Beautiful World

Take That waren die erfolgreichste Jungsband der neunziger Jahre. Viele Mädchen erlebten ihre Pubertät unter Postern der fünf Briten. Sie sahen adrett aus, konnten tanzen und singen. Ihre Lieder hießen Could It Be Magic, Babe und Everything Changes. Sie sangen für Prinzessin Diana und improvisierten mit Elton John. Ganz gleich, was sie taten, sie hatten Erfolg. Bis nach vier Jahren einer von ihnen plötzlich Rocker werden wollte.

Der Ausstieg von Robbie Williams war eine Katastrophe für die Anhängerinnen. Manche kamen tagelang nicht zur Schule, Telefonseelsorger pflegten zertrümmerte Mädchenseelen in aller Welt. Nach der Neuinterpretation des schwülstigen Bee Gees-Klassikers How Deep Is Your Love war auch für die vier übrigen Sangesbrüder Schluss, fortan gingen sie getrennte Wege. Freunde wollten sie bleiben, hieß es. Nur mit Williams hatten sie sich überworfen. Der zechte inzwischen mit den Rockern von Oasis die Nächte durch und wurde berühmter, als er es mit Take That je hätte werden können.

Gary Barlow komponierte sich einen Hit und paar Tanzlieder für unbekannte Diskogruppen. Mark Owen nahm drei Solo-Platten auf, die kaum jemanden interessierten. Jason Orange turnte über Englands Kleinkunstbühnen. Und Howard Donald stand wieder in englischen Clubs herum und tat das, was er schon zu Bandzeiten am besten konnte: gut aussehen und ergeben schweigen. So vergingen zehn Jahre, und das war irgendwie auch in Ordnung.

Vorigen Herbst dann der Aufmarsch der Gescheiterten. Auf einer Pressekonferenz, umgeben von mittlerweile älter gewordenen Fans, verkündeten die vier Musiker, dass sie – kreisch – wieder zusammen – doppelkreisch – musizieren wollten. Die ersten Konzerte waren nach einer Stunde ausverkauft. Robbie Williams hatten sie auch gefragt, ob er mitkommen wolle. Er lehnte ab und spottete auf seiner eigenen Tournee über seine ehemaligen Weggefährten.

Die ersten Presse-Fotos zur Vereinigungskampagne zeigen nun vier Männer, die eine Küstenstraße entlangschreiten, drei von ihnen mit wallenden Mänteln und Haaren. Ein Zeugnis bemühter Emanzipation vom alten Erscheinungsbild. Sieht so eine gealterte Jungsband aus? Von einer „atemberaubenden neuen Single“ schwärmt die Plattenfirma. Patience heißt sie und schwappte kürzlich auf den Vorweihnachtsmarkt. Eine Woche später erscheint nun das Album Beautiful World.

Die Stimmen von Barlow, Owen, Donald und Orange schwelgen in Hall und Melancholie, während sie Liebe, Schmerz und Glück verhandeln. Die Stücke werden souverän vorgetragen, Musik und Text klingen gelegentlich wie aus einem Popbaukasten zusammengezimmert: Akustische Gitarren und zartes Klaviergeklimper tragen sie, erwartbar wie der Reim „tear“ auf „fear“ streichen Geigen, wenn es tragisch wird. Dahinter fiept zuweilen Elektronik hinein in die balladeske Beliebigkeit von Take Thats schöner Welt.

Nur zwei Lieder stechen heraus. Zum einen Wooden Boat, ein überraschendes Liedermacherstück. Zum anderen Shine, eine verspätete Sommernummer im beschwingten Tanzrhythmus, die ein wenig nach einer Zeit klingt, da die vier noch schillernd über die Bühnen hopsten. Der Rest ist gefälliges Radiogedudel. Harmlose Lieder für Supermärkte, Großraumbüros und Umkleidekabinen.

„Beautiful World“ von Take That ist erschienen bei Universal

Hören Sie hier Ausschnitte aus dem Album

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Minimal im Überschwang

Vor zehn Jahren erschienen und heute noch toll: Matthew Herberts sparsames House-Album „100 lbs“ wird dieser Tage wiederveröffentlicht

Cover Audrey

Anfangs war es unter Techno- und Houseproduzenten verpönt, ihre Momentaufnahmen anders als auf den kurzlebigen Vinyl-Maxis festzuhalten. Die Euphorie von gerader Bassdrum, Schweiß und Liebe in Albumlänge, das erschien als Widerspruch. Der Brite Matthew Herbert erkannte jedoch früh, dass eine Reihe von „günstigen Augenblicken“ oft erst im Rückblick miteinander ihren ganz speziellen Gerinnungsfaktor zwischen Genese und Geschichtswerdung ausbilden.

Unter den Pseudonymen Wishmountain und Doctor Rockit hatte er Abenteuerliches aus verspieltem Elektro und hart knallender Musique Concrete fabriziert, um schließlich als Herbert seine House-Maxis Part One bis Part Three zu veröffentlichten. 100 lbs vereint all dies zum ersten Langspielwerk, mit ihm zog er im Jahr 1996 ein Resümee seiner bisherigen Laufbahn im Klangbastelstudio und auf der DJ-Kanzel.

Zehn Jahre sind seitdem in rasenden elektronischen Schritten vergangen, jetzt bringt das Label !K7 Herberts Höhepunkte quasi zum dritten Mal und gleich als Doppel-CD heraus: 100 lbs und eine Bonus-Silberscheibe mit Aufnahmen von 1995 bis 2000. Im Unterschied zum saftigen, schwülen Discosoul aus der Wiege der klassischen House Music in New York und San Francisco schuf er den wohl trockensten Minimalismus, den diese Musik des Überschwangs vertragen kann. Sein Klangspektrum speist sich aus kühlen akustischen und hellen elektronischen Quellen, entsprungen in einem anderen Universum als die charakteristischen schrill nach oben geschraubten Vokalchöre und das sonst übliche HiHat-Gezischel.

Kalte Schüsse wie aus ungeladenen Feuerwaffen klicken ins Leere, verpuffen als klapperndes Elektro-Stakkato in der stehenden Luft zwischen den Beats. Dennoch sind Herberts Vierviertel nicht weniger warm und treibend, der funky Bass knötert und gniedelt in Thinking Of You, orgelt sich ganz nah ans Herz. Anderswo knistern Keyboard-Cluster im Rückwärtslauf, Sirenen vom Synthesizer zirpen von fern über die Stimmen freundlicher, fast zärtlicher Animateure aus dem Computer: Let‘s disco! Das wirkt nur noch erhitzender im kühlen Ambiente der sparsamen Effekte, gerade so, als schwebten die Leuchtblasen einer Lavalampe befreit durch einen metallgrauen Winterhimmel.

Wie eine hochsensible Skala misst das Stück Friday They Dance durch den Raureif seiner zehnjährigen Geschichte den Freitagabendpuls auf und neben dem heutigen Dance Floor. Die Stile elektronischer Tanzmusik haben seitdem häufig gewechselt, Herberts 100 lbs war und bleibt ein Gegenpol der entspannten Reflexion zu den markanteren, wuchtigeren Sounds von Drum&Bass und BigBeat.

Auch wenn die B-Seiten und Raritäten auf der Bonus-CD manchmal dezent den Acid-Turbo quietschender Rhythmusmaschinen anschmeißen und die Partystimmung höher kochen lassen, Ursprung und Idee eines Klangs sind Matthew Herbert nach wie vor am wichtigsten. In seinem diesjährigen Werk Scale hüpfen Pop und Politik als bunt getarnte Flummis, die ihre geräuschhafte Herkunft nicht preisgeben, auf die Tanzfläche. Doch hier winkt jetzt erstmal mit der vieldeutigen Floskel See You On Monday das letzte der Jubiläumsstücke lässig zum Abschied.

„100 lbs“ von Herbert ist als Doppel-CD erschienen bei !K7

Hören Sie hier „Friday They Dance“ von „100 lbs“ und „I’ll Do It“ von der Bonus-CD

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Zauberhafte Melancholie

Sie können singen, dass einem schummrig wird; ihre Melodien sind sperrig. Auf „Visible Forms“ bringen Audrey aus Schweden den Herbst zum Klingen

Cover Audrey

Zaudernd setzt das Klavier ein, synthetisches Züngeln mischt sich darunter. Das Schlagzeug stapft los, gedämpft wie von frischem Laub. Und diese Stimmen! Klar und voller Wehmut. Sie kommen näher, schleichen sich heran: hereinspaziert in die ersten Klänge von Visible Forms, dem Debüt von Audrey.

Vor vier Jahren gründeten Anna Tomlin, Emelie Molin, Victoria Skoglund und Rebecka Kristiansson die Band in dem kleinen Ort Henån, auf einer Insel bei Göteborg. Sie machen sparsamen Folk mit sperrigen Melodien.

Durch ihre neun Lieder ziehen sich immer wieder lange Instrumentalpassagen. Verträumtes Klavierklimpern ufert jäh aus in Gelärm, der Cellobogen webt dazu warme Töne in den Klangteppich. Ein geordnetes Gefühlschaos. Bedächtig setzen sie Ton an Ton. Nie klingen die Stücke überladen.

Dazu singen die vier, dass einem ganz schummrig wird. Mühelos schweben sie die Oktaven hinauf, hängen über der Musik. Hier vierstimmig gehaucht, gesummt, dort aus vollen Kehlen. Manchmal ein wenig scheu. Und immer so verführerisch.

Dann verdunkelt sich die Stimmung plötzlich. Trompetenstöße tröten einen durchgeknallten Stegreifjazz. Das Cello zirpte eben noch, nun schnarrt es vor Groll. Der Synthesizer knistert. Unheimliches Rascheln legt sich über die Musik. Etwas Dräuendes naht. Und Audrey flüstern ängstlich: „Catch your last breath, it’s coming“, immer wieder. Der Takt von Treacherous Art beschleunigt, treibt den Hörer minutenlang durch düstere Klaviersätze. Dann endlich die Lichtung. Trauer hat sich in die Stimmen gemogelt. Sie klingen, als schluckten sie ein paar Tränen. Fern bläst ein Flügelhorn körnige Fanfaren. Der Tag bricht an. Von hell zu dunkel dauert es bei Audrey nur ein paar Trommelschläge.

Beinahe alle Lieder haben etwas Erhabenes. Nur der Beginn von Six Yields stampft mit donnernden Paukenschlägen voran, man möchte mitwippen, da wird es mal rockig für ein paar Minuten. Wenn man aber genau hinhört, dann hört man ihn schon wieder: diesen Chor vom Verlassenwerden. Melancholie kann so zauberhaft klingen.

„Visible Forms“ von Audrey ist erschienen bei Sinnbus

Hören Sie hier „Mecklenburg“

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Erschütternd glamourös

Über die Jahre (17): „Lexicon Of Love“ von ABC steckt voller Widersprüche. Unter der glitzernden Oberfläche fröhlicher Poplieder liegen Enttäuschung und Schmerz. Für romantische Flausen ist da kein Platz

ABC The Lexicon Of Love

The Lexicon Of Love von ABC war die erste Platte, die ich mir kaufte – für 14 Mark 90 in einem Plattenladen in der Passerelle in Hannover. Diese schmuddelige, unterirdische Ladenmeile unter der Fußgängerzone passte nicht zu dem Glamour und der Romantik, die ich mit der Gruppe verband. Für mich waren ABC die einsamen musikalischen Erben des klassischen Hollywoods. Ich verband die Platte mit alten Screwball-Komödien am Sonntagnachmittag, in denen sich Claudette Colbert und Clark Gable oder Katherine Hepburn und Cary Grant erotisch knisternde Wortgefechte lieferten. Oder in denen Fred Astaire und Ginger Rogers durch bizarre Art-déco-Kulissen wirbelten. Sie stimmten mich beschwingt.

Martin Fry, der Sänger und Texter von ABC, war mein Cole Porter. „If you gave me a pound for all the moments I missed / And I got dancing lessons for all the lips I shoulda kissed / I’d be a millionaire / I’d be a Fred Astaire“, sang er in Valentines Day und brachte das Missverhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit in meinem jungen Leben auf den Punkt. Ich war voller romantischer Vorstellungen von der Liebe und noch weit davon entfernt, Erfahrungen mit ihr zu machen.

Ich war 14 Jahre alt, mein Englisch schlecht. So entging mir die andere Seite von Frys Texten. Eigentlich versuchte er doch, mir die romantischen Illusionen auszutreiben: „Sentimental powers might help you now / but skip the hearts and flowers / skip the ivory towers / you’ll be disappointed.“

Damals wusste ich nicht, dass die Platte aus der Verarbeitung einer schmerzlichen Trennung Martin Frys entstanden war. Die Frau, die man auf Poison Arrow singen hört, war die Angebetete, die ihn soeben verlassen hatte. Aber muss man Kunstwerke ausschließlich in Bezug auf die Biografie des Künstlers entschlüsseln? Gerade bei ABC macht das wenig Sinn, sie standen ja gerade nicht für solcherlei Authentizität. Das war die Domäne der stumpfen Rocker. Und ABC waren Pop. Groß, glamourös und unwirklich. Sie verwandelten den Schmerz in Disco-Beats, Streichertürme und bunte Bilder. Im Video zu The Look Of Love stellt die Band als Horde ungelenker Ex-Punks mit schiefen Zähnen ein knallbuntes Broadway-Musical nach.

Dass die Platte mich auch heute noch so beeindruckt, liegt an der Wut, die in Martin Frys Stimme schwingt. Wie meine anderen Lieblingssänger zu der Zeit – Edwyn Collins von Orange Juice und Kevin Rowland von Dexy’s Midnight Runners – war er ein pickliger weißer Junge mit begrenztem Stimmumfang. Er versucht wie ein Soulsänger zu singen, das Scheitern macht seinen Gesang so erschütternd.

Auch wenn ich die Texte nur teilweise verstand, das Schwanken dieser Platte zwischen Freude und Schmerz nahm ich wahr, es prägte mich. ABC steckten voller Widersprüche, sie standen für die Hoffnung im Elend, den Konflikt in der Harmonie, das Lachen, dass sich unter den Tränen verbirgt. In diesem Sinne war die Passerelle vielleicht doch der geeignete Ort für den Kauf dieser Platte, die mich auch heute noch – 24 Jahre später – euphorisch stimmt.

„The Lexicon Of Love“ von ABC ist erschienen bei Mercury/Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Poison Arrow“

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(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Sie wartet am Bauzaun

Man summt die Melodien mit, Worte kommen einem in den Sinn. Schließlich merkt man, dass niemand da ist, der die Melodie singt. Denn Contriva machen Instrumentalmusik

Cover Contriva

Am hellblauen Himmel brauen sich Schönwetterwolken zusammen, unter ihnen steht ein blaugrauer Bauzaun. Was liegt wohl dahinter? Man kann ein bisschen durch die Ritzen schauen, erkennen kann man nichts. Ist das eine der vielen Berliner Großbaustellen? Die Straßenschilder verraten auch nicht viel, auf ihnen fehlen die Buchstaben. Geheimnisvoll schaut es aus, das neue Album von Contriva.

Die Band kommt aus Berlin. Sie macht Instrumentalmusik, Separate Chambers ist ihr drittes Album. Die vier Musiker schreiben ungewöhnliche kleine Poplieder. Mit den monumentalen Klanggebäuden von Mogwai und den Technikspielereien von Tortoise hat das nichts zu tun, und auch nicht mit Jazz oder der Selbstverliebtheit von Rockgitarristen wie Steve Vai. Vielleicht wollte am Anfang einfach niemand singen und es wurde ihr Markenzeichen?

Das Album beginnt introvertiert. Man hört, wie eine raue Hand das Griffbrett der Gitarre entlangrutscht, dann wird ein leicht schiefer Akkord angeschlagen. Sehnsuchtsvoll langgezogene Töne einer elektrischen Gitarre treten hinzu und das verhaltene Klacken des Schlagzeugs. Das ganze Stück Good To Know hindurch hört man die rutschenden Hände. Irgendwann spielt die Western-Gitarre ein Solo, es klingt, als würde jemand beginnen zu singen.

Immer wieder hat man das Gefühl, dass da eine Gesangslinie ist. Man summt sie mit, Worte kommen einem in den Sinn. Schließlich merkt man, dass niemand da ist, der die Melodie singt. Irgendein Instrument ist immer da, das die Melodie übernimmt. Meist ist es die akustische Gitarre, manchmal die elektrische oder das Klavier.

Die Stücke auf Separate Chambers sind spröde, sie klingen trocken und direkt. Da ist kein Bombast, keine Klangwand, kaum Hall. Jedes einzelne Instrument lässt sich heraushören. Das ganze Album ist gelassen vorgetragen, Contriva haben keine besondere Eile.

Selten wird es flotter oder gar rockig. Unhelpful lebt von Masha Qrellas treibend schepperndem Bass und Hannes Lehmanns ungeheuer trickreichem Schlagzeugspiel, immer wieder wird der Rhythmus verzögert, dann rennen alle auf einmal los und auch die Gitarren von Rike Schuberty und Max Punktezahl stimmen in eine mitreißende Melodie ein. Auch bei I Can Wait erzeugen ständiges Beschleunigen und Abbremsen Spannung.

No One Below ist anfangs schleppend und melancholisch, Orgel und Dobro führen die Melodie. Dann ein kurzer Ausbruch, quietschige Gitarren, nach 30 Sekunden haben sie sich wieder gefangen. Eine herausragende Stellung auf dem Album hat das achtminütige Stück Centipede. In den vielstimmigen Chor gekratzter Violinen-Saiten mischt sich ein einfaches Gitarrenmotiv, vier gezupfte Töne, immer wieder. Nach zweieinhalb Minuten setzen ein warmes Klavier und der Bass ein und geben den Klängen Struktur. Der Refrain – wenn man das so nennen mag – verzaubert mit einem dieser euphorisch stimmenden Tonartwechsel. Ein hypnotisierendes Stück.

Bei Before und I Can Wait singt dann doch jemand, Bassistin Masha Qrella. Sie tut das nüchtern melodiös, wie sie es auf ihren beiden Soloalben bereits vorgeführt hat. Ihre Texte sind lyrisch. „I can wait, because I’m out of time anyway“, singt sie. Das erklärt also die Gelassenheit von Separate Chambers.

„Separate Chambers“ von Contriva ist erschienen bei Morr Music

Hören Sie hier „Unhelpful“ und „I Can Wait“

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Wie eine Mixkassette

Four Tet aus London bastelt seine Stücke aus Fragmenten von Folklore bis Free Jazz. Seine Musik spricht den Kopf an, und zu ihr kann man auch tanzen. Faszinierend ist sein Beitrag zur Serie „DJ Kicks“

Four Tet DJ Kicks

Vier Alben hat Kieran Hebden unter dem Pseudonym Four Tet aufgenommen, allesamt stecken sie voller unberechenbarer Musik. Er springt von Stil zu Stil, mit jeder neuen Platte macht er einen Schritt in eine neue Richtung. Als er Folk mit Elektronik mischte, erfand die Musikkritik den Begriff Folktronica. Doch da wandte er sich schon dem Free Jazz zu und tauchte als Remixer für die HipHopper Madvillain und Radiohead auf.

So ist es nur konsequent, dass er nun ein Album für die ebenso unberechenbare Serie DJ Kicks aufgenommen hat. Seit über zehn Jahren lädt das Label !K7 Musiker und DJs ein, ihre Lieblingsstücke zusammenzustellen und zu mischen. Um eine ausführliche Titelliste und Quellenverweise erweitert, machen die Alben das Tun der DJs transparent. Hier kann man ihnen auf den Plattenteller gucken, ohne sich ihren Unmut zuzuziehen.

Schnuppern wir an Four Tets buntem Strauß: Los geht es mit einer computergenerierten Improvisation von David Behrman, es folgt britischer Arbeiterfunk von Syclops. Weich landen wir bei Curtis Mayfield. Immer wieder wechselt die Stimmung. New Folk von Animal Collective trifft auf Minimal-Techno von Akufen. Dazu gesellt sich knochiger HipHop von Group Home und Showbiz & A.G., Krautiges von Gong, elektrischer Jazz von Herbie-Hancock-Mitstreiter Julian Priester und afrikanische Kalimbamusik. Ein eigenes Stück von Four Tet gibt es auch, Pockets.

Die Zusammenstellung ist etwas für Zuhause, fürs Auto oder für den Walkman. Tanzen kann man dazu auch, aber für den Club ist das Album nicht gemacht. Four Tet konzentriert sich nicht auf einen Stil, so hat man das von ihm erwartet. Sein DJ Kicks klingt wie eine Mixkassette, aufgenommen für einen guten Freund.

„DJ Kicks“ von Four Tet ist als Doppel-LP und CD erschienen bei Studio !K7

Hören Sie hier „Pockets“ von Four Tet

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Im Diskonebel

Justin Timberlakes Album „Futuresex/Lovesounds“ macht Feierlaune. Oft jedoch trägt er zu dick auf und versucht, wie Michael Jackson zu klingen

Cover Timberlake

Schüchtern blickt sie über die Tanzfläche. Sie ist zum ersten Mal hier. Bunt blitzen die Scheinwerfer durch den Diskonebel. Und da ist auch dieser junge Mann. Er ist Mitte zwanzig und hat lockiges, helles Haar. Kratzende Fanfaren und ploppende Bongos geleiten ihn, die ersten Takte von Sexyback.

Den Typen kenn ich, denkt sie. Der hat doch bei ‚NSync gesungen. Dieser Jungsgruppe, deren Poster meine kleine Schwester sich zuhauf an ihre Zimmerwand getackert hatte? Aha, neuerdings trägt er ein Kinnbärtchen. Sie unterdrückt ein Kichern, da hat sich der junge Mann schon ihren Arm geschnappt und zieht sie in die schwitzende Menge.

„Baby, I’m your Slave!“, singt er. Hoppla, der geht ja ran, denkt sie. Inzwischen ist ihr sein Name eingefallen, Justin Timberlake. Die Musik schwillt an, räkelt sich um die Diskokugel. Der Bass schlendert zurück in den dunklen Soul der Siebziger. Der junge Mann umschleicht das Mädchen. Seine helle Stimme bezirzt sie, er zuckt, geht auf die Knie. Sexy Ladies ist ein wummernder Balztanz. Immer wieder pirschen seine Lippen nah ans Mädchenohr. Und säuseln pfötchenweich: „Do you like it like that?“ Unsicher blickt sie sich um.

Am Rand der Tanzfläche stehen nun zwei Männer, die Arme verschränkt. Sie heißen Timbaland und Will.i.am und haben die dreizehn Lieder aufgenommen. Die zwei nicken dem Mädchen zu, klatschen in die Hände, sprechen vor sich hin: „Aha, yeah“. Sie tanzt weiter. Ihre Knie wippen zur knarzenden Orgel in Damn Girl. Sie verliert sich in den lässigen Streichersamples von Chop Me Up. Bei Summer Love streicheln Keyboardklänge sanft ihr Haar. Wie das schwingt! Tanzen, tanzen, tanzen. Vielleicht hätte sie andere Schuhe anziehen sollen.

Puh, Pause. Der Anfang von Until The End Of Time ertönt. Ein seichtes Schlagzeug rollt über einen bonbonrosafarbenen Flokati aus Cello und leiser Gitarre. Was ist da mit seiner Stimme los? Er möchte klingen wie Michael Jackson, schafft aber nur ein asthmatisches Falsett. Sehnsüchtig wandern die Augen des Mädchens zur Tanzfläche. Sie wartet, dass der Synthesizer wieder ein paar Ladungen Flitter und Lametta schießt. Den Schmachtfetzen My Love erduldet sie tapfer. Doch als Timberlake Losing My Way anstimmt, schlüpft sie in ihre Jacke. Dieses wachsweiche Rührstück über einen Jungen namens Bob – es ist einfach zu viel.

Vom berauschenden Diskofieber bleibt am Ende nur schwülwarmer Dunst.

„Futuresex/Lovesounds“ von Justin Timberlake ist erschienen bei Sony/BMG

Hören Sie hier „Damn Girl“ und „My Love“

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