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Überall zuhause

Die Brazilian Girls singen auf Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Und warum auch nicht? Hier kommt „Talk To La Bomb“…

Sonny Rollins - Sonny, Please

In welche Schublade soll man die Brazilian Girls stecken? Ihr erstes Album aus dem Jahr 2005 klang nach dieser neuen brasilianischen Popmusik, die viel mit elektronischen Elementen arbeitet. Der Keyboarder und Programmierer Didi Gutman hatte auch schon mit Bebel Gilberto zusammengearbeitet. Das zweite Album Talk To La Bomb ist schwerer einzuordnen. Ist das tanzbare Loungemusik? Seichter House? Vielleicht Jazz? Einfach Pop? Die Sängerin Sabina Sciubba stört die Uneindeutigkeit nicht: „Wir sind nicht mehr von brasilianischer Musik beeinflusst als von argentinischer oder afrikanischer oder europäischer Musik“.

Aber der Name? Der ist nur ein Witz. Keiner der vier Musiker kommt aus Brasilien. Didi Gutman kommt aus Buenos Aires, der Bassist Jesse Murphy aus Kalifornien und der Schlagzeuger Aaron Johnston aus Kansas. Und das einzige Girl im Bunde, Sabina Scubbia, ist überall ein bisschen zu Hause. Geboren wurde sie in Rom, aufgewachsen ist sie in München und Nizza, seit einigen Jahren lebt sie in New York.

Das Telefoninterview führt sie aus ihrem Urlaub in Puerto Rico. Im Hintergrund zwitschern die Vögel. In den Stücken wechselt sie die Sprache – Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch – manchmal mitten in einer Strophe. Die Plattenfirma wollte sie auf eine Sprache festlegen, berichtet sie. Verstanden habe sie das nicht, und befolgt schon gar nicht: „Ich kenne mittlerweile so viele Menschen, die mehrere Sprachen sprechen. Ich glaube nicht, dass es problematisch ist, mehrsprachig zu singen“.

Genauso unbekümmert wie sie klingt das zweite Album ihrer Band, Talk To La Bomb. Vom harschen ersten Stück Jique war die Plattenfirma ebenfalls nicht begeistert, sie wünschte sich eine weitere Portion des musikalischen Sonnenscheins vom ersten Album.

Ihre Musik ist wilder geworden. Der agile Bass umspielt die programmierten Beats, als würde er versuchen, ihnen ein Schnippchen zu schlagen. Große Teile der Musik sind in spontaner Improvisation entstanden, wie kleine Wunder verbinden sich die Elemente doch immer wieder zu Liedern, die melodisch sind, aber stets voller Brüche und Stolpersteine. Man hört, dass alle vier Musiker ihre Wurzeln im Jazz haben, kennen gelernt haben sie sich in einem New Yorker Jazzclub. Immer wieder setzen sich einem Textstellen und musikalische Phrasen im Kopf fest, hier und da klingt etwas bekannt.

Das Album ist sehr spontan im Studio entstanden. Nur für ein Stück holten sie sich einem Produzenten dazu. Ihre eigene Version von Last Call gefiel ihnen nicht, so machte Ric Ocasek eine Disconummer im Stil der Achtziger draus. Und siehe da, sie steht den Brazilian Girls ausgezeichnet, wie eigentlich alles was, sie an- und ausprobieren.

„Talk To La Bomb“ von den Brazilian Girls ist als CD erschienen bei Verve Forecast/Universal

Hören Sie hier „Never Met A German“ und die beiden auf Deutsch neu aufgenommenen Stücke „Jique“ und „Last Call“

Lesen Sie hier: Die Platten des Jahres 2006 – Eine Nachschau auf 100 Tonträger

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Keine Zeit zu verschwenden

Das Gehen fällt ihm schon schwer, doch wenn man ihn hört, muss man sich keine Sorgen machen. Mit 76 Jahren hat der Tenorsaxofonist Sonny Rollins eine neue CD veröffentlicht: „Sonny, Please“

Sonny Rollins - Sonny, Please

Eigentlich hasst er es, eigene Aufnahmen anhören zu müssen. Früher hat seine Frau und Managerin Lucille entschieden, welches neue Stück von ihm es auf die nächste CD schafft. Er vertraute ihr da völlig. Doch jetzt, zwei Jahre nach ihrem Tod, kommt er nicht mehr ganz an den Dingen vorbei, ohne die er die letzten 35 Jahre so gut leben konnte. Damals hatten Lucille und Sonny Rollins sich vom großen Jazzgeschäft verabschiedet, sie zogen aufs Land und er unterschrieb bei der kleinen kalifornischen Plattenfirma Fantasy. Dort machte er im Laufe der Jahre über 20 Platten, die ohne viel Marketing-Rummel auf den Markt kamen – Geld verdiente Rollins mit seinen Konzerten.

Als Fantasy unlängst verkauft wurde, entschied sich Rollins, eine eigene Plattenfirma zu gründen. Er wolle damit die Kontrolle über seine Musik erlangen, sagt er – viele seiner Kollegen unternahmen in jüngster Zeit ähnliche Schritte. Sein Label benannte er nach seiner Komposition Doxy, die er unter Leitung von Miles Davis im Jahr 1954 zum ersten Mal aufgenommen hatte.

Die Produktion von Sonny, Please wurde von seinem Neffen und langjährigen Posaunisten Clifton Anderson geleitet. Die Tradition, dass sich bei den Platten von Rollins alles, ja, wirklich alles nur um seine Soli dreht, bricht auch diese Aufnahme nicht. Man hat das starke Gefühl, dass sein einzigartiger Tenor-Klang geradezu mit der Blässe der Band korreliert.

Sonny, Please ist für Rollins ein Album voller Erinnerungen geworden. Auch das ist nicht untypisch für den Musiker, der den modernen Jazz mit erfunden hat. Anders als bei früheren Platten fehlt jedoch jeder Hinweis auf gesellschaftliche Belange. Er bezeichnet sich als mittlerweile reichlich desillusioniert, soweit es seinen Glauben an die Macht der Musik betrifft. Die wunderschöne Ballade Someday I´ll Find You hatte Rollins auch schon im Jahr 1958 in seiner gesellschaftskritisch gemeinten Freedom Suite verwendet, und sie besteht auffallend mühelos den Test der Zeit und veränderter Kontexte. Seine Komposition Park Palace Parade erinnert an die Calypso-Künstler in Spanish Harlem und an eine Zeit, als man sich für solche Musik noch zum Tanz versammelte. Rollins hat keine Zeit zu verschenken, und entsprechend dringlich mag diese Musik nun wirken. Als wolle er unbedingt sagen, dass das noch nicht alles gewesen sein kann.

„Sonny, Please“ vom Sonny Rollins ist als CD erschienen bei Doxy Records, in Deutschland wird sie von Universal vertrieben

Hören Sie hier „Sonny, Please“

Hier geht’s zum Artikel von Christian Broecking über seinen Besuch bei Sonny Rollins in New York

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Reime aus dem Papiertütchen

Die Plattenfirma Geffen hat offensichtlich wenig Interesse daran, dass jemand die neue Platte von Mos Def kauft: „True Magic“ ist unschön verpackt und wird nicht beworben. Schade um die fabelhafte Musik.

Mos Def True Magic

Mos Def ist Rapper. Weil er sich nebenbei auch der Schauspielerei widmet, braucht er lange, ein Album aufzunehmen. Vor acht Jahren erschien seine Debütplatte Black On Both Sides. Das Musikfernsehen ignorierte ihn bereits damals – trotz seines Erfolgs. Mos Def verweigert sich den Klischees, er ist ein Rapper alter Schule. Sein Stil ist geprägt vom alternativen HipHop der Neunziger und Gruppen wie A Tribe Called Quest und De La Soul.

Mit nasaler Stimme stapelt er die Reime im Swingtanz. Und es macht Spaß, genau hinzuhören. Mit den stupiden Texten seiner Gangsta-Kollegen hat er nichts an der Kappe. Er singt nicht von Diamanten und lang gestreckten Limousinen, der Weg aus dem Ghetto führt bei ihm nicht über die Ansammlung von Reichtümern und Frauen. Seine Lyrik ist sozial.

Auch ohne die Unterstützung des Musikfernsehens verkaufen sich seine Platten ganz ordentlich. Zu gut, um bei einem kleinen Label zu veröffentlichen. Zu schlecht allerdings für einen großen Konzern. Nach dem Bankrott der kleinen Firma Rawkus Records, die sein erstes Album veröffentlicht hatte, wechselte er vor einiger Zeit zu Geffen, einem Teil der Universal-Gruppe. Ein gutes Verhältnis hatten der Rapper und die Plattenfirma angeblich nie, so ist er gerade auf der Suche nach einer neuen.

Um seinen Vertrag zu erfüllen, veröffentlicht er nun ein letztes Album bei Geffen, True Magic. Aber was ist das? Schon die Verpackung stiftet Verwirrung, sie ist lächerlich. Die bedruckte CD ist nur von einer weißen Papiertüte umhüllt, im Laden steht sie zum vollen Preis. Vorabexemplare für Journalisten sehen oft so aus, aber wie soll man mit so etwas Käufer erreichen? Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung könnte ungeschickter nicht sein: Die Platte erschien zwischen Weihnachten und Neujahr. Steckt dahinter ein genialer Schachzug der Plattenfirma? Sollen visuelle Reize vermieden werden, weil sie die Magie der Musik stören könnten?

Universal erklärt, es handele sich um eine Vorabveröffentlichung. Sie sei eine Reaktion darauf, dass das Album bereits seit Anfang Dezember im Internet kursiere. Eine offizielle Veröffentlichung mit schöner Hülle und Werbung solle im Laufe des Jahres erfolgen. Eine haarsträubende Firmenpolitik.

Die Musik wirft ebenfalls Fragen auf. Sie ist ungeschliffen und weniger vielschichtig, als man es von Mos Def gewohnt ist. Die Rhythmen sind minimalistisch und kaum experimentell. True Magic ist eine konservative HipHop-Platte, so etwas macht heute kaum noch jemand, keine Gastauftritte befreundeter Rapper, keine aufgeblasene Produktion. Aber genau das scheint Mos Defs Talent zu sein. Seine Stimme ist melodiös, das unspektakuläre und monotone Gewand stellt das heraus.

Auf seinem letzten Album The New Danger kokettierte er noch mit pathetischen Rockklängen. Die Besinnung auf seine Stärken klingt überzeugend. Die Stücke Undeniable und Fake Bonanza stechen heraus, There Is A Way ist ein optimistischer Hit. Andere Stücke trägt er mit nöliger Stimme vor, sie klingen etwas lustlos und niedergeschlagen, wenig selbstbewusst.

True Magic ist eine Platte voller Fragen, sie ist persönlich und fordert zur Auseinandersetzung auf. Hoffentlich ist es nicht seine letzte, er hat angekündigt, sich künftig auf seine Schauspielkarriere zu konzentrieren.

„True Magic“ von Mos Def ist erschienen bei Geffen/Universal

Eigentlich sollten Sie hier das soeben für den Grammy nominierte Stück „Undeniable“ zu hören bekommen. Die Plattenfirma Universal untersagte das mit dem Hinweis, „mit Rücksicht auf den Künstler“ solle die Platte momentan nicht explizit beworben werden. Auf der Website des Künstlers kann man sich einminütige Schnipsel verschiedener Stücke anhören

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Sollen die Typen doch heulen

Die Plattenfirma Monika legt zehn Finger an den Puls der Zeit: In der Reihe „4 Women No Cry“ erkunden jeweils vier Musikerinnen die Möglichkeiten der Elektronik

No Women No Cry Vol. 2

Zu den Schätzen vieler Plattensammlungen gehören Split-Singles. Das sind kleine schwarze Scheiben, auf jeder Seite musiziert ein anderer Künstler. Das Konzept funktioniert nur auf Vinyl wirklich gut, weil man zwischendrin umdrehen muss und die Stücke nicht wie auf CD ohne Pause ineinander übergehen.

Doch warum muss man sich auf Single-Kürze beschränken? Warum das nicht mal auf Langspielplatte ausprobieren? Das Berliner Label Monika hat im Jahr 2005 mit einer Serie begonnen, die genau dies tut. 4 Women No Cry heißt das Projekt. Vier Künstlerinnen steht jeweils eine der vier Seiten einer Doppel-LP zur Verfügung, fünfzehn Minuten also.

Künstlerinnen! Bob Marleys Liedtitel No Woman No Cry wird von ihnen absichtlich variiert. Das Motto: „Ist uns doch egal, ob die Typen zu Hause hocken und heulen. Wir machen Musik!“ Auf 4 Women No Cry hört man ausschließlich Frauen. Das ist nicht das einzige Prinzip der Reihe, vielleicht nicht einmal das wichtigste. Warum sollten Frauen keine gute Musik machen können?

International und elektronisch soll es zugehen. Jede Folge porträtiert Künstlerinnen aus unterschiedlichen Metropolen. Auf Teil 1 loteten Rosario Bléfari aus Buenos Aires, Tusia Beridze aus Tiflis, Eglantine Gouzy aus Paris und Catarina Pratter aus Wien die Weiten elektronischer Musik aus. Auf der nun erschienenen zweiten Doppel-LP sind es Dorit Chrysler aus New York, Mico aus London, Monotekktoni aus Berlin und Iris aus Barcelona. Viele Namen, aber auch viele Ideen, Eigenarten und Stilrichtungen.

Seite eins gehört dieses Mal Dorit Chrysler. In ihren fünf Stücken bringt sie Xylophon und Theremin zusammen mit sphärischen und verzerrten Gesängen, Fiepsen und Pluckern. Die Klänge wabern durch Räume, sie kommen kurz vorbei und verschwinden nach nebenan. Dann wieder drängen massive Rhythmen eine hitverdächtige Melodie voran. Eines der Stücke heißt My Sweet Chimera, das passt, denn so richtig festlegen lässt sich das Wesen ihrer Musik nicht.

Pause, Platte umdrehen. Die drei Stücke von Mico sind schon greifbarer. Ihr Dub ist behutsam und gleichzeitig hektisch, tanzen kann man dazu am ehesten ganz langsam. Besonders im Ohr bleiben ihre teils japanischen Texte bei Signal Found und Fruit Tree. Fast dadaistisch klingen sie, vielleicht ergeben sie dennoch Sinn?

Pause. Platte runter, Platte drauf. Monotekktoni ist das Projekt der Berlinerin Tonia Reeh. Auf den meisten ihrer Stücke kreischt und bollert es, verzerrte Gitarren, trötige Keyboards und schrammelige Rhythmen legen einen Klangteppich, über den sie mit eindringlicher Stimme singend schreitet. Ihre Lieder treiben und flirren. Dass sie aus unzähligen Klangfetzen, Synthesizern und Effektgeräten auch anderes basteln kann, zeigen das etwas ruhigere No Cry und das beinahe theatralische Pappeln.

Pause, umdrehen. Iris macht den Abschluss. Sie singt vier schöne Popstückchen, hymnisch, verspielt, freundlich. Bei ihr entsteht alles elektronisch, ihre fragile Stimme hat sie am Rechner weiter zerstückelt.

Gudrun Gut – eine Heldin der Elektroszene – kompiliert die Doppelalben der Reihe. Sie scheint ihre Ohren überall zu haben und legt zehn Finger an den Puls der Zeit. So findet sie, was andere Plattenfirmen suchen. In den Metropolen entwickelt sich elektronische Musik in unterschiedliche Richtungen weiter, schon lange gibt es keinen globalen Takt mehr, dem alle folgen. Richtig treffend lässt sich das alles nicht umschreiben, nur erhören.

Natürlich erscheint 4 Women No Cry auch auf CD. Die Doppel-LP funktioniert besser, außerdem ist sie viel schöner. Die exaltierten Rillen von Folge 2 sind in schickes weißes Vinyl geschnitzt. Die Serie soll jährlich fortgesetzt werden, das ist gut.

In der Reihe „4 Women No Cry“ sind bisher zwei Folgen als Doppel-LP und CD erschienen bei Monika

Hören Sie hier „Satellite“ von Dorit Chrysler, „After Rain“ von Mico, „No Cry“ von Monotekktoni und „Rolling Down“ von Iris

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Im Bitfrühschoppen

Über die Jahre (20): Wo kommt nun diese Musik her? „Spirituals“ von Flanger taucht New Orleans in Elektronik und bringt Partys zum Durchstarten

Flanger Spirituals

Es gibt Platten, die man gleich mag, eine Weile ausschließlich hört und die sich dann allmählich durch Begeisterung erschöpfen. Es gibt andere Platten, die erst nach dem dritten oder vierten Mal so richtig zünden und sehr, sehr lange bei einem bleiben. Die schnellen wie die langsamen Lieblingsplatten – sie sind selten, und man freut sich, wenn man gelegentlich eine gefunden.

Noch rarer sind die Favoriten einer dritten Kategorie: Man mag sie im Nu, auf lange Zeit, und sie gewinnen auch späterhin noch. Solche Platten sind sehr kostbar; man muss sie hüten, niemals verleihen – aber man darf natürlich von ihnen schwärmen, zumal in dieser Rubrik, die Musik nicht als Obst betrachtet, sondern als eine Sache von Dauer.

Wer kennt Flanger? Es ist das bikontinentale Duo aus dem Kölner Elektronik-Mischer Burnt Friedman und dem nach Südamerika ausgewanderten Frankfurter Uwe Schmidt, einigen vertraut als Señor Coconut durch seine Latino-Versionen von Kraftwerk-Titeln; zuletzt war er vergangenen Herbst mit eigenem Orchester in deutschen Landen auf Tournee.

Beide Musiker sind ohne eigentliche Instrumente: Sie drehen an Knöpfen, bis es uns die Köpfe verdreht und wir glauben, gar nicht mehr richtig zu hören. Flanger macht Musik, die den Kopf anspricht und in die Beine geht, auch das extrem selten.

Auf Spirituals, ihrem vierten Album, das im Jahre 2005 erschien, widmen sich die beiden Computermusiker dem Blues und dem Oldtime Jazz, damals wie jetzt nicht eben top-angesagten Richtungen. Was sie aus dem teils schwerblütigen, teils frühschoppigen Material machen, ist ohne Beispiel: eine durch und durch beschwingte Bit-Musik, die auf Anhieb funktioniert, ihre Wirkungsweise aber nur nach und nach preisgibt. Music Is Our Secret Code heißt treffend ein kurzes der insgesamt zwölf Stücke: Was hier in der Tiefe los ist, erschließt sich erst bei genauem, wiederholtem Hören.

Schein und Sein – es gibt Klavier, Gitarre, Schlagzeug, hier und da wird Klarinette gespielt oder sogar gesungen, aber es ist wie auf einem Bild David Hockneys: Das Haus mit den Palmen mit dem Pool mit der Wasseroberfläche ist nur Farbe auf Untergrund, die sich aufgekratzt als Illusion überführt.

Die Gitarrenlinie auf Music Is Our Secret Code, sie wird an manchen Stellen elektronisch angehalten, mikroskopisch repetiert, dann geht es weiter, als wäre nichts gewesen.

Das Tolle daran ist: Die feinsinnige Reflexion über das Medium beeinträchtigt die Tanzbarkeit nicht. Wer gelegentlich Platten auflegt, um Abende in Schwung zu bringen, kann mit Flanger zu vorgerückter Stunde jede Party zum Kochen bringen, obwohl die Stücke keine seit langem bewährten Kracher sind.

Die Ästhetik dieses rückwärtsgewandten Albums ist dabei absolut zeitgemäß. Wer den Anschluss an aktuelle Musik vor Jahren oder Jahrzehnten verloren hat, hier kann er wieder einsteigen.

Und von wegen New Orleans: Für diesen Blues gibt es keinen rechten Ort mehr; seine Heimat liegt in den Platinen.

„Spirituals“ von Flanger ist im Jahr 2005 als CD und LP erschienen und erhältlich bei Nonplace

Hören Sie hier das raffinierte „Music Is Our Secret Code“ und den Hit „Peninsula“

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(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Sehnsüchtiges Taumeln

The Gentle Lurch aus Dresden machen schrullige Countrymusik. Die Stücke auf ihrem ersten Album „From Around A Fire“ torkeln, das Klavier klimpert betrunken, nicht mal der Kontrabass steht hier wirklich aufrecht

The Gentle Lurch

Die Slide-Gitarre säuselt, die Orgel hallt, die Mundharmonika quietscht. Ist das Country? Schon. Cowboys? Bedingt. Wilder Westen? Ganz und gar nicht. Eher schon wilder Osten. The Gentle Lurch haben ihr knisternd züngelndes Feuer in der weiten sächsischen Provinz irgendwo zwischen Ziegra-Knobelsdorf und Töpeln entzündet. Unter freiem Himmel lagern sie an den Ufern der Zschopau, die sich in weiten Schleifen durch schroffe Felsen und romantische Landschaften hinabwindet zur Talsperre Kriebstein. Ab und an steigt einer auf die Simson, fährt zur Tankstelle und holt neues Bier. Die beiden Cowboys heißen Lars Hiller und Frank Heim, das Cowgirl im Bunde ist Cornelia Mothes.

Zunächst: der Name. The Gentle Lurch, was soll das sein? Das sanfte Taumeln? Hört man die Musik auf ihrem ersten Album From Around A Fire, versteht man schnell, dass die Gruppe keinen passenderen Namen finden konnte. Die Stücke eiern ganz gehörig, schlingern und torkeln. Das Klavier klimpert betrunken, nicht mal der Kontrabass steht hier wirklich aufrecht. Es ist schon irgendwie Country, wenn auch ziemlich schmuddelig und schrullig. Country aus dem die Spielfreude klingt und weniger die existenzielle Inbrunst, die den Kollegen aus dem Westen so eigen ist. Stil-Puristen würden wohl schon die Melodika, diese lustige Kreuzung aus Blas- und Tasteninstrument, im Lied Evil Women verabscheuen.

Die elf Stücke der Platte sind ruhig und schön. Einfache, auf der Gitarre gezupfte Akkorde werden von hübschen Klavier- und Akkordeonmelodien und warmen Bassläufen umspielt. Immer wieder tauchen neue Instrumente auf, hier ein Banjo und eine Orgel, dort Harmonika und Trompete. Oft gibt es kein richtiges Schlagzeug, das Klopfen auf den Korpus der Gitarre gibt dann den Rhythmus vor. Bei The Night When Frank Got Drunk For The First Time, Age 23 albern sie mit einem Kinderkeyboard und einem Schlagzeugcomputer rum. Ab und an hört man, wie sich jemand eine Zigarette ansteckt, im Hintergrund knistert ein Lagerfeuer. Oder ist das nur Einbildung?

Lars Hillers Stimme passt zur Stimmung der Lieder, zu ihrer Ruhe. Sie klingt unaufgeregt und warm, oft spricht er mehr, als er singt. Als würde er guten Freunden nachts am Feuer ein paar Anekdoten zuflüstern, auf englisch. Denn gas station klingt besser als Tankstelle, hedgehog geheimnisvoller als Igel und sky weiter und höher als Himmel. Bei einigen Stücken singt Hiller mit Cornelia Mothes im Duett, dann ist Nashville nicht mehr fern.

Sie nehmen ernst, was sie da tun. Die Slide-Gitarre und die Mundharmonika sollen nichts ironisieren, zum Glück. Auch die Texte bersten vor Klischees, sie erzählen von einer Cowboy-Welt, wie man sie aus dem Kino kennt. „The first thing you gotta to do / When you’re coming into town / Is to find a way out“ – Worte, die aus dem Mund von John Wayne oder Clint Eastwood stammen könnten. Die Musik passt zu den Bildern, die sie erzeugt. Bei Bar Or Disco wird die Melodika sehnsuchtsvoll und traurig geblasen, “A few days ago a friend and I went up into the mountains / We stared into the campfire, we talked about / How good it would feel, how nice it would be, having girls around / Lalalalala lala lalalalalala lala”. Mountains klingt wie „mauns“, selbst einen amerikanischen Akzent hat der Sänger sich zugelegt. Auf dieser Platte passt einfach alles zusammen.

„From Around A Fire“ von The Gentle Lurch ist als CD erschienen bei Schinderwies und im Vertrieb von Broken Silence. Erhältlich ist sie auch bei Finetunes

Hören Sie hier „PR Folks“

Lesen Sie hier: Ein Portrait der Regensburger Plattenfirma Schinderwies Productions

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Die Winterreise

Was Schubert konnte, kann Schlippenbach schon lange: Drei alte Freejazzer fahren durch die deutsche Provinz. Und erleben so einiges

Schlippenbach-Trio Winterreise

Bei Dunkelheit und schlechtem Wetter in einer unbekannten Stadt anzukommen, erst mal „Hotel Kacke“ in der Kackgasse und dann den Club zu finden, sei ein melancholisches Geschäft, berichtet Alexander von Schlippenbach von der alljährlichen Winterreise seines Trios. Immerhin seien die Clubs heute etwas komfortabler als vor 35 Jahren, als alles begann. In den Anmerkungen zur neuen CD mit frei improvisierter Musik notiert Schlippenbach auch Zeichen der Veränderung – die Clubs seien heute etablierter, da sie oft mit städtischen Kulturbehörden zusammenarbeiten, könnten sie auch etwas bessere Gagen zahlen.

Mit Schlippenbach am Steuer, Parker als Straßenkartendeuter und Lovens auf dem Rücksitz geht es, jedes Jahr im Dezember, auf eine kleine Tour durch ausgewählte Clubs der Republik. Unlängst wurden Parkers Karten durch das Navigationssystem „Lisa“ ersetzt. Schnell hat man es in „Moni“ umgetauft, das Hotel in der Kackgasse findet man mit ihrer Stimme tatsächlich viel schneller. Parker beschreibt die Tour als eine Mischung aus Urlaub und Verpflichtung. Lovens ist für die Musik im Auto zuständig – letztens haben sie auf der Fahrt fast ausschließlich Soli des Saxofonisten Wayne Shorter gehört, die Lovens auf Kassetten kopiert hatte. Die Musikstücke setzten immer erst da ein, wo das Solo beginnt und brachen ebenso abrupt wieder ab.

Das Schlippenbach-Trio hat europäische Freejazzgeschichte geschrieben, seine Musik swingt. Es gilt heute als eines der langlebigsten Kollektive der Improvisierten Musik. Die Vielfalt der gemeinsamen Erfahrungen und Ideen hört man während dieser knapp 70 Minuten Musik auf Winterreise sehr deutlich. Die kollektive Improvisationshaltung Schlippenbachs widerspricht jenen musikalischen Gesetzgebern, die auf das einmalige Ereignis setzen. Das macht die Musik des Trios so wundervoll: Intensität und Dichte, Klangberge und leise Horizonte aus einer gut gefüllten Schatztruhe gemeinsamer Spielerfahrung geschöpft.

„Winterreise“ vom Schlippenbach-Trio ist erschienen bei Psi Records

Hören Sie hier „Winterreise“

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Kanadas schrägste Tanzfläche

Auf „Plays Polmo Polpo“ spielt Sandro Perri Stücke seiner eigenen Band nach. Lange Instrumentalnummern verwandelt er in fragile Lieder voller Melodie

Sandro Perri Plays Polmo Polpo

Das Label Constellation Records aus Montréal in Kanada steht für experimentellen Independent-Rock. Seine Veröffentlichungen zu hören, lohnt eigentlich immer. Godspeed You Black Emperor sind das Aushängeschild der Firma, die auch mit der liebevollen Aufmachung ihrer CDs und Platten besticht. Im Jahr 2003 erschien hier Like Hearts Swelling von Polmo Polpo, dem Ein-Man-Projekt von Sandro Perri. Und eben dieser Sandro Perri spielt nun seine eigenen Lieder nach, der Titel der Platte verrät es: Sandro Perri Plays Polmo Polpo. Ein zweiter Aufguss?

Ganz und gar nicht. Die zwischen Postrock, Klangcollage und Minimalismus oszillierenden Klänge Polmo Polpos kommen nun als eigenwillige Lieder daher. Die Platte beginnt mit fünfeinhalb Minuten Instrumentalmusik. Der Rhythmus schunkelt vor sich hin, eine Bassklarinette setzt Akzente. Eine Mundharmonika und eine Slide-Gitarre schaffen eine Atmosphäre, die nichts mit Country-Musik, aber viel mit amerikanischer Weite zu tun hat. Später tritt noch ein Akkordeon hinzu und etwas, das wie ein Theremin klingt. Das alles wirkt auf angenehme Weise schräg. Romeo Heart heißt das gute Stück. Die Mischung aus melodieverliebter Eingängigkeit, der Freude am Puren und an repetitiven Rhythmen charakterisieren Perris Klang.

Einiges ist collagiert – in Requiem For A Fox reiben sich verschiedene Gitarrenspuren aneinander. Die Stücke folgen seltsamen Metren, vertraut wirkende Formen zerfallen. Das alles erinnert an Red Krayola und andere Avantgarde-Pop-Bands der neunziger Jahre.

Ist Like Hearts Swelling eine reine Instrumentalplatte, so singt Perri nun mit sanfter Stimme. Die neu eingespielten Stücke sind transparent und schlank; dem Material tut das gut. Die ungewohnte Instrumentierung setzt Akzente, die in den extrem dichten Klangschichten von Like Hearts Swelling wohl gar nicht aufgefallen wären.

Perri wandert zwischen den Welten. Hier Disco, da E-Musik, ein eigenwilliger, identifizierbarer Stil. Er liebt seine Melodien, aber klebt nicht an ihnen. Wie – zwanzig Jahre vor ihm – Arthur Russell. Auf anderen Platten – zum Beispiel der Polmo Polpo-Maxi Kiss Me Again And Again, einer Russell-Coverversion und der Platte seines Nebenprojekts Glissandro 70 – schiebt er seine Lieder auf die Tanzfläche, die irgendwo im New York der späten achtziger Jahre zu sein scheint. Oder vielleicht ja auch in einer schöneren Zukunft, in der Sandro Perri täglich im Radio liefe.

„Plays Polmo Polpo“ von Sandro Perri ist als CD und LP erschienen bei Constellation Records

Hören Sie hier „Sky Histoire“

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Verschwommenes Knistern

Mit weit geöffneten Augen schlafwandelt die Berlinerin Milenasong durch eigentlich altbekannte Klanglandschaften. Die Musik auf ihrem Album „Seven Sisters“ ist schrullig, sie scheint in keine Zeit und an keinen Ort der Welt so recht zu passen.

The Cure Festival 2005

Das Album Seven Sisters von Milenasong ist Tinte in die Füller der Musikschreiber. Was werden wir wohl darüber lesen: Ist es »eine wunderbare Platte, um einem verregneten Herbsttag am Fenster zu sitzen«? Als feingliedrig und — im schlimmsten Fall — elfenhaft will man uns melancholische Musik von Frauen allzu oft verkaufen. Von da ist es nicht weit zu kleinen Händen und ganz großen Augen, die einen Beschützer suchen. Aber ist es wirklich so? Seit Jahren arbeitet die Berlinerin Sabrina Milena in Eigenregie und ist ständig auf Tournee, dafür muss man zäh sein. Und ist die Musik, die sie nun unter dem Namen Milenasong veröffentlicht, noch so traurig, das Klischee von der fragilen Künstlerin passt auf sie nicht.

Es müssen schnell neue Bilder her, und Seven Sisters erzeugt sie sie sofort. Die Realität rückt schon mit den ersten Akkorden in die Ferne, als gleite man mit einem Schiff durch nebliges Gewässer. Oder ist es doch eine klare Wüstennacht? Die Bilder verschwimmen, im Traum entstehen absurde Verknüpfungen. Eine morbide Atmosphäre macht sich breit.

Sabrina Milenas Musik ist schrullig, denn sie scheint in keine Zeit und an keinen Ort der Welt so recht zu passen. Mal klingt sie nach düsteren norwegischen Wäldern, mal nach der amerikanischen Wüste. Wie aus einem Grammofon knistert sie warm, das ändert auch die neben der Akustikgitarre eingesetzte Elektronik nicht. Ein wiederkehrendes Motiv des Albums ist die Klangästhetik von Kassetten. Kassetten schleifen in Schwaden, vorwärts und rückwärts, entrücken, verzücken und wissen im richtigen Moment auch zu stören.

Hinter dem minimalistischen Gewand liegen aufwändige Arrangements. Die Detailverliebtheit dieser subtilen Produktion ermutigt zum wiederholten Hören von Seven Sisters. Und Sabrina Milenas Talent, innerhalb eines Stücks verschiedene Richtungen einzuschlagen. Ihre Einflüsse reichen vom Folk bis zu Country und Blues. besonders beeindruckend zeigt dies das Stück Figs Tree.

An einigen Stellen hält ihre Stimme dem Anspruch der Arrangements nicht stand, gerade in den tieferen Lagen klingt sie gedrungen. Dennoch berührt sie den Hörer auf Anhieb, ihre Chöre erzeugen Gänsehaut.

Mit weit geöffneten Augen schlafwandelt das ausgezeichnete Debütalbum von Milenasong durch eigentlich altbekannte Klanglandschaften. Sie hat ihre ganz eigene Formel gefunden.

„Seven Sisters“ von Milenasong ist als CD und LP erschienen bei Monika

Hören Sie hier „Figs Tree“

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Feuer unter kalten Füßen

Der Gitarrist Grant Green servierte dem Publikum des „Club Mozambique“ im Januar 1971 perlende Soli auf brodelndem Fundament. Dazu röhrten schrill und heiser die Saxofone – James Brown ließ grüßen

Grant Green Laive At The Mozambique

Grant Green wird häufig vergessen, wenn es darum geht, die Gitarren-Genies der Jazzgeschichte zu benennen. Anfang der sechziger Jahre war er der lässige König der E-Gitarre, beim Jazzlabel Blue Note gehörte er in dieser Zeit zu den Musikern mit den meisten Einspielungen. Er erfand das moderne Gitarrenswingtrio neu. Im Jahr 1979 starb er in New York mit nur 43 Jahren hinter dem Steuer seines Wagens an einem Herzinfarkt. Viele Aufnahmen sind bis heute unveröffentlicht.

Mit Live At Club Mozambique macht Blue Note nun eine dieser Aufnahmen zugänglich. Sie stammt von Anfang des Jahres 1971. Die acht Stücke wurden bei zwei Auftritten im Detroiter Flachdachschuppen Club Mozambique mitgeschnitten. Da die originalen Mehrspurbänder nicht überlebt haben, wurde die CD von einem damals entstandenen Mono-Mix produziert. Ein Wehmutstropfen, der leicht zu verschmerzen ist, denn der Zauber, den Green und Band damals entfachten, blieb erhalten.

Green hatte seine ganz große Zeit damals schon hinter sich. Im Jahr 1966 hatte er sich für einige Zeit von Blue Note getrennt, wegen seiner Drogenabhängigkeit war er zwei Jahre lang musikalisch inaktiv. Bestimmte der gelassene Klang des eleganten Gitarristen die frühen Sechziger, so wurde er nun von anderen in den Schatten gestellt, Wes Montgomery und später George Benson waren die neuen Innovatoren. Greens Comeback im Jahr 1969 blieb weitgehend unbeachtet.

Zu Unrecht. Während seiner Pause hatte er sich einiges bei James Brown und dem Motown-Soul abgehört. Ende des Jahres 1969 gründete er in der Industriestadt Detroit eine neue Gruppe und servierte dem Publikum seine kühl perlenden Gitarrensoli fortan auf einem funkig brodelnden Fundament.

Die beiden Heimspiel-Abende im Club Mozambique zeugen davon, wie tanzbar der Gitarrist Jazz mit den damals angesagten Rhythmen und Klängen verlötete. Heiser und schrill röhren und quietschen die Saxofone (Clarence Thomas und, als Gast, Houston Person), während die Orgel von Ronnie Foster scharf die Akkorde setzt und die Stücke vorantreibt. Den besonderen Dreh erhalten die Aufnahmen durch den irrwitzigen Schlagzeuger Idris Muhammad, auf unnachahmliche Art lässt er die Hi-Hat scheppern und unterlegt den Auftritt mit rhythmischem Feuer.

Derart angeheizt wird am frostigen Januarabend selbst aus der Burt-Bacharach-Schnulze Walk On By eine mitreißende Tanznummer. Live At Club Mozambique führt vor, wie heiß auch zeitgenössischer Jazz klingen könnte. Und gegen kalte Füße wirkt die Platte sowieso.

„Live At Club Mozambique“ von Grant Green ist erschienen bei Blue Note/EMI

Hören Sie hier „Walk On By“

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