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Unters Eis

Pantha du Prince macht den Winter hörbar – mit mikroskopisch feinen und überraschenden Tönungen. „This Bliss“ ist ein Album zum rauschhaften Lauschen

2raumwohnung 36 Grad

Draußen streiten die Winde, die Menschen bibbern vor Kälte. Einige Mutige wagen sich auf den zugefrorenen See. Plötzlich bricht das Eis, eine Spalte tut sich auf, die Geigen tremolieren, das Cembalo jagt davon. Antonio Vivaldi mochte den Winter nicht. In einem Sonett zu seinen berühmten Vier Jahreszeiten fragte er gar, welche Freude er überhaupt bringe.

Vor 280 Jahren waren die Winter wohl härter als heute. Der Fortschritt mag dazu geführt haben, dass uns ein unberührter Schneehang und Eiszapfen am Fenster romantisch stimmen. Hendrik Weber lässt nun den (post)modernen Winter klingen und lädt zum Eisbaden ein. Als Pantha du Prince steigt er ins schwarze Wasser, kurz vorm Gefrierpunkt. Ein regelmäßiger, warm tropfender Beat und das Echo eines Synthesizers sind sein Basso Continuo. Aus der Tiefe schnellen silbrige Bläschen empor. Ganz still liegt der See. Der nackte Körper gewöhnt sich an die Kälte, findet seinen Rhythmus. Mit Armen und Beinen wirbelt er einen minimalen, technoiden Dub ins Nasse. Immer neue Strömungen formen sich, verlassen das Zentrum, sammeln sich in einem Nebel aus Wasserperlen, stieben auseinander, treffen sich wieder.

In sphärische Weiten entführen die Töne Hendrik Webers. Regelmäßigkeiten lösen sich auf, Phrasen enden unvermittelt im Nichts, gefallene Fäden werden aufgenommen und weiter verwoben. Das ist Techno der feinen hanseatischen Art, wie ihn das Label Dial hervorbringt. Nicht zum ekstatischen Tanzen, sondern zum berauschenden Hören erdacht.

Welch’ Wonne, welch’ ungeahnte Feinheiten gibt es zu entdecken auf diesem Album von Pantha du Prince. This Bliss hat er es passend genannt. Seine Arrangements sind instrumental und bleiben in ihrer feinen Stimmführung und molekularen Motiventwicklung die ganze Platte über spannend. Er lässt den Klängen ebenso viel Freiraum wie dem Zuhörer: Nur wenige Stücke sind so programmatisch wie Eisbaden. Jeder darf interpretieren, erkennen, verwerfen. Hendrik Weber will sich und seine Musik nicht erklären und hofft doch, wie jeder Künstler, auf Verständnis.

Das hat er verdient.

„The Bliss“ von Pantha du Prince ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Dial/Kompakt

Hören Sie hier „Eisbaden“

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Rumpeln im Jungszimmer

Es geht durch die wilden Nächte Londons. Viel Alkohol, ein bisschen Koks – möge das Wochenende ewig dauern. Großbritanniens neuer Jugendheld Jamie T erobert die Mädchenherzen und träumt von der Liebe

Jamie T Panic Prevention

Seit einigen Monaten taucht sein Name immer wieder auf, in den Blogs und neuerdings auf den großen Feuilleton-Seiten. Der 20-jährige Jamie T ist der neue Held der britischen Jugendlichen. Die Texte sind nicht seine Stärke. Es ist die Art und Weise, wie er sie auf seinem Debütalbum Panic Prevention vorträgt, die im Gedächtnis bleibt: unmittelbar, ohne Selbstschutz.

Durch die Nacht Londons geht es. Einen Drink und noch einen, später eine Linie Koks, das Wochenende hört nie auf. Mädchen werden erobert, Alkohol senkt die Hemmschwelle, man träumt ein bisschen von der Liebe. Das ist eben Jungszeug, zumindest, wenn man wie Jamie T mit Anfang 20 in Großbritannien lebt.

Sein Akzent erinnert an Mike Skinner und Joe Strummer von The Clash. Ebenso wie Strummer hat Jamie Treays – so heißt der junge Mann mit vollständigem Namen – viel Zeit in Südlondon verbracht. Er hat Mixtapes aufgenommen und im „12 Bar Club“ in Soho den Bass angeschlagen, allein und mit Freunden. Panic Prevention Disco nannte sich die Veranstaltungsreihe, denn Jamie, so heißt es im Waschzettel der Plattenfirma, litt eine Zeit lang an „schweren Panikattacken“.

Vom politischen Bewusstsein The Clashs trennt ihn weit mehr als das Alter. Seine Lieder handeln vom Privaten. Viele spielte er in seinem Wohnzimmer ein. Rumpelnde Rhythmen, wuchtige Basslinien und grob zusammengefügte Klangschnipsel bestimmen die Heimbastler-Ästhetik. Genau das macht den Charme der Lieder aus. Kein Glattbügler der großen Plattenfirma durfte vor Veröffentlichung noch einmal Hand anlegen.

In die deutschen Hitparaden wird Jamie T es wohl kaum schaffen. In England hingegen ist ihm bereits mit seiner Debütsingle Salvador im vergangenen Jahr Platz 22 geglückt. If You Got The Money schaffte es sogar auf Platz 13. In seiner Musik vereint er viele Stile, zeitgenössische Tanzflächen-Spielarten gehören ebenso dazu wie Ska, Punk, Rock und Reggae. Der Minimalismus der Produktion weist die Richtung. Wirklich neu ist das alles nicht, aber in Zeiten zu vieler Einheitsproduktionen erfrischend.

„Beruhige dich, Liebste!“, heißt es in einem Stück. Und weiter: „Wir kommen nächste Woche wieder, da bin ich mir sicher, und sitzen dann in der Bar, die du kennst. Also Bye, Bye, Bye, wir versuchen, niemals zu sterben. Wir sind so jung, wir verstehen nicht, dass wir nicht fliegen können.“ Ach, süßer Vogel Jugend!

„Panic Prevention“ von Jamie T ist erschienen bei EMI/Labels

Sehen Sie hier „Salvador“ und „If You Got The Money“

Jamie T ist Anfang März auf Tour durch Deutschland

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Ziemlich kühl

Traurige Trompeten, ungestüme Saxofone, swingende Klarinetten und ein gelassenes Klavier: „The Complete Pacific Jazz Sessions“ von Gil Evans vereint zwei seiner besten Alben aus den späten Fünfzigern

Lewis - Streaming, Please

Im Frühjahr 1958 und um die Jahreswende 1958/59 spielte der Pianist und Arrangeur Gil Evans die beiden Alben New Bottles, Old Wine und Great Jazz Standards in New York ein. Lange Zeit waren die Aufnahmen schwer erhältlich, das ist nun vorbei: Auf Complete Pacific Jazz Sessions gibt es sie im Doppelpack und in voller Klang-Pracht.

Gemeinsam mit dem Trompeter Miles Davis erfand Evans den Cool Jazz, jenen kühlen, abgeklärten Klang, der sich Ende der vierziger Jahren zwischen den heißen Bebop und den ein paar Spuren zorniger brodelnden Hardbop schob. Gemeinsam schufen die beiden Musiker stilbildende Alben wie Birth of the Cool, Porgy & Bess und Sketches of Spain. Neben den im Jazz üblichen Instrumenten brachten sie Waldhorn, Tuba, Piccoloflöte und Bassklarinette zum Klingen, ihr Jazz war überraschend.

Die beiden auf The Complete Pacific Jazz Sessions vereinten Alben gehören zum Besten, was Evans mit großer Formation eingespielt hat. Die Besetzungen waren beinahe identisch, das Konzept einfach. Alte und neue Jazzklassiker, sei es der traditionelle St. Louis Blues oder die modernistische Ballade ’Round Midnight, wurden in neuen Versionen aufgenommen.

Die beiden Hälften der CD unterscheiden sich im Charakter. Die ersten acht Stücke (New Bottles, Old Wine) dominiert der Altsaxofonist „Cannonball“ Adderley, der seinen Spitznamen nicht ohne Grund trägt. Sein gewaltiges, bluesiges Spiel reibt sich an den luftigen Arrangements von Evans, manches Solo gerät gar etwas schnörkelig. Allein Manteca, eigentlich ein afro-kubanischer Feger, kommt in Evans Bearbeitung hüftsteif und eckig daher. Alle anderen Arrangements entfalten einen heiß-kalten Zauber.

Noch besser wird es dann im zweiten Teil (Great Jazz Standards) – ohne Adderley, dafür mit einer Vielzahl großartiger Solisten. Zum Beispiel dem wundervollen Trompeter Johnny Coles, dessen trauriger Ton es mit dem des großen Miles Davis aufnehmen kann; und dem ungestümen Sopransaxofonisten Steve Lacy, dessen Läufe stählern strahlen; und dem Klarinettisten und Tenorsaxofonisten Budd Johnson, der herrlich zurückgelehnt swingt.

Hier passt alles zusammen, bis zu Elvin Jones‘ großem Schlagzeugfinale im letzten Stück La Nevada (Theme). Wenn ganz am Ende das Thema wieder einsetzt, hört man Gil Evans am Klavier, wie er weit auseinander liegende Töne spielt – der „Svengali“ (ein Anagramm des Re-Arrangeurs) ist in Bestform.

„The Complete Pacific Jazz Sessions“ von Gil Evans ist als CD erschienen bei Blue Note

Hören Sie hier „La Nevada (Theme)“

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Mit Papa am Kamin

Früher hatte Tobias Kuhn eine Band. Seit einigen Jahren nimmt er schöne Soloplatten auf, denn da muss er nicht so viel diskutieren. Auch auf seinem neuen Album „The Brilliant Masses“ dichtet er feinsinnige Zeilen zu überaus charmanten Tönen

The Good The Bad The Queen

Monta kommt aus Würzburg und heißt eigentlich Tobias Kuhn. Früher einmal sang er bei Miles, seit drei Jahren macht er sein eigenes Ding. Ein Mini-Album und ein großes hat er bislang veröffentlicht, dieser Tage folgt The Brilliant Masses.

Die Stücke klingen warm und vertraut. Es ist, als säße man bei Tobias Kuhn am bollernden Kamin, der Musiker mal am Klavier, mal an der Orgel, eine unsichtbare Band in der Küche. Die Stücke unterscheiden sich nicht wesentlich von denen des letzten Albums. „Mir gefiel die Stimmung, mit der wir Where Circles Begin aufgenommen haben, ich wollte das wiederholen. Ich wollte an die Sache genauso herangehen, wie damals. Deswegen hatte ich auch Herwig Zamernik wieder als Produzent dabei.“ Zu wenig Ambition? Tobias Kuhn kann sich das leisten, denn er hat einen schönen Stil. Seine Lieder klingen charmant, immer auch ein bisschen schleppend und schummrig. Er hat aus seiner Melancholie Lieder verfasst, die die Zuhörer aufrichten und erheitern.

Eine Band ist da eigentlich gar nicht. Tobias Kuhn hat fast alles allein gemacht. „Man diskutiert einfach nicht so viel wie in einer Band. Ich kann alles so haben, wie ich es möchte.“ Nur für das Schlagzeug heuerte er verschiedene Musiker an, das kann er nicht spielen. Hier und da hieb auch ein Anderer in die Tasten.

In Jörg Adolphs Dokumentation über die Entstehung des Notwist-Albums Neon Golden sieht man den Texter Markus Acher mit einem englischen Wörterbuch im Studio sitzen. Er sucht Worte, die gut klingen und sich reimen, findet welche, verwirft sie wieder. „Bei mir lief das anders, die Stücke hatten Zeit zu reifen. Die Texte sind mir ungeheuer wichtig“, sagt Tobias Kuhn. Während des vergangenen Jahres schrieb er immer wieder auf, was ihn bewegte. Das macht seine Texte sehr direkt, die Situationen, Ängste und Hoffnungen im Hintergrund werden plastisch. Manche Wendung reicht in ihrem behutsamen Umgang mit Metaphern und ihrem feinen Humor an die Lyrik des Smiths-Sängers Morrissey heran. „Exclusion is a privilege, I’m happy to be privileged, Yes I am, heißt es in Montas Capitulate; „I’ve never had a job, because I’ve never wanted one”, sang Morrissey im Jahr 1983 in You’ve Got Everything Now. Kuhns PR-Waschzettel zur Platte nennt das “brutal authentisch.” „Das Wort brutal hätte ich wohl weggelassen”, sagt er.

Vor beinahe zwei Jahren ist Tobias Kuhn Vater geworden, auch das liest man aus seinen Zeilen. Wärme und Verlustängste klingen durch und die Suche nach einem Umgang mit den Bedrohungen von innen und außen. „The blanket is all yours, It’s there to give you space. To feel the love we offer, You’re welcome to this place. Your humming sounds familiar, as if it’s always been around. Your smile is pure like water, I’ll carry you all the way up and down, over every steep step, around every single brick”, singt der Vater für seinen Sohn, ohne dass es schmalzig oder pathetisch klingt.

Tobias Kuhn ist ein großer Fan von Depeche Mode. Auf beiden seiner bisherigen Veröffentlichungen interpretierte er je ein Stück der Band neu, erst Shake The Disease, dann In Your Room. Diesmal nicht, woran liegt das? „Ich hatte schnell neunzehn Stücke zusammen, es war einfach kein Platz mehr.“ Dafür klingt der Albumtitel wie eine Anspielung auf Depeche Modes Music For The Masses. Eine weitere Huldigung der Idole? „Das ist mir gar nicht aufgefallen, das ist Zufall. The Brilliant Masses war das erste Stück, das hat mich die gesamten Aufnahmen über begleitet. Deswegen war es für mich der beste Titel für die Platte.“ Es wäre eigentlich auch eine seltsame Referenz, denn auf diesem Album findet man Vieles, aber ganz bestimmt keine Musik für die Massen.

„The Brilliant Masses“ von Monta ist als CD erschienen bei Labelmate/Klein Records

Hören Sie hier „Good Morning Stranger“. Ein schönes Video zu dem Stück sehen Sie hier.

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No Krach-Kunst, Baby!

Über die Jahre (21): Es ist das Jahr 1990. Goo spannt ihrer Schwester den Freund aus. Sie töten gemeinsam ihre Eltern und fliehen. Zum Abschied drückt sie einen pinkfarbenen Kuss an die Wand

Sonic Youth Goo

Eine Pop-Art-Zeichnung ziert die Hülle von Goo: Ein Pärchen mit Sonnenbrillen, er hat seinen Arm lässig auf ihrer Schulter abgelegt, sie raucht. „I stole my sister’s boyfriend. It was all whirlwind, heat, and flash. Within a week we killed my parents and hit the road“, steht daneben. Auf der Rückseite hat das Mädchen namens Goo einen Kuss hinterlassen, einen Abdruck von pinkfarbenem Lippenstift. Die Elemente der Plattenhülle sind mit Tesafilm zusammengeklebt, das kann man noch sehen. Eine schöne Hülle für ein schönes Album, aus einer Zeit, in der noch nicht jede Grafik am Computer produziert wurde. Das Motiv wurde tausendfach auf T-Shirts gedruckt, die Musik durfte Anfang der Neunziger in keiner Indie-Disko fehlen.

In den Liedern von Sonic Youth wechseln sich Lärmwände, experimenteller Krach und feine Melodien ab. Die Stücke auf Goo neigen zur Melodie, jedes einzelne ist ein tanzflächentauglicher Brillant. Damit unterscheidet es sich von vielen ihrer Alben, die mit ihren unvermittelten Lärmexperimenten immer wieder daran erinnern: Dies ist Krach-Kunst, Baby!

Goo war das erste Album, das Sonic Youth bei der großen Plattenfirma Geffen herausbrachten. Lee Ranaldo an der Gitarre, Steve Shelley am Schlagzeug, das Paar Thurston Moore und Kim Gordon singt abwechselnd. Thurston Moores Stimme zur Gitarre ist schön, aber die Lieder, die Kim Gordon singt oder spricht, sind besser: mal sanft, mal nölig, aber immer lässig und eine Spur gelangweilt.

Sie wird Jahr für Jahr attraktiver und zeigt souverän, dass man mit über 40 immer noch ein Punkmädchen sein kann, jenseits aller Klischees. Sie war und ist ein Rollenmodell anderer Art. Statt ihren Körper in den Vordergrund zu rücken, kümmert sie sich um ihren Bass und singt. Körperliches findet nebenbei statt, ihre Sinnlichkeit transportiert sie über den Gesang.

Die New Yorker Band arbeitet seit 1981 im Krach-Werk. Sie kultivierte mit ungestimmten und umgestimmten Gitarren etwas, das bei ihren Vorbildern Iggy & The Stooges und Velvet Underground seinen Anfang nahm. Mittlerweile sind Sonic Youth nicht nur Eltern, sondern auch so etwas wie die großen Geschwister unzähliger Musikhörer und Übungsraummugger. Und immer noch versprühen sie die Coolness des Paares auf der Hülle von Goo.

„Goo“ von Sonic Youth ist im Jahr 1990 bei Geffen/Universal erschienen und kürzlich als Doppel-CD bzw. Vierfach-LP mit ergänzenden Aufnahmen wiederveröffentlicht worden.

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Kool Thing“, das Sonic Youth gemeinsam mit dem Rapper Chuck D von Public Enemy aufgenommen haben

Lesen Sie hier eine Besprechung des letzten Sonic Youth-Albums „Rather Ripped“

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(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
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(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
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(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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London ruft

Damon Albarn greift wohl nie daneben: Er ist Kopf und Sänger von Blur und den Gorillaz. Und auch sein neues Projekt The Good, The Bad & The Queen klingt ganz schön aufregend

The Good The Bad The Queen

Kaum eine Stadt spielt in der Geschichte der Popmusik eine so große Rolle wie London. Vom Swinging London über die Punkbewegung und den wuseligen Britpop der neunziger Jahre bis hin zu zeitgenössischen Tanzflächen-Spielarten, in den Clubs der Stadt entsteht Neues.

Viele Musiker haben London Alben auf den Leib geschrieben, die die Zeit überdauert und die Straßen zwischen Kings Cross und Tower Bridge ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt haben. London Calling von The Clash kommt einem in den Sinn, Blurs Parklife und Alben von The Jam, The Who und David Bowie.

Damon Albarn war als Kopf der Band Blur ein Auslöser der Britpop-Welle. Doch das erstarkte britische Selbstbewusstsein, die Rede von Cool Britannia und die enge Verbindung zwischen Tony Blairs New Labour und der Popmusik stießen ihn bald ab. So wendeten er und seine Band sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs Mitte der neunziger Jahre der amerikanischen Independent-Musik zu. Blur drehten entschlossen die Gitarrenverstärker auf, die Stücke ihrer späteren Alben klangen zerfahren. Der englische Pop wurde vom musikalischen Experiment abgelöst, ein Schlussstrich unter die eigene musikalische Vergangenheit gezogen. Später eroberte Albarn mit seinem Projekt Gorillaz (zusammen mit dem Zeichner Jamie Hewlett) den Tanzboden, machte eine kauzige Soloplatte (Democrazy, 2003) und tauchte in die Klangwelten Malis ein (Mali Music, 2002).

Mit drei namhaften Musikern wagt sich Albarn nun als The Good, The Bad & The Queen in die Weiten des Pop zurück. Paul Simonon spielte einst Bass bei The Clash, der Nigerianer Tony Allen war Schlagzeuger bei Africa 70 und Fela Kuti, und der ehemalige Gitarrist von The Verve Simon Tong unterstützte Albarn bereits bei den Gorillaz. Gemeinsam schufen sie eine Art Konzeptalbum über das multikulturelle London. Die Stadt stellte die Einflüsse bereit, der Sänger ersann gewohnt flockige Melodien.

Das Album ist ein musikalischer Schmelztiegel. Aus den Clubs geht es hinaus auf die Straße, die Industrie-Einöde im Rücken, lichte Punkte und Träume vor Augen: „When you are all uptight with fever inside / Let’s get out / And if we can’t do that what do you say / Let the past pass away“, heißt es in Behind The Sun zu schleppenden Rhythmen und somnambulem Gesang.

Man ist erinnert an The Specials. Im England der düsteren Thatcher-Jahre waren sie die erste aus schwarzen und weißen Musikern bestehende Band, die Punk und Reggae, Ska und Pop miteinander verband. The Clash erprobten zumindest stilistisch Ähnliches. Ihr Klassiker The Guns Of Brixton lebte von Simonons Reggae-infizierten, wuchtigen Basslinien. Auf The Good, The Bad & The Queen ist dieser Bass wieder zu hören. Er schlängelt sich durch den History Song, lädt zum Tanz in Northern Whale und gibt sich musikalisch nostalgisch im düsteren 80s Life.

Der Produzent Brian Burton – besser bekannt als DJ Danger Mouse – verpasst den Kompositionen Präzision und Klarheit. Akustisches Füllmaterial gibt es hier keins, nichts verdeckt die Melodien dieses großen London-Albums.

Das selbstbetitelte Debütalbum von The Good, The Bad & The Queen ist als CD und LP erschienen bei EMI

Hören Sie hier „Kingdom Of Doom“

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Wohin der Wind weht

Alle Last der Welt liegt in der Musik der Roma. Zugleich ist sie beschwingt und voller Zuversicht – und hat jetzt einmal mehr Albuquerque, New Mexico, erreicht

A Hawk And A Hacksaw

Ein Rasseln, dann warme Blasinstrumente. Mehrstimmiger Gesang schleppt sich einen Melodieberg hinauf, Trompeten und Geigen begleiten ihn. Oh, wie es ächzt. Innehalten auf dem Weg zum Gipfel. Ein Akkordeon spielt orientalische Zwischentöne, dann kann es kann weitergehen. Schritt. Pause. Schritt. Pause. Schritt. Wie man das von den Trauerzügen in New-Orleans-Filmen kennt.

Jeremy Barnes und Heather Trost sind A Hawk And A Hacksaw. Sie kommen aus Albuquerque, New Mexico, und mischen seit einiger Zeit Folklore in ihren Pop. Zu Anfang noch wenig, über die Jahre mehr und mehr, zuletzt sind sie sogar schon zu Aufnahmen nach Rumänien gefahren, um mit der Roma-Kapelle Fanfare Ciocarlia zu spielen. The Way The Wind Blows heißt das neue Album, welch schicksalsergebener Titel.

Alle Last der Welt scheint in den schweren Melodien und Texten zu liegen. Gleichzeitig sind sie beschwingt, lassen Euphorie und Zuversicht aufblitzen. So, als könne man doch das Licht sehen, das die großen Schatten wirft. Kein Leid ist rein, keine Trauer absolut, die Zeit heilt viele Wunden, und enden die Beerdigungszüge in New-Orleans-Filmen nicht auch in ausgelassenen Feiern?

Wie ein weit geschwungener Fluss ziehen die elf Stücke des Albums vorbei. Manchmal – Opoto – als langsamer, behäbiger Strom, dann wie ein Wildbach, der in kleinen Schnellen über große Steine sprudelt, Gadje Sirba. Wenn niemand singt, singen die Instrumente. Hier und da sind Stimmen zu hören, immer im Chor, immer in großen Bögen.

Kürzlich ist die Musik der Roma durch Beiruts Gulag Orkestar zu einer gewissen Popularität gekommen. Wird sie bald als neue Sau durchs globale Popdorf getrieben? Das kann man jetzt schon mal fragen.

„The Way The Wind Blows“ von A Hawk And A Hacksaw ist erschienen bei The Leaf Label und im Vertrieb von Hausmusik

Hören Sie hier „In The River“

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Im Fluss

Harte Zeiten für die Tonwächter des Jazz: „Streaming“ von Muhal Richard Abrams, George Lewis und Roscoe Mitchell ist spontan und zwanglos

Lewis - Streaming, Please

Nur Abrams lächelt auf den Fotos im Begleitheftchen, die bei Lewis zu Hause aufgenommen wurden. Lewis und Mitchell schauen ernst, nachdenklich, verwundert. Abrams wuchs mit dem Radio auf, in Mitchells Kindheit war Fernsehen das große Thema, und der heute 54-jährige Lewis experimentierte schon früh mit Computern. Zusammen repräsentieren sie die beiden ersten Generationen der schwarzen Chicagoer Musikerselbstorganisation AACM.

Lewis ist heute neben seiner Tätigkeit als Musiker und Komponist Professor an der Columbia University in New York. Mit einem Zuschuss der Uni nahmen die drei diese CD auf, den Rest bezahlten sie selbst. Es ist improvisierte Musik. Da das Material das Fassungsvermögen des Tonträgers um das Dreifache übertraf, wählten sie fast nur Stücke aus, die ohne jede Absprache entstanden waren.

George Lewis lehrt Musiktheorie und -geschichte. Er könnte viel dazu sagen, wie die freie Improvisation akute gesellschaftliche Probleme spiegelt. Doch bezogen auf seine eigene Musik interessiert ihn das nicht. Die Musik, die er mit dem Pianisten Muhal Richard Abrams und dem Saxofonisten Roscoe Mitchell aufgenommen hat, bewege sich außerhalb der mit Hilfe von Relevanzkriterien vermessenen Zeit, sagt er. Der Albumtitel Streaming drückt nach seinem Verständnis vor allem Zeitlosigkeit aus: Man denke nicht daran, vorwärts- oder zurückzugehen, man empfinde sich vielmehr im Fluss.

Freie Improvisatoren leben seit Jahrzehnten in einer Situation des Übergangs. Das Patriarchentum ist durch den Free Jazz aus dem Jazz entwichen. Viele Traditionalisten sind immer noch sauer, dass die Neuerer 1961 die bewährten Pfade verlassen haben. Lewis, selbst nicht mehr der Jüngste, sagt den verbliebenen Tonwächtern des Jazz harte Zeiten voraus. Ökonomisch möge es ihnen gut gehen, das Publikum goutiere das Alte, bloß spirituell entwickle sich die Musik nicht weiter. Wer aber – wie er und seine Freunde – an den Institutionen und großen Plattenfirmen vorbei auf Netzwerke, Zirkulation, Offenheit und Verschiedenheit vertraue, der habe heute den besten aller möglichen Momente.

Neben den Hauptinstrumenten, bei Lewis sind das Posaune und Laptop, kommen auf Streaming auch die AACM-typischen kleinen Dinge wie Bambusflöte, Taxihupe und Glocke zum Einsatz. Besonders die drei hier versammelten AACM-Künstler haben auf ihrem je eigenen Weg Spuren gelegt und eine besondere Atmosphäre geschaffen, in der gemeinsame Unterstützung und Ermutigung die kreative Arbeit begleiten. Das Wichtigste sei, Situationen zu erforschen und darauf zu reagieren oder darin zu agieren, berichtet Lewis von der Arbeit an dieser Platte. Als Improvisator müsse man sich immer wieder entscheiden, wann der Plan verworfen werde und während des Spielens spontan Vorschläge machen, was stattdessen kommen solle.

„Streaming“ vom Muhal Richard Abrams/George Lewis/Roscoe Mitchell ist als CD erschienen bei Pi Recordings

Hören Sie hier „Scrape“

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Bloß ein Zukünftchen

Muss man das zweite Album einer Band verreißen, die weltweit als Erneuerer des Genres angepriesen wird? Ja, denn Bloc Party lösen das Versprechen leider nicht ein

No Women No Cry Vol. 2

Mit Silent Alarm begann für die britische Band Bloc Party vor zwei Jahren eine Erfolgsgeschichte. Eine Million Exemplare des Albums wurden verkauft, Bloc Party wurden mit Preisen überschüttet. Mit A Weekend In The City versuchen sie nun, das Wunder zu wiederholen. Sie scheitern, wenn auch auf hohem Niveau.

Bereits vor der Veröffentlichung von Silent Alarm sah der New Musical Express in der Band um den schwarzen Sänger Kele Okereke die Zukunft. „The next most important band in rock“, lautete die Titelzeile im englischen Fachblatt des Hoch- und Niederschreibens. Was Bloc Party seinerzeit der Konkurrenz zwischen Glasgow und New York voraushatte, war die Rhythmussektion. Zwar klangen auch bei ihnen einige Vorbilder der Postpunk-Ära mit, doch die Präzision von Schlagzeuger Matt Tong in Kombination mit den vertrackten Bass- und Gitarrenlinien von Gordon Moakes und Russel Lissack ließen die Stücke neu und aufregend klingen.

Nun erscheint Album Nummer zwei. Es möchte wie das erste klingen und doch ganz anders sein. Chorgesänge und stimmliche Extravaganz haben Einzug gehalten. In den Texten wird das Leben des modernen Einzelgängers in den Metropolen rund um den Globus thematisiert: Die Nachwehen des 11. September sind spürbar, die Clubs bersten vor Drogen, und abseits der Tower Bridge herrschen Rassismus und Gewalt.

All das könnte ein interessantes Album ergeben, wäre da nicht die Allerwelts-Produktion von Jacknife Lee. Lee hat mit U2 gearbeitet, und das hört man. Das Gitarrenspiel klingt stadiontauglich, die Kompositionen sind pompös. Im schlimmsten Fall wabern flächige Keyboardschwaden im Hintergrund, im besten Fall weisen elektronische Spielereien auf die Tanzfläche. Nach gerade mal einem Album sind Bloc Party beim Operetten-Rock angekommen: große Gesten, prätentiöse Texte, wuchtige Klanggemälde.

Im Stück Kreuzberg destilliert Okereke seine Verzweiflung: Vom schalen Geschmack nach seelenlosem Sex singt er, von der Liebe und davon, dass irgend etwas sich ändern müsse. Und irgend etwas, das heißt alles. Die Musik kann mit dieser Verve nicht mithalten. Konsensrock ist keine Lösung. Nur hier und da besinnen sich Bloc Party auf ihre Stärken. Erkennbar wird dann, was diese Band einmal ausgemacht hat: Präzision und Klarheit.

Die Schwammigkeit der aktuellen Produktion verwischt den Kern der Stücke. Das Versprechen von der „nächsten wichtigsten Band des Rock“ klingt allerdings in jedem Stück noch an.

„A Weekend In The City“ von Bloc Party ist als CD und LP erschienen bei V2 Records

Hören Sie hier „The Prayer“

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Queen Kong schläft nicht

Durch die Geschichte von Frauen in der alternativen Musik führt die Kompilation „Girl Monster“. Selbst nach dem soundsovielten Hörmarathon durch die drei CDs möchte man ausrufen: Bitte mehr davon!

No Women No Cry Vol. 2

Im dritten Stück auf CD 3 springen sie uns an, Godzilla, King Kong und Konsorten. The Creatures lassen zu hämmernden Metallorgien und kreischenden Gitarren die Monster von der Kette. The Creatures? Wer waren die nochmal? Ach ja, gegründet im Jahr 1981 als Nebenprojekt von Siouxsie und Budgie, weil die Sängerin und der Drummer der legendären Siouxsie and the Banshees mehr Freiraum für ausgeflippte Ideen suchten. Godzilla erschien im Jahr 2003 als eine späte letzte Single. Das Image von Härte, Wildheit und verruchtem Sado-Maso hatte sich allmählich abgenutzt, kurz darauf lösten sich The Creatures auf.

Ein typisches Beispiel der Spurensuche auf Girl Monster. Alex Murray-Leslie vom deutsch-amerikanischen Projekt Chicks on Speed hat bei der Auswahl wahre Wunder vollbracht, ihre Geschichte der Frauen in der alternativen Musik ist beispiellos: 60 Stücke auf 3 CDs. Mit einem Riesenaufgebot an Underground-Musikerinnen, unbekannten Talenten, vergessenen Heldinnen und Vertreterinnen der jüngsten Avantgarde geht es vorwärts, rückwärts und quer durch die letzten 30 Jahre – vor allem quer zum männlich dominierten Popgeschäft.

Queen Kong schläft nicht: Von Punk über Rrrriot-Rock bis zu modernem Elektropop, bratzendem Laptop-Funk und Frickelelektronik mit oder ohne Gesang sind das dreieinhalb Stunden monströs gute Musik von den Mädels. Das passt in keine Schublade, nichts klingt nach bloßer Erinnerung. Die kluge Zusammenstellung und Abfolge der Stücke erzeugt eine aufregende Grundspannung, als hätten das grummelnde Geschrammel der Girl-Bands aus den Achtzigern und der fein pochende Elektrohouse oder die sparsamen Acid-Bässe aus den Alleinunterhalterrhythmusgeräten von heute schon immer einen gemeinsamen Herzschlag gehabt.

Wo waren sie nur hingeraten in unseren Köpfen, Pionierinnen weiblicher Alternativkultur wie die Slits? Auf CD 2 gemahnt eine seltene Live-Version von ihrem Typical Girl aus dem Jahr 1980 daran, dass es den funky Groove der Selbstbehauptung, wie ihn die Latex-Punk-Gören Peaches, Angie Reed oder Mignon aktuell praktizieren, ohne sie nicht gegeben hätte. Und was für einen herrlich linksradikalen Hirndurchpuster schufen doch Delta 5 aus Leeds im Dezember 1979 mit ihrer ersten Single Mind Your Own Business, da wirkt der leichtfüßige Euro-Disco-Feger Sexy von den zwei sehr jungen, sehr flotten Schwedinnen Cat5 beinahe konzeptionell.

Auch ganz zarte Töne sind aus dem Spätwerk des Punk erwachsen, Ana Da Silva von den Raincoats zeigte es vor zwei Jahren mit ihren Keyboard-Balladen auf dem Soloalbum The Lighthouse. Ihr Beitrag Full Moon ist wie 39 weitere Stücke eine Exklusivversion für die Girl Monster-Sammlung. Slits-Sängerin Ari Up, deren Mutter dereinst mit John Lydon von den Sex Pistols verheiratet war, bestreitet nach längerer Familienpause seit einigen Jahren erfolgreich ihre Solokarriere im Dub-Reggae. Auch Tina Weymouth von den Talking Heads und Cosey Fanni Tutti von Throbbing Gristle begegnen einem auf Girl Monster mit Beispielen ihrer Soloerfolge wieder.

Als Musikerinnenmanifest der späten neunziger Jahre steht Hot Topic von den Amerikanerinnen Le Tigre ganz obenan, daneben packt Planningtorock ihren psychedelischen Plastikpop aus. Alice Daquet alias Sir Alice aus Frankreich variiert ihn im Stück Super Hero zwischen Klangforschung, absurder Kunst, dem Label Tigersushi und der Nouvelle Vague. Ebenfalls mit dem französischen Akzent der leichten Muse spendet Francoise Cactus vom Berliner Duo Stereo Total eine ergreifend tiefgründige Neudeutung des New-York-Dolls-Klassikers You Can‘t Put Your Arms Around A Memory, während die scheue österreichische Elektronikmusikern Susanne Brokesch mit einer Prise Hardcore und Halluzinationen David Bowies Heroes umgarnt. Die Berliner Elektronikgöttinnen Barbara Morgenstern und Gudrun Gut dürfen nicht fehlen, letztere umgeben vom doppelten Ruhm als Mitbegründerin der legendären Gruppe Malaria!. Weniger bekannt, aber spektakulär in ihren beigefarbenen russischen Sekretärinnenuniformen treten Client mit britischem Prog-Pop an. Am wildesten treiben es die kanadischen Lady Rocker Lesbians On Ecstasy und Kids On TV, was bei ihnen der entfesselte, zum Abtanzen peitschende Ungehorsam ist, verpacken Robots in Disguise aus England in fetzigen Glam-Punk.

Die Chicks On Speed rocken seit 1994 von München aus mit Trash-Kunst so glamourös wie kämpferisch auf Modenschauen und in Clubkellern. Auf ihrem eigenen Label Chicks On Speed Records toben nun die Girl Monster. Wie ein überdimensionales Pamphlet präsentiert sich auch die der Kompilation beigefügte achtseitige, gefaltete Zeitung künstlerisch konträr. Im Einzelnen auf die Musikauswahl bezogen wenig informativ, vermitteln die englischsprachigen Wortbeiträge jedoch eindringlich den Herzschlag der Sache, um die es geht: die fehlende oder einseitige Außenwahrnehmung von ganzen Generationen von Musikerinnen und ihre gesellschaftspolitische Brisanz. Eine Fortsetzung dieser Sammlung ist geplant, und selbst nach dem soundso vielten Hörmarathon nonstop durch alle 3 Monster-CDs möchte man sofort ausrufen: Bitte mehr davon!

„Girl Monster“ ist als 3-CD-Box erschienen bei Chicks On Speed Records

Hören Sie hier
„Super Hero“ von Sir Alice,
„Break Dance Hunx (Market Value Mix)“ von Kids On TV,
„Get Rid“ von Robots In Disguise
„Mind Your Own Business“ von Delta 5,
„Sheets“ von Electric Indigo & Dorit Chrysler,
„Sedation“ von Lesbians On Ecstasy und
„Heroes“ von Susanne Brokesch

Lesen Sie hier: Die Platten des Jahres 2006 – Eine Nachschau auf 100 Tonträger

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