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Im Zeichen der Wurfaxt

Der Sänger Mike Patton trägt jetzt Federschmuck. Er spielt mit der Band Tomahawk Indianerlieder nach. Spinnt der denn?

Tomahawk Anonymous

Es fällt schwer, einen Text über eine Platte Mike Pattons zu schreiben. Zu nah liegt die Versuchung, sich an seiner Vielseitigkeit und seinen Ideen zu ergötzen. Mit Mr. Bungle veröffentlichte er seit den Achtzigern kauzige Rockmusik – die ersten Jahre auf Kassetten, die heute teure Sammlerstücke sind. Die Liste seiner Kooperationen ist lang. Er arbeitete mit den Melvins und dem Komponisten John Zorn, er nahm Björks Album Medúlla auf. Zehn Jahre lang sang er bei Faith No More, danach spielte er bei Fantômas.

In welche musikalischen Gefilde es Mike Patton auch verschlägt: Er überrascht den Hörer! Mit der Band Fantômas interpretierte er auf Director’s Cut Filmmelodien von Nino Rota, Henry Mancini, Ennio Morricone und Angelo Badalamenti in flirrendem Drama-Rock. Ihr letztes Album Delìrium Còrdia bestand aus einem Stück, siebzig Minuten lang. Als Peeping Tom sang er im vergangenen Jahr ungewöhnliche Duette mit Massive Attack, Bebel Gilberto, Norah Jones und anderen. Er orientiert sich nicht am Zeitgeist, seine Projekte sind einzigartig. Nie macht er eine Masche daraus.

Jetzt kommt er mit Tomahawk. Anonymous ist das dritte Album im Zeichen der Wurfaxt, und es besteht aus Coverversionen. So weit, so normal? Von wegen. Tomahawk spielen Lieder der indianischen Ureinwohner Amerikas, dreizehn traditionelle Gesänge anonymer Autoren aus dem späten 19. Jahrhundert.

Wer kommt denn auf so eine Idee? Es ist leicht, solch ein schräges Unternehmen dem spinnerten Hirn Mike Pattons zuzuschreiben. Tomahawk ist im Gegensatz zu vielen seiner Projekte eine Band mit ihm, es ist nicht seine Band. Die Musik zu Anonymous spielte der Gitarrist und Bandgründer Duane Denison mit dem Schlagzeuger John Stanier in Nashville ein, Pattons Gesang kam später aus San Francisco.

Tomahawk machen nicht den Fehler, die Originale in derbe Rocknummern zu verwandeln. Sie bleiben nah an der Stimmung der rituellen Gesänge. Nur ab und an drängen die Gitarren oder Pattons schneidende Stimme in den Vordergrund. Dann werden die Stücke noch eindringlicher und düsterer.

Patton grummelt und jault. Es braucht meist keine verständlichen Worte, diese Musik lebt von einer starken Atmosphäre. Der War Song rührt tief, gleich zu Beginn des Albums. Eine Gewitterstimmung baut sich auf, die Gitarren und Bässe schrammeln auf einer einzigen Harmonie, Patton raunt tiefe Laute. Man kann sich gut vorstellen, wie Indianer sich auf den Krieg vorbereiten, ihre Pfeile schärfen und ihre Gesichter bemalen. Oder wie sie zum Ghost Dance um ein Feuer tanzen, um die bösen Geister zu vertreiben.

Sprunghafte Melodien kommen hinzu. Mescal Rite 1 beginnt mit Gebrummel von Gitarre und Basstrommel in einem undefinierbaren Takt. Wenn Mike Patton einsetzt, begleiten die Instrumente seine Stimme durch Berg und Tal, Nonen und Septimen, er singt etwas wie „Hunaheo-Hunanananaheao“. Ein Chor betont die Trommelschläge mit einem tiefen „Hunn!“. Am Ende quietscht eine Fidel ihr rostiges Lied, die Tänzer gleiten in einen unruhigen Schlaf.

Man kann viel hineinhören in die Lieder. Die meisten tragen die Worte „Tanz“, „Ritus“ oder „Zeremonie“ im Titel. Da liegen die Assoziationen nahe. Red Fox könnte einer Naturbeobachtung entspringen, die List eines Fuchses vertonen. Patton singt mit hoher, gepresster Stimme, im Hintergrund trappeln zarte Pfoten. Zur Antelope Ceremony werden die Messer gewetzt. Der Song Of Victory ist das Gegenstück zum War Song, Anspannung löst sich, es wird ausgelassen gefeiert.

In drei, vier Stücken singt Patton englisch, manchmal mischt er es mit indianischer Lautmalerei und Phantasiesprache. Der Cradle Song ist ein unbehagliches Schlaflied, furchterregend ploppt ein Bass, dazu singt Patton von gestohlenen Träumen und fliegenden Feuern. Wie soll man dazu einschlafen?

Zum ruhigen Long, Long Weary Day ziehen sich die Tänzer und Krieger in ihre Tipis zurück. Der Morgen graut, die Asche glüht langsam aus.

„Anonymous“ von den Tomahawk ist erschienen bei Ipecac

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Duff-Dak mit Wumms

Wer in den Achtzigern Prinzessin Stéphanie verehrt hat, wird Sally Shapiro lieben. Ihr süßer Elektropop ist charmant, eingängig und verbreitet gut gelaunte Melancholie.

Sally Shapiro

Ich düse mit Prinzessin Stéphanie im Cabrio durch Monaco, der Wind verfängt sich in unseren Haaren. Sie trägt ein tolles Kleid in grellem Pink, ein Schlauch aus kleinen elastischen Schlaufen. Ihre Lippen leuchten orangefarben, der Himmel hält azur dagegen. Pfiffe hallen aus den Autos, die wir überholen. Meine Freundin Stéphanie lächelt wissend und winkt ganz elegant und lässig. Ich kann meine Augen nicht von ihr wenden, wie sie will ich auch einmal werden, wenn ich groß bin. Noch bin ich sechs.

Sie blickt mich kokett über den Rand ihrer Sonnenbrille an und dreht das Radio laut: Es spielt Irresistable, ihr Lied! Ich kann noch kein Englisch, also singe ich in meiner Fantasiesprache mit: Shikndaudibell, Shäibiweididell… Wir beide haben einen Riesenspaß und schrauben uns im Cabrio die Serpentinen an der Steilküste empor. Stéphanie zeigt stolz aufs Meer hinaus, da liegt ihre weiße Yacht. Sie plappert vergnügt, plötzlich kommt uns ein Lastwagen entgegen, sie verliert die Kontrolle über das Auto, und wir stürzen den Hang hinunter. Alle Lichter aus.

Vertraute Klänge dringen an mein Ohr, ich schlage die Lider auf. „Stéphanie, bist du’s?!“ „Nein, ich bin Sally Shapiro, deine neue Freundin“, sagt das blonde Mädchen an meinem Bett. Sie spricht Schwedisch und singt Englisch. „Sally? Was ist passiert?“ Sie entgegnet: „Du hast 20 lange Jahre geschlafen, meine Musik hat dich geweckt.“ Dann stimmt sie eine süße Melodie an: I know you’re my love, even though sometimes I believe I will wake up from this dream. Ja, es muss viel Zeit vergangen sein, ich verstehe jedes ihrer Worte und singe gleich mit – ohne Shikndaudibell.

Und doch, diese Musik klingt wie aus den Achtzigern: Metallische Synthesizerflächen bereiten den Grund für beschwingte Ohrwurmlinien, im Hintergrund klötert ein E-Schlagzeug. Duff-Dak, Duff-Dak, Zischschsch. Sally Shapiros Duff-Dak hat mehr Wumms als damals Stéphanie, Sandra oder Limahls Never Ending Story. Er ist in der Gegenwart angekommen und greift neue Elektro-Spielereien auf, mal treibend und sonnig, mal sphärisch und benebelt. Das ist gut gelaunte Melancholie. Stilecht bindet Sally französische Sprechpassagen ein. Sie erzählt von Liebe, Nähe, Sehnsucht und schwelgt im gängigen Repertoire der Poplyrik. Ihre sanfte, kindliche Stimme bewegt sich nach damaliger Mode. Oder ist es die Mode von heute?

Journalisten schreiben von Discotrash, Sally Shapiro besinne sich auf die große Ära der Italo-Disco. Es ist unüberhörbar: Stilelemente der Achtziger erfahren seit einigen Jahren eine Renaissance; Rock, Pop, Elektro mischen mit. Selten aber wurden diese Klänge so konzentriert und charmant wiederbelebt wie auf Sally Shapiros Debütalbum Disco Romance. Die junge Schwedin hat eine Kunstfigur erschaffen, einen Namen gewählt, der nach glitzernden Lurex-Leggins klingt, und die entsprechende Musik drum herum gewoben. Sie ist so schüchtern, ihr ätherisches Stimmchen flattert nur im Studio, und keiner darf dabei sein. Werden wir sie je auf einer hell erleuchteten Disco-Bühne sehen dürfen? Abwarten. Ich jedenfalls nehme schon mal Platz im Cabrio.

„Disco Romance“ von Sally Shapiro ist erschienen bei Klein Records (Diskokaine)

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Abbey singt Abbey

Sie gilt als sozialkritisch, dabei singt sie einfach von ihrem Leben. Mit 77 Jahren hat die amerikanische Sängerin Abbey Lincoln nun einige ihrer Lieder noch einmal aufgenommen.

Abbey Lincoln

Abbey Lincoln wohnt nahe dem Duke Ellington Boulevard in New York. Blumen und Gardinen versperren den Blick aus ihrer geräumigen Wohnung im Erdgeschoss, die Ruhe und Einsamkeit ausstrahlt. In ihrem Arbeitszimmer hängt ein großes selbst gemaltes Porträt von Miriam Makeba, auf deren Einladung sie einige Zeit in Afrika lebte. In der Diele zeugen Urkunden von einem bewegten Leben. Eine Auszeichnung des Washingtoner Presse-Clubs preist ihr Engagement für afroamerikanische Belange, die meisten Fotos in Abbey Lincolns kleinem Privatmuseum stammen aus den sechziger Jahren.

In ihrem Kampf um Anerkennung und Selbstfindung als schwarze Frau in der amerikanischen Gesellschaft orientierte sie sich an Billie Holiday. Ihre Aufnahmen seit Ende der fünfziger Jahre kann man als musikalischen Ausdruck dieses Kampfes hören. Kompromisslos wie die Musiker, mit denen sie arbeitete – ihr langjähriger Lebenspartner Max Roach und auch Eric Dolphy, Coleman Hawkins, Sonny Rollins, Stan Getz, all die großen Individualisten.

Vor zwei Monaten war Abbey Lincoln wegen einer Herzoperation im Krankenhaus. Ein Foto in den New York Daily News zeigte sie zusammen mit dem 88-jährigen Pianisten Hank Jones, der im selben Hospital ebenfalls gerade am Herzen operiert worden war. Dabei hatte sich die im Jahr 1930 geborene Sängerin für dieses Jahr so viel vorgenommen.

Gerade erschien ihre neue CD, Abbey Sings Abbey. Darauf interpretiert Abbey Lincoln – mit Ausnahme des Eröffnungsstücks Blue Monk – ausschließlich ihre eigenen großen Lieder. Eine changierende Leichtigkeit zwischen Chanson, Country Music und Delta Blues durchzieht die neuen Arrangements. Sie glaubt, dass der amerikanische Markt sie wegen ihrer sozial engagierten Texte übergangen habe – der französische Verve-Produzent Jean-Philippe Allard habe ihr Leben verändert, sagt sie, ohne Europe wäre es sehr schwer für sie gewesen. Auch die neue CD ist von der französischen Verve-Abteilung produziert worden.

Tatsächlich sei Abbey Lincoln an sozialen Themen interessiert, doch bis vor 30 Jahren habe sie noch nicht mal gewählt. Sie sei so sozialkritisch, wie Billie Holiday und Bessie Smith es waren, sie singe einfach von ihrem Leben, erklärt sie. Im Gespräch schwankt sie zwischen Stolz und Traurigkeit.

Ihre Komposition Love Has Gone Away ist ein sehr positives Stück, in dem es darum geht, alle Streitigkeiten und Konflikte hinter sich zu lassen und es stattdessen mit Liebe zu versuchen, Down Here Below hingegen ist die Klage über ein Leben. Sie habe von ihren Eltern gelernt, dass man sich schützen muss, indem man alles lernt. Ihr Vater konnte sein Auto selbst reparieren und später konnten ihre Brüder das auch. Ihre Mutter setzte zwölf Kinder in die Welt, doch als sie alt war, habe sich keines um sie gekümmert.

„Abbey Sings Abbey“ von Abbey Lincoln ist erschienen bei Verve/Universal

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Ich bin Tischler

Heute kann jeder ein Label gründen. Markus Wilhelms hat es getan. Der Handwerker aus Hamburg macht Platten aus Liebe zum Schottischen: „Get While The Getting’s Good“.

Get While The Gettings Good

Der Satz zur Begrüßung in der Küche seiner Wohnung ist natürlich klasse: „Ich bin Tischler seit 21 Jahren.“ Markus Wilhelms, 37, ging also mit 16 in die Lehre? „Ja, nach der Mittleren Reife in Emden.“

Zunächst ein Leben, wie es viele führen, aus der Provinz in die große Stadt. Der Tischler, der von Ostfriesland nach Hamburg zieht, verbringt seine Tage mit Einbaumöbeln; er lebt von der Arbeit, für die Musik.

Mit seiner Frau hatte er vergangenes Jahr in Urlaub fahren wollen, 1300 Euro lagen schon bereit; sie sagte: „Nimm das Geld, und mach die erste Single.“ So eine Ehe muss man führen. Denn der Mann hatte einen Traum, der auf Erfüllung drängte: Platten zu machen. Nicht als Musiker, sondern als Inhaber eines Labels.

Inhaber eines Labels – wie das klingt! Er ist das Label. Sein Programm: den „Sound Of Young Scotland“ auf den Kontinent zu bringen.

Vor zwanzig Jahren war er zum ersten Mal in Glasgow gewesen, einer Stadt, die er seither zu den hässlichsten zählt, die er kennt, eine bitterarme Stadt, Arbeiterstadt, deren Bewohner ihn aber begeistern mit ihrer Freundlichkeit und ihrer Sprache: „Die haben einen ganz, ganz eigenen Akzent… wie Afrikaner, die Englisch sprechen, das R wird gerollt.“

Und so singen sie auch; Markus Wilhelms findet, dass wir das hören sollten. Er macht es möglich.

Inzwischen hat er vier Singles herausgebracht, koloriertes Vinyl, hübsch verpackt, Musik auch fürs Auge. Und nun die erste Kompilation, Get While The Getting’s Good, zwar nicht in Rillen gepresst, da zu teuer, „leider“, aber auf CD, „immerhin nicht im Jewel-Case, das war mir wichtig“ – 19 Stücke sehr verschiedener Bands, 75 Minuten. „Die hab ich eines Abends nach vier, fünf Bier zusammengestellt, wie früher ein Mixtape für Freunde.“

Die Musik weht aus den Lautsprechern wie eine frische, nahezu friesische Brise, quicklebendiges Popschottentum von Folk bis Rock bis Elektronika. Holt euch dieses Probier-Album, möchte man den Lesern zurufen, zumal zum Sparpreis von 10 Euro.

Aufgeladen und bereit nennt er seine Einmannplattenfirma, ein Name mit angespannten Muskeln und nicht von ungefähr: Aufgeladen und bereit fur Action und Spass, das war eine Platte der Fire Engines aus dem Jahre 1982 – eine schottische Band, die mit einem deutschen Titel kam, wenn auch ohne Umlaut und Esszett.

Zum Beweis holt der Labelchef das gute Stück aus seiner Sammlung. Die Stücke heißen Get Up And Use Me oder Lubricate Your Living Room, Part 1; man könnte sie eigentlich gleich auflegen.

„Die Briten lieben deutsche Titel“, sagt er. Als eine seiner Bands neulich in der BBC zu Gast war, habe der Moderator den Label-Namen während der Sendung viermal genannt, „weil ihm das so viel Spaß gemacht hat“. Die schottischen Bands seien zudem stolz, ihre Musik auf einem ausländischen Label herauszubringen – mag es auch klein sein.

Alles gut also? Es könnte besser laufen. In den vergangenen Wochen schlief die Nachfrage nach Aufgeladen-und-bereit-Platten komplett ein. Niemand wollte auch nur eine. Windstille im Online-Shop. Der Plattenhandel ist ein verdammt schwieriges Geschäft geworden.

Markus Wilhelms sieht es gelassen. Er hatte auch schon mal 400 Vorbestellungen für eine Single. Heute so, morgen so. Bei ihm zu Haus steht nichts Gebranntes, „gar nichts“; er mag das nicht: „Es ist mir ganz wichtig, die Musik auch zu kaufen.“ Seine letzte Anschaffung war eine gebrauchte Langspielplatte des Saxofonisten Pharoah Sanders, „von 1969, auf dem Impulse-Label“.

Und, kommt noch mehr Musik aus Schottland? „Ich bereite gerade die nächsten drei Singles vor.“

Es geht also weiter? „Auf jeden Fall!“

Die Kompilation „Get While The Getting’s Good – A Collection Of Scottish Music“ ist erschienen bei aufgeladen und bereit

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1000 Mal gehört

Über die Jahre (23): Auf „We Are Family“ verband sich vor 28 Jahren die Aufrichtigkeit der Sister Sledge mit der abgeklärten Unbarmherzigkeit der Chic-Rhythmen zu einem zeitlosen Meisterwerk.

Sister Sledge We Are Family

„Zeig mir jemanden in diesem Gebäude, der noch kein Star ist, und ich mache einen aus ihm, egal, wer es ist. Er wird ein Star, weil wir die Platte machen, weil unsere Rhythmus-Sektion der Star ist.“ Das soll Nile Rodgers zu Jerry Greenberg, dem damaligen Präsidenten von Atlantic Records, gesagt haben. Chic, die Erfindung des Bassisten Bernard Edwards und des Gitarristen Nile Rodgers, hatten gerade mit Le Freak einen Hit gelandet und waren dabei, ihr Album C’est Chic einzuspielen. Schlagzeuger Tony Thompson – man nannte ihn auch „das menschliche Metronom“ – komplettierte die Band.

Hauptsächlich arbeiteten Rogers und Edwards unter dem Namen Chic Organization Ltd. als Produzenten. Ihr Konzept basierte auf der Anonymität der Produzenten und einem distinktiven Klang. Sie hätten die Rolling Stones produzieren können, die gerade auf der Suche nach Produzenten waren. Aber sie entschieden sich für Sister Sledge, eine vierköpfige Gesangsgruppe, die bereits seit einigen Jahren moderat erfolgreiche Stücke an der Grenze zwischen Motown-Soul und Disco veröffentlichten.

Chic nahmen die Schwestern unter ihre Fittiche und spielten das Album We Are Family ein, einen Klassiker der ausklingenden Disco-Ära. Die Singles He’s The Greatest Dancer, Lost in Music und das Titelstück We Are Family wurden Hits, noch heute gehören sie zum Funk-, Soul- und Disco-Kanon. Der Groove ist präzise, straff und unwiderstehlich wie bei James Brown, die Texte sind clever und die Melodien eingängig.

Das Album ist die erste rundherum perfekte Chic-Produktion. Jedes Stück ist großartig: Somebody Loves Me ist eine betörende Soul-Ballade, Thinking Of You besitzt einen zwingenden Groove, Easier To Love ist ein luftiges Sommer-Lied, You’re A Friend To Me vermählt einen gelassenen Reggae-Rhythmus mit zartem Disco-Schmelz und One More Time ist lässig und hypnotisch zugleich. Zusammen ergeben die Stücke ein geschlossenes Ganzes, eine Seltenheit in der Disco-Ära, die von Singles bestimmt wurde. Chic sollte dieses Kunststück noch zweimal gelingen: mit ihrem eigenen Album Risqué und mit Diana Ross‘ Diana.

Sister Sledge waren mehr als die hübschen Gesichter zur mächtigen Rhythmusgruppe Chic. Die Hauptsängerin Kathy und ihre Geschwister Debra, Joan und Kim verschoben den Fokus gehörig. Lag der Gesang von Alfa Anderson und Luci Martin auf den Chic-Platten irgendwo zwischen Soul und der entkörperlichten Perfektion einer gut geölten Maschine, so gab der kräftige, in der Gospel-Tradition stehende Gesang der Schwestern den doppelbödigen Stücken eine neue Richtung. Die von Chic geschriebenen Lieder waren oberflächlich betrachtet hedonistische Party-Hymnen. Die unerbittlich harten Grooves und die insistierenden glasklaren Streicher mit ihren um sich selbst kreisenden Arrangements deuteten auf die dunkle Seite des Disco-Eskapismus hin.

„Caught in a trap, no turning back“ heißt es bei Lost In Music. Gesungen wird der Refrain vom luftigen Chic Choir. Im Zentrum des Stücks steht Kathy Sledges passionierter Gesang: „I feel so alive, I quit my nine to five“ intoniert die damals Neunzehnjährige voller naiver Überzeugung. Wo die Chic-Stücke zutiefst ironisch waren, vermittelten Sister Sledge das Gefühl, dass ein Entkommen sehr wohl möglich sei – auch wenn der Chor eine andere Sprache singt. Das zutiefst ambivalente Konzept der Party-Hymnen, die gleichzeitig von der Leere und Vergeblichkeit des Disco-Gefühls und der angeblichen Befreiung durch die Musik sprechen, wird durch die Ehrlichkeit und Überzeugung der Geschwister noch stärker aufgeladen. Darum funktionieren diese Lieder auch nach dem tausendsten Hören (und nach 28 Jahren) immer noch, als seien sie gerade erst entstanden.

„We Are Family“ von Sister Sledge ist im Jahr 1979 bei Atlantic/Warner erschienen

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(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Was der Apparat noch so kann

Dicker Funk erinnert an Prince, die Melodien beschwören Radiohead und Coldplay. Auf seinem dritten Album klingt der Berliner Elektronikmusiker Apparat nicht mehr so kühl und traurig wie früher.

Seit zehn Jahren nimmt der Berliner Sascha Ring unter dem Namen Apparat melancholische Laptop-Musik auf. Zwei Alben hat er beim Label Shitkatapult veröffentlicht, jetzt erscheint sein drittes, Walls.

Eine Überraschung. Wo ist die Distanz, die für viele elektronische Produktionen so charakteristisch ist? Und wo das Gefühl, jeder Ton, jeder Klang sei durchdacht? Das alles vermisst man nicht, man bemerkt das Fehlen nur, wenn man ein weiteres Album im Stile des Vorgängers Duplex aus dem Jahr 2004 erwartet hat.

Nur kurz scheint es, als ob Walls die Erwartungen erfüllte. Das Eröffnungsstück Not A Number ist ruhig und flächig, zart werden ein paar Töne aus dem Vibrafon geklöppelt. Vier Minuten später bricht ein schnarrender Basslauf durch, der könnte von den White Stripes kommen. Hailin From The Edge verkündet: „Nieder mit den Erwartungen, her mit dem schönen Leben!“

Apparat weitet sein elektronisches Geschäft mal hierhin aus, mal dorthin. Oft assoziiert man andere Lieder, andere Künstler. Hailin From The Edge und Over And Over protzen mit dickem Funk, die Stimme des Gastsängers Raz Ohara klingt ein wenig nach Prince. Holdon neigt zum HipHop, der in sanftem Falsett vorgetragene Refrain stünde sogar Robbie Williams: „Hold on / to all / you got“.

Headup ist euphorisch melodiös, eine singende Gitarre und dieses typische bam-bam-bam-peng-bam-peng-Schlagzeug gemahnen an Coldplay. Bei Arcadia grüßen Radiohead, Sascha Ring singt hier selbst, mit hoher Stimme. Die Melodien steigen aus dem Keller empor, Klänge öffnen sich. Radiohead hätten wohl auf den steten Tanzbass verzichtet – hier gehört er hin.

Das elektronische Schlagzeug hält die Platte zusammen. Die Bässe sind tief und dumpf, in den Höhen klackt es immer nur. Es wird wenig gefrickelt, Walls erschließt sich schnell. Immer wieder sorgen breite Streicher für Dramaturgie, die gesungenen Melodien sind getragen.

Es ist nicht alles so gut. In Limelight schnarrt eine fiese Keyboardgitarre, auf die Drei klatscht es jeweils anorganisch. Mancher Schlag bei Fractales klingt, als hätte Sascha Ring das elektronische Schlagzeug der Flippers geklaut, hallend, billig, fremd. Und das Keyboard-Muster klingt gar nach Join Me von Him. Das ist dann ein bisschen zu viel.

Walls klingt schlüssig, wenn man es als Dokumentation einer Richtungssuche versteht. Vielleicht hatte Sascha Ring die sanfte, verfummelte Elektronika einfach über und wollte einmal sehen, was der Apparat noch so kann. Er wirkt nicht desorientiert, mutig probiert er dies und das aus. Die von Maria Hinze gestaltete Hülle erinnert an Kritzeleien beim Telefonieren, sie spiegelt die Vielgestaltigkeit der Musik wider.

„Walls“ von Apparat ist erschienen bei Shitkatapult

 

Hab keine Angst vor der Liebe, Süßer

Er lässt die Elektronik eiern, sie spricht eindringliche Prosa. Das Duo The Student Body Presents bringt selbst talentierte Tänzer zum Stolpern.

The Student Body Presents

Ein synthetischer Rhythmus galoppiert, die Gitarre spielt ein dünnes Tremolo, das an Killing Joke erinnert. Eine Spoken-Word-Künstlerin verkündet, in keine Kiste zu passen.

Wie wahr. Das fängt mit dem seltsamen Namen der Band an, The Student Body Presents. Und auch musikalisch hat das Duo aus Dichterin Miasha Williams und Produzent Eric Porter Außergewöhnliches zu bieten.

Sie hat ihre Texte schon im Nuyorican Poets Cafe vorgetragen und in der CBGB’s Gallery, an den Orten, an denen die Literaturform des Poetry Slam entstand. Er hat unter anderem als Afrikan Sciences bei Bittasweet veröffentlicht, dem Label der Broken-Beat-Pioniere Bugz In The Attic. Das liest man und denkt an die Konstellation von US-amerikanischer Spoken-Word-Künstlerin und West-Londoner Beat-Bastler: Ursula Rucker und 4 Hero. Man liegt falsch.

Eric Porters Rhythmen sind eigenwillig, die Brüche kommen unerwartet. Selbst der talentierteste Tänzer dürfte dazu stolpern. Häufig benutzt Porter einen geraden Techno-Rhythmus und legt asymmetrisch eiernde Klänge und Basslinien drüber, die dem Rhythmus entgegenlaufen. Dazu schreckt schmatzendes Klatschen die Ohren auf. Miasha Williams, die Frau an seiner Seite, hat etwas zu sagen. Porters Musik fordert uns auf, gefälligst zuzuhören. Der Titel der CD The Student Body Presents Arts & Sciences ist kein Zufall. Sie bringen uns einiges bei, über die Künste, über das Leben, über den Körper.

Williams trägt im Singsang vor, ihre leicht rauhe Stimme ist gelegentlich verzerrt und dann noch eindinglicher. Ihre Texte sind autobiografische Skizzen aus dem Gefühlsleben einer Außenseiterin. Sie schwanken zwischen trotziger Selbstermächtigung und Angst. Die Musik lässt das Außenseitertum und das Ringen mit den Konventionen erkennen. Denn Porter macht nicht den Fehler, ihre Worte lediglich zu begleiten, sie stehen nicht im Zentrum. Die einzelnen Elemente der ungewöhnlichen Mischung – Williams’ Stimme, die Basslinien, die Rhythmen, die Worte, die seltsamen Synthesizer-Klänge – entwickeln ein Eigenleben, alles zusammen klingt organisch.

Auf das eingangs erwähnte Boxes, das den langen Prozess der Akzeptanz eigener Andersartigkeit beschreibt, folgt das neunminütige Drift Wit’ It und die halb gemurmelte Aufforderung „Don’t be afraid of love, my sweet – Float in it“. Dieser Aufforderung möchte man gerne folgen, auch wenn man ahnt, dass man sich darin verlieren kann.

„Arts & Sciences“ von The Student Body Presents ist erschienen bei Rubaiyat/Groove Attack

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Immer so weitergehen

Ulrich Gumpert und das Zentralquartett schrieben Jazz-Geschichte. In der Einflugschneise des Flughafens Schönefeld feierten sie die Freiheit der Musik. Jetzt gibt's eine neue Platte

Ulrich Gumpert Quartette

Für seine neue CD Quartette hat der Pianist Ulrich Gumpert auch einige Stücke aus den großen Tagen des Zentralquartetts neu eingespielt. Das habe nicht nur historische Gründe, sagt er. Es seien Stücke, die ihm besonders gut gefielen, und er habe seinen jungen Musikern auch die Geschichten erzählt, die sich hinter den Titeln verbergen. Im Unterschied zu früher gibt es heute statt der Posaune einen Bass.

Besonders bei den Konferenzen des Zentralquartetts ging es in den siebziger Jahren hoch her – man soff, man redete viel, man stritt auch und genoss die Freiheit der Musik. Man warf sich Hausnummern zu – „kennst du die Stelle, wo der Pianist sich verspielt?“ – und hörte sich die entsprechenden Stücke an. Später dann ging man zusammen proben. Der Posaunist Conny Bauer und der Schlagzeuger Günter 'Baby' Sommer wohnten damals nebeneinander in der Christburger Straße in Prenzlauer Berg, Ernst-Ludwig 'Luten' Petrowsky lebte weit draußen in der Einflugschneise des Flughafens Schönefeld. Man traf sich abwechselnd zur jeweiligen Conference at... bei Baby, Conny oder Luten.

Aus seinem Musikzimmer blickt Ulrich Gumpert auf das Theater am Schiffbauerdamm. In den Regalen stehen unzählige Tonträger, teilweise alphabetisch sortiert, teilweise nach Plattenfirmen. Die Platten von Blue Note sind ihm wichtig, er hat sie chronologisch aufgestellt. Auch die alten Scheiben von Fontana und Impulse! findet er auf Anhieb. Gumpert mag LPs, er hat noch einige 10-Zoll-Platten mit Dixieland aus den osteuropäischen Bruderländern, „damit fing alles an“, sagt er. Einige LPs, die John Tchicai für Fontana aufnahm oder Ornette Coleman für Impulse!, wurden wegen unklarer Rechtslage oder fehlender Bänder nie auf CD veröffentlicht. Fragt man ihn nach Colemans Crisis, springt er zum LP-Regal und sagt „bitte!“. Unlängst hat er das Original von seinem Saxofonisten Ben Abarbanel-Wolff bekommen, der hatte zwei.

Anders als im klassischen Jazz werden die Themen bei Ulrich Gumpert von Klavier und Saxofon unisono gespielt, auch auf Quartette. So spielt er seit den Siebzigern, in einer Übersetzung dessen, was er einst von Don Cherry und Ornette Coleman gehört hatte. Von Hier und Anderswo beschreibt er als ein einfaches Liedchen, sechzehn Takte, eine Stimmung wie in den Achtzigern. Damals hatte er es schon einmal für eine Solo-LP aufgenommen. Circulus Vitiosus klingt nach Thelonious Monk, wieder sechzehn Takte, immer die gleichen Harmonien. Acht plus acht Takte, nur das Thema wird einen Ton nach oben versetzt. Das sei der Trick, der dafür sorge, dass man nie genau wisse, wo der Anfang ist, verrät Gumpert. Und Miles Davis habe das mit Wayne Shorters Komposition Nefertiti noch viel besser hingekriegt: Sechzehn Takte Thema, achtzehn Mal gespielt, und das Gefühl, es könnte immer so weitergehen.

„Quartette“ von Ulrich Gumpert ist erschienen bei Intakt Records

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Der Bass von nebenan

Das Tied + Tickled Trio aus München und das Kammerflimmer Kollektief aus Karlsruhe kommen mit je einem Album. Das eine klingt, als sei es Tür an Tür mit dem anderen aufgenommen worden

Tied + Tickled Trio Aelita

Es war ein denkwürdiger Abend im Herbst des Jahres 2006. Da beging die kleine Plattenfirma Hausmusik im Münchner Feierwerk ihr fünfzehntes Jubiläum mit einem Festival, der zweite Tag endete mit einem spontan angesetzten Auftritt des Tied + Tickled Trios. Die Bläser ihres jüngsten Albums Observing Systems waren nicht dabei, vier Musiker – oder waren es fünf? – rührten eine trübe Dub-Suppe an. Die unerwartet monotonen Rhythmen, das düstere Scharren und die Bassbrummereien waren des Festivals Salz und Sahnehäubchen. Es war laut, ohrenbetäubend laut, dunkel und stickig; kaum jemand wagte es sich zu bewegen, nur der Haarschopf des Bassisten Micha Acher federte vor seinen geschlossenen Augen hin und her. Alles passte, es war unfassbar.

Offenbar selbst von diesem Auftritt beeindruckt, begaben sich die Musiker alsbald ins Studio, um die Stimmung zu reproduzieren. Innerhalb von drei Tagen entstand Aelita. Der Versuch misslang. Die Euphorie des Abends konnten sie nicht herzaubern. Im Scheitern brachten sie etwas Drittes, gleichwohl Fabelhaftes hervor. Aelita ist direkt, drängend und tieftraurig. Nur eines der acht Stücke, Other Voices Other Rooms, reißt eine Melodie an, die ins Licht führt.

Der tiefe Dub ist noch da, das swingende Grummeln. Die Bässe graben im Subsonischen, Melotron und Xylofon – oder ist das ein Vibrafon? – singen melancholische Melodien. Trüffelschweinen gleich durchwühlen diese Musiker ihre Klangwelt. Rhythmen werden ewig durchgehalten, jede einzelne Idee so lange ganz leicht variiert wiederholt, bis sie alles zusammen haben. Meist sind dann sieben Minuten um. Vielleicht macht das Schlagzeug Markus Achers den Unterschied zum Konzert. Beherrscht klingt es, nicht so ausgefeilt und schnell wie auf der Bühne.

Auch wenn die Platte nicht die Kraft jenes spätsommerlichen Abends hat, zeigt sie doch die Sicherheit des zur Zeit fünfköpfigen Trios und dessen Gabe, sich einmal mehr in eine unerwartete Richtung zu entwickeln.

Kammerflimmer Kollektief Jinx

Als das Tied + Tickled Trio im Studio stand, nahm nebenan das Kammerflimmer Kollektief sein Album Jinx auf. So jedenfalls klingt es. Der tiefe Dub aus München scheint wie durch eine dicke Wand in die Stücke des Karlsruher Trios zu dringen. Das Kammerflimmer Kollektief spielt Variationen dazu, Gemurmel, Gekratze. Schon im Eröffnungsstück verknoten sich die Linien verschiedener Gitarren, von Harmonium, Percussion, Synthesizer, Doppelbass, Kalimba, E-bow, Wurlitzer und Viola zu einem dicken Geräuschwust.

Während der Aufnahme des Titelstücks Jinx müssen die Studiotüren sogar nur angelehnt gewesen sein. Hier mischen sich Dub und Distinktion, Coffeeshop und Konservatorium. Hektische Stimmen kreischen, johlen und plappern in die weite Welt, ein einfacher Lauf der Steelgitarre und der Rhythmus fangen sie immer wieder ein.

Die Stücke auf Jinx feiern den Schwermut. Nach und nach treten die Melodien, das Hörbare, das Fließende in den Vordergrund, dann klingt das Album richtig warm und nah. Beim fünften Hören zerspringt alles in seine Einzelteile.

Der Kritiker Dietmar Dath liefert einige Überlegungen mit, sie liegen dem Album bei: „So wichtig wie der Text, wie Zeilenzahl, Konkordanz, Register, Lesartenverzeichnis, Fußnotenapparat und Palimpsest ist der Schauspielerin die Musik, die alle Menschen hören, während sie zusehen. Es kommen da keine langen Walgesänge auf, das Summrollen, das die Arme und Beine des musizierenden Trios erzeugen, macht jedes Fiepen zunichte, das sich mit Ozeanischem aufspielt. Komische Aufführungspraxis: Applaus gibt es keinen, nur ein Flüstern wie mitten in der Grünen Hölle“, schreibt er. Das klingt so absurd wie angemessen.

Das finale Stück des Albums, das zehnminütige Subnarkotisch, wurde wohl erst am vierten Tag eingespielt, da waren die Tanzbären von nebenan schon beim Fototermin. Da ist überhaupt kein strukturierender Rhythmus mehr, nur langsam geschichtete, prozessierte Klänge von Streichinstrumenten. Jinx endet im Lärm.

„Aelita“ vom Tied + Tickled Trio ist als CD und LP erschienen bei Morr Music; „Jinx“ vom Kammerflimmer Kollektief ist als CD und LP erschienen bei Staubgold. Beide Alben werden vertrieben über Hausmusik

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Zack-zack die Hüften

Mark Ronson hat den Soul! Auf „Version“ verpasst er Coldplay, Britney Spears, The Smiths und Maximo Park gehörige Motown-Infusionen

Mark Ronson Version

Wenn die Kinder reicher Eltern eine Platte aufnehmen, erwartet man meist nicht viel. Mark Ronson ist der Sohn der Salonlöwin Ann Dexter-Jones und Stiefsohn des Gitarristen der Kuschelrock-Kombo Foreigner, Mick Jones. Bei ihm lohnt das Hinhören. Version ist das zweite Album des in New York lebenden Briten, es besteht vor allem aus in druckvollem Breitwandsoul eingespielten Coverversionen. Große Namen zieren das Album, Lily Allen, Amy Winehouse, Robbie Williams und Paul Smith von Maxïmo Park sind darunter.

Das riecht nach Großeinkauf. Doch weit gefehlt! Im Unterschied zu verwöhnten Gören wie Paris Hilton beherrscht Ronson sein Handwerk. Seit Mitte der Neunziger ist er in New York ein gefragter und umtriebiger Plattenaufleger, seine wilden Mixe gelangten besonders in der HipHop-Szene zu Bekanntheit. Er beschallte Prominenten-Partys, dort knüpfte er Kontakte. Sein Adressbüchlein war bald voller bekannter Namen. Als Produzent gelang ihm schließlich der Einstieg ins große Geschäft.

Das letzte Album der Soulsängerin Amy Winehouse Back To Black spricht seine Klangsprache. Es versetzt den Hörer zurück in die goldenen Zeiten des Soul, umgarnt ihn mit den dick swingenden Klängen des Labels Motown aus Detroit. Back To Black scheppert wie früher, ein warmer Bass macht die Stücke clubtauglich. Im Detail nur hört man, dass sie nicht der Vergangenheit entspringen. Ronson und Winehouse holen den Soul ins Hier und Heute.

So klingt nun auch sein eigenes Album Version. Rasant und balladenfrei geht es darauf zu, das ist die ideale Musik zum Autofahren. Bei jeder der zehn Coverversionen singt jemand anderes. Dennoch klingt das Album homogen, das war Ronsons Hauptaufgabe als Produzent.

Herausragend ist Stop Me, ein Stück von Morrisseys Band The Smiths. Ronson und sein Sänger Daniel Merriweather bringen die Hüften zack-zack zum Schwingen. Wehmütig geht das Stück am Ende in You Keep Me Hanging On der Supremes über. Ein echter Motown-Hit – welch gelungenes Medley!

Auch gut: Das anarchische Toxic, zu dem Schweinereien aus dem Archiv des verstorbenen Rappers Ol’ Dirty Bastard gemischt werden. Britney Spears sang das Stück in ihrer prätoxischen Zeit, Ol’ Dirty Bastard erlag inzwischen dem Drogenkonsum. Mit dem Maxïmo-Park-Sänger Paul Smith macht Ronson sich über eben deren Lied Apply Some Pressure her. Robbie Williams schmachtet gar nicht mal schlecht zu The Only One I Know von den Britpoppern The Charlatans.

Die schwierige Kunst der Neuinterpretation liegt darin, einem Stück eine neue Dimension zu verleihen. Mark Ronson gelingt das. Seine Versionen packen einen sogar, wenn man die Originale von Coldplay, den Kaiser Chiefs, Radiohead oder der Zutons fürchterlich findet. Version geht leicht ins Ohr und so schnell nicht wieder raus.

„Version“ von Mark Ronson erscheint in Deutschland am 22.6. bei Columbia/Sony BMG

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