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Unterwasserbetrinken

Über die Jahre (35): Als in den neunziger Jahren die Musikszene Antwerpens explodierte, gelang es nur der Band dEUS, außerhalb der Grenzen Belgiens bekannt zu werden. Ihr zweites Album war ihr bestes: „In A Bar, Under The Sea“.

Deus In A Bar Under The Sea

In den Neunzigern war die Stadt Antwerpen ein Quell musikalischer Kreativität. Im Wochentakt sprudelten erfrischende neue Alben in die belgischen Plattenläden. Die Musik von Bands wie Kiss My Jazz, Evil Superstars, Moondog Jr., Think Of One, Lionell Horrowitz And His Combo und Die Anarchistische Abendunterhaltung klang so eigensinnig wie ihre Namen. Wer sie sehen wollte, musste zu ihnen kommen, wenige schafften es nach Deutschland. Viele stellten in Antwerpens Muziekdoos den Hut hin und spielten für Kleingeld.

Allein die Band dEUS wurde auch außerhalb Belgiens bekannt. Mit Suds & Soda landeten sie im Jahr 1994 einen Hit, von ihrem Debütalbum Worst Case Scenario verkauften sie weltweit rund 200.000 Stück. Dabei bestanden dEUS aus den gleichen Musikern wie all die anderen Bands. Die Musikszene Antwerpens schien aus kaum mehr als 30 Leuten zu bestehen, die sich in immerneuen Projekten zusammenfanden. Diese 30 Musiker gründeten so etwa 100 Bands. Welch ein Hühnerhaufen!

Die beiden kreativen Köpfe bei dEUS waren Tom Barman und Stef Camil Carlens. Barman gab den Sänger, der nicht singen kann, aber immerhin eine verrauchte Stimme hat. Er schrieb all die irren Lieder der Band, in denen sich Wohlklang und Narration mischten. Nebenbei arbeitete er als Filmregisseur. Carlens war der Mann fürs Grobe, mit einer Hand an der Quietscheente. Er krächzte, kreischte und spielte einen eleganten Bass. Sein kindliches Temperament stand der Ernsthaftigkeit Barmans entgegen. Carlens verließ dEUS im Jahr 1996, kurz nachdem sie ihr zweites Album In A Bar, Under The Sea aufgenommen hatten. Heute ist er Chansonnier mit einem Hang zur Weltmusik.

In A Bar, Under The Sea klingt, als hätten sich von der Sonne Enttäuschte in eine Bar am Meeresgrund zurückgezogen und sich fröhlich betrunken. Im Sinne Captain Beefhearts basteln sie Lieder aus Versatzstücken und Zitaten, wunderschönen Pop garnieren sie mit Defektem. Die Anlehnungen an Beefhearts Musik sind offensichtlich: Das grummelnde Theme From Turnpike löst sich in manischem Getrommel auf, es folgt Little Arithmetics, ein luftiger Popsong der sich wiederum tösend zerfasert. In dieser Bar läuft die Uhr auch mal seitwärts. Hier unten haben dEUS ein vielseitiges Album ersonnen, noch heute überrascht ihre Liebe zum Detail. Die Klangfarbe ist bunt, jeder Stil wird angespielt und mit einem Sinn für die Dramaturgie ins stimmige Ganze eingebaut. Das elegische Präfinale Dissapointed In The Sun erklärt dann gar das Gelage im kalten Nass.

Wie man mit solcher Musik zu Weltruhm gelangt, bleibt das Geheimnis der Band. Die Siebziger waren immerhin lange vorbei, als In A Bar, Under The Sea erschien. dEUS gibt es noch heute, dieser Tage erscheint ihr neues Album Vantage Point. Neben Tom Barman ist von damals nur noch der Keyboarder Klaas Janzoons dabei.

„In A Bar, Under The Sea“ von dEUS ist im Jahr 1996 bei Island/Universal erschienen.

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(34) Miles Davis: „On The Corner“ (1972)
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(30) The Exploited: „Troops Of Tomorrow“ (1982)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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Kalt wie Marmor

Das Debütalbum von Hercules & Love Affair erinnert an die lustvollen Rhythmen von Disco und House in den Achtzigern. So draufgängerisch wie ihr Namensgeber geht die Band leider nicht zu Werke.

Hercules & Love Affair

Herkules war ein Gemütsmensch. Der Sohn des Zeus bestand allerhand Abenteuer und galt als durchtrainierter Hitzkopf. Wie es sich für einen echten Gott gehört, ließ er sich nichts bieten. Als sein Musiklehrer ihn tadelte, erschlug ihn Herkules kurzerhand mit der Leier. Seine zahlreichen Ehen mit Königstöchtern gingen in die Brüche, er feierte lieber mit jungen Männern.

Heute wäre Herkules ein typischer Clubgänger. Sicher auch deshalb wählte der New Yorker Fitnesstrainer Andrew Butler den griechischen Helden als Namensgeber seines Projekts Hercules & Love Affair. Vor einigen Jahren veranstaltete Butler in seiner Heimatstadt regelmäßige Parties, bei denen Künstler und schwule Szenegänger gemeinsam zu House-Klängen feierten. Zutritt erhielt nur, wer sich als griechische Göttergestalt kostümierte. Dieses Spiel mit neo-antiken Motiven hatte sich Butler bei den New Yorker Continental Baths abgeschaut. In diesen Badehäusern und Saunen bildeten schwuler Sex und Disco in den achtziger Jahren eine Einheit, zwischen Säulen und Statuen wurde geliebt und getanzt. DJs wie Frankie Knuckles und Larry Levan legten Platten auf, AIDS bereitete den Ausschweifungen damals ein Ende.

Das Debütalbum von Hercules & Love Affair ist eine Hommage an die hedonistische Musik dieser Zeit. Andrew Butler und sein Musikerkollektiv reproduzieren nicht einfach den körperbetonten Klang früher House-Platten, sie kleiden glamouröse Tanzmusik in ein zeitgemäßes Gewand. Da ist House, aber auch Disco-Pop mit unzähligen Referenzen an die großen Momente der Clubmusik. Überall wird zitiert: hier klingt ein Schlagzeug-Groove wie bei Arthur Russell, dort flirren die Streicher wie das Salsoul-Orchester in seinen besten Zeiten. In Stücken wie You Belong und I Will fühlt man sich in die Anfangstage des Techno zurückversetzt, als Soul und Maschinenmusik plötzlich keine Gegensätze mehr darstellten. Chicago House, Detroit Techno, Italo-Disco – im herkulinischen System scheint alles möglich. Der Tanzboden wird zum pophistorischen Spiegel. Und Disco ist nicht bloße Referenz, es steht für die Sehnsucht nach Körperlichkeit auf dem Tanzboden. Der Einsamkeit im Club versuchen Hercules & Love Affair als lustvolles Ereignis zu begegnen.

Unglücklicherweise wird dieses nostalgische Konzept von der spiegelglatten Produktion weitgehend unterlaufen. Denn wo der Klang der Zitierten noch Ecken und Kanten besaß, wirkt die Produktion von Tim Goldsworthy poliert. Immer wieder drohen die Kompositionen in selbstgefälligen Posen zu erstarren. Da können die ansonsten passablen Sängerinnen Nomi und Kim Ann Foxmann noch so lasziv augenzwinkern – der unterkühlten Distanz der Stücke kommen sie nicht bei. Und auch wenn Antony Hegarty von der kanadischen Band Antony & The Johnsons sich Mühe gibt, wie Marc Almond zu klingen, seiner Stimme fehlt die Erotik eines Robert Owens. Einzig bei Blind ist sein Gesang wirklich großartig.

Blind ist auch der Höhepunkt eines Albums, das den Hörer seltsam unberührt zurücklässt. Wie die von Andrew Butler geschätzten griechischen Statuen erscheinen seine Stücke unnahbar. Sie sind in ihrer äußeren Form beeindruckend, Emotionen gewinnt man ihnen kaum ab. Die wichtigste Zutat von Disco und House war immer die Wärme, die den Tänzer umfing. Die Musik von Hercules & Love Affair gleicht kühlem Marmor. Darauf hätte sich auch ein Draufgänger wie Herkules nicht eingelassen.

Das unbetitelte Debütalbum von Hercules & Love Affair ist als CD und Doppel-LP erschienen bei DFA Records/EMI.

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Gleich ist Nacht

„Harriet“ heißt die zweite Platte der Berliner Band Taunus. Sie klingt wie die Abenddämmerung eines warmen Tages in der Stadt – und ist viel zu kurz.

Taunus Harriet

Milde erfüllt den Frühsommerabend. Der Landwehrkanal fließt in Zeitlupe Richtung Spree, an beiden Ufern sitzen Menschen unter den Bäumen und saugen die letzten Sonnenstrahlen auf, die ersten durch und durch wärmenden des Jahres. Eben verschwindet die Glut hinter den hohen Altbauten, da treten zwei Musiker auf eine schmale Brücke und spielen den Menschen noch ein paar Lieder zur Nacht.

Zu Anfang fummeln sie kaum hörbar an den Wirbeln ihrer Akustikgitarren herum, als wollten sie ja niemanden stören. Das leise Säuseln der Gespräche nimmt ab, bald verstummt es ganz. Die beiden Musiker greifen nun beherzter zu, zupfen an den Saiten, schicken ein Summen über das träge Wasser. Die Instrumente brummen, als hätten sie den Tag über in der Sonne gelegen. Nun geben sie die Wärme ab und halten die Kühle der Nacht noch ein bisschen fern. Aus dem nahe gelegenen Kaffee mischt sich das Klirren abgeräumter Gläser in die Musik, das klingt freudig.

Beim dritten oder vierten Stück tritt jemand zu den beiden auf die Brücke und seufzt in eine Klarinette, eine einfache Melodie. Auf einem nahen Balkon steht ein anderer, der spielt sie auf dem Vibraphon nach, beinahe erklingt ein Kanon. Zwei muskulöse Männer unterbrechen ihren Umzug und lassen ein altes Klavier am Ufer nieder. Einer der beiden klimpert eine Melodie. Das gute Stück ist völlig verstimmt, die tiefen Töne klingen stumpf, als lägen im Rumpf Stapel lang vergessener Liebesbriefe. Später tritt einer mit Cello hinzu und einer mit Banjo. Ständig passiert etwas, nur nichts Dramatisches. Alles wirkt und klingt, als gehöre es genau so und nicht anders.

Die Dunkelheit hat beinahe alles verschluckt. Die beiden zupfen nun energisch gegen die Nacht an, einer stampft den Rhythmus auf den Boden. Ein Schwarm Enten jagt erschreckt in die Luft. Das dumpfe Flirren ihrer Flügel Schläge und ihr mitteilsames Geschnatter tragen das Lied an ein unerwartetes Ende. Die beiden Musiker spielen immer leiser, verstummen schließlich und für ein, zwei Minuten musiziert das vielstimmige Entenorchester. Man möchte den Tieren ihren passenden Einsatz danken, manch einer lacht in die Stille.

Als sie sich schließlich beruhigt haben, spielt die Band noch ein letztes Stück. Mit dem Verklingen des letzten Tons schickt die Sonne den letzten Strahl des Tages. Dreiunddreißig Minuten lang war Licht, obwohl die Sonne längst untergegangen war. Dreiunddreißig Minuten lang war die Wärme dieses ersten Frühsommertages noch einmal zu hören.

So etwas gibt es nur in Berlin? Nein, nicht einmal dort. Die beiden Musiker heißen Jan Thoben und Jochen Briese, ihre Band nennen sie Taunus. Auf die erdachte Brücke traten nach und nach Wilm Thoben, Michael Thieke, Derek Shirley und F.S. Blumm. Harriet heißt die zweite Platte von Taunus. Sie klingt wie die dreiunddreißig Minuten zwischen Tag und Nacht, zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit am Ende eines warmen Tages in der großen Stadt. Sie wärmt und stimmt uns gelassen – und ist viel zu kurz.

„Harriet“ von Taunus ist bei Ahornfelder erschienen.

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Nassau funkt

Eine Lehrstunde in Clubmusikkunde: Auf den Bahamas entstanden in den frühen Achtzigern schrullige Disco-Stücke für New Yorks Tanzböden. Jetzt sind sie auf einer CD erschienen

Funky Nassau The Compass Point Story

Madonna und Andy Warhol tanzten zu diesem Klang. Wenn in den New Yorker Clubs in den frühen Achtzigern Grace Jones’ My Jamaican Guy oder Born Under Punches von den Talking Heads aufgelegt wurde, bebte der Tanzboden. Dass dieser Soundtrack zur Nacht in den gemütlichen Compass Point Studios auf den Bahamas produziert wurde, wussten nur wenige.

Lange gehörten sie zu den begehrtesten Aufnahmestudios weltweit. Wer genug hatte von polierten Holzfußböden und monströsen Mischpulten, der kam nach Nassau. Bands wie Roxy Music, AC/DC und die Rolling Stones ließen sich von der mediterranen Atmosphäre inspirieren und nahmen hier ihre besten Alben auf.

Neben solchen Rockalben entwickelte sich hier auch eine Spielart der Clubmusik, die die New Yorker Schickeria in Aufregung versetzte. Unter der Aufsicht des Studioleiters Chris Blackwell verknüpften die sogenannten Compass Point All-Stars Soul, Reggae, Rock, Disco und New Wave. Die schrulligen Kompositionen der Studioband machte an kaum einer musikalischen Grenze Halt. Solche Offenheit reizte viele Künstler, hier konnten sie sich neu erfinden und mit unterschiedlichen Stilen experimentieren.

Für den unverwechselbaren Klang der Studios sorgten neben der Band und den hauseigenen Tontechnikern die legendären Produzenten Sly & Robbie. Sie bedienten sich der Techniken des Dub, um den Stücken Tiefe zu verleihen. Das Ergebnis war häufig abseitig und exzentrisch klingende Diskomusik, die eigentlich zu schräg war für einen kommerziellen Erfolg. New Yorker DJs wie Larry Levan und François Kevorkian machten viele der bei Compass Point aufgenommen Stücke zu Hits.

Auf der Kompilation Funky Nassau kann man nun die musikalische Bandbreite und Experimentierfreude des Studios bestaunen. Wie wohltuend sie klingt, diese Entspanntheit im ansonsten so konventionellen Genre Disco. Gleich im zweiten Stück Genius Of Love von Tom Tom Club kommen die unterschiedlichen Einflüsse zu Gehör. Zu einem unwiderstehlichen Groove spielt der Zappa-Gitarrist Adrian Belew eine funkige Gitarre, mehrere Frauen hauchen und rappen die Namen ihrer musikalischen Helden: James Brown, Bob Marley, Kurtis Blow, Bootsy Collins.

Auf Funky Nassau treffen schwarze Musikkultur und der Art Rock nach Art David Bowies oder der Talking Heads aufeinander. Von Berührungsängsten ist keine Spur – ganz nach dem Motto „Who need to think when your feet just go?“. Die Stücke sprudeln vor Leichtigkeit, die kindlicher Albernheit oft nicht fern ist. Die Punk-Ikone Ian Dury wagte in den Compass Point Studios die Grenzüberschreitung und nahm Spasticus Autisticus auf. Das kontroverse Stück erschien 1981 anlässlich des Jahres der Menschen mit Behinderung, Dury warb darin sarkastisch für Toleranz, die BBC verbannte es aus ihrem Programm. Ob seines schwarzen Humors und der skurrilen Mischung aus Punk und Disco gehört Spasticus Autisticus zu den Höhepunkten der Zusammenstellung.

Dass Disco eine arg verschrobene Angelegenheit war, beweist auch You Rented A Space, das Robert Palmer mit der Trash-Queen Cristina aufgenommen hat. Zickigen Tanz-Punk spielten die Schotten Set The Tone ein. Beinahe klassische Disco-Stücke von Guy Cuevas und Gwen Guthrie sowie der experimentelle Dub von Sly & Robbie vervollständigen die Werkschau. Auch wenn sich einige der 13 Stücke in Schrulligkeit verlieren, ist Funky Nassau eine unterhaltsame Lehrstunde in Sachen Clubmusik.

„Funky Nassau – The Compass Point Story 80-86“ ist als CD erschienen bei Strut/Alive.

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Das Neue kommt ohne Tusch

Der Saxofonist Steve Lehman arbeitet an der Zusammenführung von Komposition und Improvisation. Sein neues Album „On Meaning“ zeugt von der Suche nach dem Unerhörten.

Steve Lehman On Meaning

Der in New York geborene Altsaxofonist Steve Lehman gehört zu einer neuen Generation experimentierender Jazzmusiker. Er beklagt sich nicht über die fehlende staatliche Unterstützung seiner Kunst, sondern wirbt die Fördergelder ein. Während der Schlagzeuger seines Quintetts Tyshawn Sorey tagsüber in einem Instrumentengeschäft arbeitet, damit er sich abends von kommerziellen Erwägungen unbeeinflusst um den musikalischen Fortschritt kümmern kann, widmet sich Lehman ganz der Musik.

Unlängst erhielt er die finanzielle Unterstützung der Chamber Music America, um ein Stück für Oktett zu komponieren. Den Kern des Oktetts bildet Lehmans Quintett mit Tyshawn Sorey, dem Trompeter Jonathan Finlayson, dem Vibrafonisten Chris Dingman und dem Bassisten Drew Grass. Sorey und Finlayson spielten bereits mit Steve Coleman, Dingman schloss kürzlich sein Studium am Thelonious Monk Institute in Kalifornien ab. Lehman arbeitet seit fünf Jahren mit diesen Musikern zusammen, gemeinsam nahmen sie seine neue akustische CD On Meaning auf.

Sein Interesse gelte nicht nur dem Musizieren, berichtet Lehman. Er ist jetzt 29 Jahre alt, wiederholt lebte er für längere Zeit in Frankreich. Während seines letzten Aufenthalts studierte und unterrichtete er am Pariser Konservatorium. Daneben forschte er über die Arbeitsbedingungen der schwarzen Chicagoer Association For The Advancement Of Creative Musicians (AACM) im Paris der siebziger Jahre. Seit einem Jahr untersucht Lehman an der Columbia University interaktive Kompositionskonzepte. Seinem dortigen Mentor George Lewis widmete Lehman das Album On Meaning.

Er sei auf der Suche nach neuen Umgebungen für Improvisatoren, sagt Lehman, ihm sei die Integration von Komposition und Improvisation wichtig. Um neue Wege des Zusammenspiels aufzutun, verlasse er sich auf die individuellen Stärken der Musiker. Bei der Lektüre des Buchs Rationalizing Culture: IRCAM, Boulez, and the Institutionalization of the Musical Avant-Garde der Anthropologin Georgina Born sei ihm klar geworden, dass er an den technologischen und kompositorischen Fortschritt glaube, an neue Technologien, die dem Künstler neue Entwicklung ermöglichten.

Ihm und vielen seiner jungen Kollegen sei die Weiterentwicklung der Musik eine Lebensaufgabe. Sie seien auf der Suche nach persönlichen und einzigartigen Klangstrukturen, nach dem Unerhörten. Das subjektiv als neu Empfundene kommt selten mit einem Tusch daher, auch davon berichtet On Meaning.

„On Meaning“ von Steve Lehman ist bei Pi Recordings/Sunny Moon erschienen.

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Muschikatzen auf dem Weg zur Hölle

Die B-52’s sind wieder da, 16 Jahre nach ihrem letzten Album erscheint „Funplex“. Erstaunlich, wie mitreißend ihr überkandidelter Pop noch immer klingt.

Funplex B42s

Der New Yorker Club Max’s Kansas City im Dezember 1979: Lydia Lunchs brachiale Punk-Band Teenage Jesus & The Jerks tritt auf. Im Publikum tummeln sich lässige Typen, die meisten tragen schwarze Lederjacken, niemand tanzt.

Und dann dies: Als Vorgruppe betreten zwei schrill gekleidete Frauen mit Bienenkorb-Frisuren und mehrere schwule Männer die Bühne. Ihre Klamotten und Perücken haben sie beim Trödler erstanden, und sie sehen aus, als wären sie mit der Zeitmaschine aus den Fünfzigern gekommen. Die Band nennt sich The B-52’s und schockiert das Publikum mit überkandidelter Party-Musik. Aus ihrer Heimat Athens in Georgia seien sie es gewohnt gewesen, dass die Leute tanzten, erzählte der Sänger Fred Schneider später, in New York habe sich niemand bewegt. „They were enjoying it, but it wasn’t cool to dance. Lord knows, we didn’t look too cool.“

Es kann nicht schaden, daran zu erinnern, dass die Band damals gegen den Strom schwamm. Die B-52’s waren keine bunte, belanglose Pop-Kapelle. Sie waren Exzentriker, ihr Klang eine Mischung aus dem Pop der Sechziger und New Wave. Heute verbindet man ihren Namen vor allem mit den Tanznummern Love Shack und Rock Lobster, mit den sirenenhaften Harmonien Kate Piersons und Cindy Wilsons und den kontrastierenden Anfeuerungen Fred Schneiders. Ricky Wilson, der im Jahr 1985 an den Folgen einer HIV-Infektion starb, spielte seine Gitarre gleichzeitig als Bass. Er entfernte die beiden mittleren Saiten und stimmte die unteren so tief es ging. Den beiden oberen entlockte er einen Surf-Klang, der an die Instrumental-Band The Ventures erinnerte. Ricky Wilsons Schwester Cindy spielte Bongos und ergänzte so das eckige Schlagzeugspiel Keith Stricklands. Pierson und Schneider ließen im Hintergrund die Keyboards quietschen.

Zwischen den Jahren 1980 und 1994 erschienen sechs Alben, danach machte die Gruppe eine lange Pause. Seit einiger Zeit treten sie wieder auf, jetzt erscheint ihr neues Album Funplex. Und all das Beschriebene funktioniert auch dreißig Jahre nach dem Auftritt in New York prächtig. Im ersten Stück Pump klingen die Keyboards wie aus einem fünfzig Jahre alten Science-Fiction-Film. Die beiden Frauen laden zum Sex und zum Tanz, sie ergehen sich in technischen Anspielungen: „Pump it up / give it up / turn up the track“, singen sie, „Hard kiss / love chain“, quakt Fred Schneider dazwischen. Man muss das nicht verstehen, man soll sich hingeben.

Funplex ist sauberer und ausgewogener produziert als auf die recht schroffen frühen Alben. Der Schlagzeuger Strickland spielt nun auch Bass und Gitarre, viele seiner Rhythmen sind elektronisch. Gelegentlich schrammelt er ein bisschen zu verträumt vor sich hin, dann wieder spielt wohltuend kantig. Die Gastschlagzeuger Zachary Alford und Sterling Campbell treten dann wuchtig gegen die Bassfelle.

Mit der Single Funplex benennen die B-52’s, wogegen sich ihre Party-Klänge heute richten. Den „pleasure seeker / shoppin‘ for a new distraction / movin‘ to the muzak / lookin‘ for the real thing“ nehmen sie aufs Korn, den Konsumenten auf der vergeblichen Suche nach dem Authentischen. Die Mall ist ihnen das Museum der Gegenwart, der Ort an dem die Widersprüche der Gesellschaft zu Tage treten. „Faster Pussycat thrill thrill / I’m at the mall on a diet pill“, besingt Fred Schneider Konsum- und Fitnesswahn. Das Stück endet mit den Worten „Misery at the Funplex! / And there’s too much sex! / The world is going to hell / And what is that horrible smell?“ So wie unter der glitzernden Oberfläche der Einkaufswelt Abgründe lauern, geht der allgegenwärtig zur Schau gestellte Sex mit einer puritanischen Moral einher.

Verdrießlich stimmt sie das noch lange nicht. Wenn schon alles zur Hölle geht, sollte man wenigstens Spaß dabei haben. „Keep doin‘ what you’re doin‘ / cause you’re doin it right / keep doin‘ what you’re doin‘ / ‘Cause it’s what I like“ singen sie in Ultraviolet. Und so halten es die B-52’s.

„Funplex“ von den B-52’s ist bei Astralwerks/EMI erschienen.

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Kraftwerk auf Körpertemperatur

Der Münchner Christian Prommer bringt zehn Klassiker der elektronischen Musik neu zum Klingen. Sein Jazzquartett verleiht den Stücken auf dem Album „Drumlesson Volume 1“ Wärme.

Christian Prommer's Drumlesson

Oft ist die Idee eines Albums besser als ihre Umsetzung. Vor allem beim Vermengen von Musikstilen bedeutet neu nicht unbedingt gut. Viele Ideen werden binnen Wochen zu unerträglichen Maschen. In den Achtzigern trafen sich Pop und Klassik, später Klassik und Metal, vor ein paar Jahren wurde New Wave in Bossa gewandet, Poplieder kamen als Swing oder Easy Listening daher und Rap und Metal gingen geheimnisvolle Allianzen ein. Eine neuere Mode ist es, Rockklassiker auf karibisch zu trimmen. Oft klingen solche Mixturen, als hätte der Meisterfälscher Konrad Kujau seinen feinen Pinselstrich mit minderwertigem Gerät geführt, die Mona Lisa mit Wachsmalstiften und Kandinski mit Filzern kopiert.

Noch ein Versuch: Der Münchner Musiker und Produzent Christian Prommer bringt auf Drumlesson Volume 1 Elektronik und Jazz zusammen. Er ist nicht der erste, schon der Nu Jazz der späten Neunziger lebte von akustischen Sprenkeln im elektronischen Ambiente. Heute klingt solche Musik bieder, man hört sie bei Starbucks und bei Karstadt im Fahrstuhl.

Prommer macht es anders, und er macht es gut. Zehn wahrhaftige Klassiker der elektronischen Musik nimmt er sich vor und lässt sie von einem Jazzquartett umsetzen. Er selbst arrangiert und produziert die Stücke. House-Musik wie Mr. Fingers Can You Feel It aus den späten Achtzigern steht neben mehreren Techno-Stücken aus den Neunzigern, manche neuere Produktion wie Âmes REJ neben dem 30 Jahre alten Trans Europa Express von Kraftwerk. Prommer mischt die Stile bedacht, er verziert nicht bloß den mit dem anderen. Das Analoge und das Digitale durchdringen sich in seiner Musik. Dabei tönt weit und breit keine Elektronik. Drumlesson Volume 1 ist eine Jazzplatte.

Hier waltet die Liebe zum Detail. Die Stücke sind weise gewählt, sie repräsentieren unterschiedliche Schulen des Tanzflächenfüllens, Old School Chicago House, Detroit Techno, Minimal und wie sie alle heißen. Aufgenommen wurde das Album an einem Tag in einem Münchener Studio mit namhaften Jazzmusikern. Wolfgang Haffner spielt das Schlagzeug, Ernst Ströer die Perkussion. Über die Tasten des Flügels tanzen die Finger Roberto Di Gioias, Dieter Ilg zupft den Kontrabass. Vier Große, die schon mit noch Größeren des Genres im Studio und auf der Bühne standen, mit Bill Evans, mit Till Brönner, mit Passport.

Die vier Musiker greifen das Stumpfe, das Treibende des House immer wieder auf, selten verlassen sie den Takt, so als hörten sie die Originale im Kopfhörer während sie selbst spielten. Sie lösen die starren Strukturen auf ihre Art auf, spielerisch. Da wechseln sich Kontrabass und Klavier in der Melodieführung ab, springt der Bass plötzlich an die Stelle der Trommel und treibt den Rhythmus an. Bei Higher State Of Consciousness haut Roberto Di Gioia einen scheppernden Takt in die abgedämpften Tasten seines Flügel. Josh Wink schrieb das Stück vor 13 Jahren, er habe beim Hören dieser Version eine Gänsehaut bekommen, sagte er.

Bei Trans Europa Express wird offensichtlich, dass Prommer auch eine Art Rückführung betreibt. Kontrabass und Schlagzeug spielen ein typisches Jazzmotiv, einen Rhythmus, der klingt wie eine stampfende Dampflock. Kraftwerks frühe Arbeiten Anfang der Siebziger orientierten sich an solchen bildhaften Rhythmen, reduzierten sie und kühlten sie ab. Prommer bringt sie nun wieder auf Körpertemperatur, haucht ihnen neues Leben ein. Das Klavier übernimmt die repetitive Melodie, eigentlich nur ein ansteigender Klang. Di Gioia variiert sie immer wieder ganz leicht und bringt Distanz zwischen Original und Kopie. Und plötzlich klingt die Kopie wie ein neues Original.

Manche Stücke werden nicht zum ersten Mal so stark verfremdet. Francesco Tristano spielte zuletzt Derrick Mays Strings Of Life auf dem Flügel, ganz ohne Schlagzeug. Hier nun klingt es wieder ganz anders. Das Klavier umspielt flirrende Perkussion, der Bass taucht aus grummelnden Tiefen an die Oberfläche und stellt sich den Tastenarabesken entgegen.

Im zweiten Teil der Platte tritt die Basstrommel in den Vordergrund und stimmt den dumpfen House-Schlag an. Bei Claire ist das so und bei Higher State Of Consciousness. Der freien Improvisation lässt das Konzept wenig Raum, jedes Instrument trägt den Rhythmus, keines kann sich für mehrere Takte lossagen und sein eigenes Lied singen. Auch hier liegt das Besondere im Detail, in den leicht überhörbaren Schlenkern, die sich die Musiker hin und wieder erlauben.

Das Beeindruckende an Drumlesson Volume 1 ist, dass es seine Geschichte selbst erzählt und der theoretische Hintergrund letztlich bedeutungslos ist. Man muss sich die Nächte in den Achtzigern nicht in Clubs um die Ohren geschlagen haben, um Wohlklang zu empfinden. Man muss die zehn Originale nicht einmal kennen, um von der Kraft des Albums ergriffen zu werden.

Aber was stellt man nun mit diesem Bastard an? Soll man ihn wie eine gute Jazzplatte bei Rotwein am Kamin in High Fidelity genießen? Oder im Club dazu tanzen? Beides wäre einen Versuch wert.


Mit Christian Prommer und seinen Musikern unterwegs in Hamburg – eine Bildergalerie »

„Drumlesson Volume 1“ von Christian Prommer’s Drumlesson ist bei Sonar Kollektiv erschienen.

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Da, die Badu

Erykah Badu schmiegt sich mit ihrem renitenten Soul in erstaunlich viele Ohren. Ihr neues Album „New Amerykah“ ist ein zuckersüßes Experiment.

Erykah Badu New Amerykah

Muss man Drogen nehmen, um Drogenmusik zu hören und zu verstehen? Sicherlich nicht. Genau genommen, muss man gar keine Drogen nehmen, denn Musik ist oft Droge genug. Sie kann die Welt auf den Kopf stellen, Naturgesetze außer Kraft setzen und gleichzeitig vorwärts und rückwärts laufen.

„Total bekifft“, denkt man beim ersten Hören von Erykah Badus neuem Album New Amerykah. „Total bekifft“, denkt man auch nach dem zwanzigsten Durchlauf. Der Rhythmus schleppt, das elektrische Klavier nudelt. Richtungslos und schwer zu fassen ist die Musik. Badus soulige Stimme mischt sich dezent dazwischen, statt in den Vordergrund zu drängen. Das Album klingt homogen, seine Einzelteile sind schwer zu greifen. Es macht den Hörer ratlos. Ist das gut oder schlecht? Ist es langsam oder langweilig?

Die Texanerin Erykah Badu ist eine der erfolgreichsten Soulsängerinnen der Gegenwart. Sie ist 37 Jahre alt, vier Grammys schmücken ihre Vitrine, ihre beiden bisherigen Studioalben verkauften sich millionenfach. Ihre Freude am Experiment hat die kommerzielle Strahlkraft nie getrübt. Und so kann sie sich einiges leisten: Das zuckersüße Honey wird zwar als erste Single ausgekoppelt, auf dem Album erscheint es nur als verstecktes Lied ganz am Ende. Sie bricht die Regeln des Marketings, die Irritation schärft ihr Profil. Dem Erfolgsdruck setzt Erykah Badu Krudes entgegen und bewahrt so ihre Eigenständigkeit.

Amerykahn Promise eröffnet das Album mit Funk, der klingt, als hätte man Watte in den Ohren. The Healer schleppt sich geduldig über einen grandiosen Rhythmus des kalifornischen Produzenten Madlib. Zwischen Dub, Reggae, HipHop und indischer Musik pfeifen die Synthesizer und schwelgen die Stimmen. Langsam taucht die Badu ins Unterbewusste ab, die CD läuft, man fiebert aber nicht mit. An Höhepunkten ist New Amerykah arm, zum Gipfel sollen andere streben.

Eingelullt von Flöten, hallenden Stimmen und der kratzigwarmen Stimme seiner Protagonistin frönt man dem musikalischen Rausch – diese Musik ist eine Droge.

„New Amerykah Part One (4th World War)“ von Erykah Badu ist erschienen bei Universal Motown.

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Das ist doch kein Jazz!

Über die Jahre (34): 1972 erschien Miles Davis’ letztes großes Album „On The Corner“. Damals wurde es von den Kritikern verrissen, heute gilt es als visionäres Meisterwerk.

Miles Davis On The Corner

Skandal! Kein anderes Album von Miles Davis, ja vermutlich der ganzen neueren Jazzgeschichte hat solche Hassausbrüche, so wüste Beschimpfungen provoziert wie On The Corner, keines wurde von der zünftigen Jazzkritik so gnadenlos zerfetzt. „Völlig wertlos“, „perpetuierter Stumpfsinn“, „eine Beleidigung für jeden halbwegs intelligenten Menschen“ waren bei seinem Erscheinen im Jahr 1972 noch die freundlichsten Kommentare. Weit und breit gab es damals nur gerade eine einzige positive Rezension, und die stand nicht in einer Jazz-Zeitschrift, sondern im Rock-Magazin Rolling Stone. Heute, 36 Jahre danach, gilt On The Corner als Vorläufer der Ambientmusik. Es gibt kaum einen DJ, der die Platte nicht als Meisterwerk preist.

Was ist sie nun, wertloser Schrott oder Meisterwerk? Eine definitive Antwort gibt es auf diese Frage nicht. Jede Wertung muss so ambivalent und widersprüchlich bleiben wie die Platte selbst.

Denn: Einerseits trägt On The Corner die Vision einer in jeder Hinsicht grenzenlosen Musik in sich, einer bis dahin noch nie gehörten Weltmusik, eines universalen Weltklangs. Mit Jazz hat On The Corner zweifellos nichts zu tun, das erklärt die zornige Ablehnung durch die Jazzkritik. Ihr war es unerträglich, dass ausgerechnet einer, der die Entwicklung des Jazz seit den fünfziger Jahren dominiert hatte, so radikal mit seiner Tradition brach.

Natürlich, Davis hatte bereits seit Mitte der sechziger Jahre nach einer neuen Musik jenseits der stagnierenden Routinen des Bebop und Hardbop gesucht. Doch auch den Free Jazz verstand er bloß als esoterischen Irrweg, der von jenem Publikum wegführte, dessen Held er sein wollte, der Black Community.

Mit In A Silent Way und Bitches Brew hatte Davis erste Ausbrüche gewagt und sich dem Rock, dem Soul, James Brown, Sly Stone, Jimi Hendrix und George Clinton geöffnet. Gewiss hat es ihn geärgert, dass seine Schüler ihn kommerziell überholten, Wayne Shorter und Joe Zawinul mit Weather Report, Herbie Hancock mit Joe Zawinul mit Headhunter, Chick Corea mit Return To Forever, John McLaughlin mit dem Mahavishnu Orchestra und Tony Williams mit seinem Trio Lifetime. Mehr noch störte ihn, dass sie seine Erfindung, den Electric Jazz, mit kalter Technik, leerer Virtuosität und kopflastiger Komplexität überfrachteten und ihm die Emotionen, den Soul und die Schwärze nahmen.

In einer Kneipe um die Ecke hatte Miles Davis die indische Musik entdeckt – er saß dort oft mit seinem Freund, dem Perkussionisten James M’tume Forman, und philosophierte über die Zukunft der Musik. In London hatte er den Cellisten Paul Buckmaster kennengelernt, der ihm Bachs Cellosonaten vorspielte, sich für die Musik Karlheinz Stockhausens begeisterte, Arrangements für David Bowie, Elton John, Meat Loaf und Leonard Cohen schrieb und zugleich in abseitigen Rockgruppen spielte. Davis saugte diese Einflüsse auf und verband sie in seiner neuen Musik, vor allem den metaphysischen Klang, den Stockhausen in seinen Kompositionen Gruppen oder Mixtur suchte. Auf der Basis einfacher, sich endlos wiederholender funkiger Bassmuster sollte eine abstrakte Klanglandschaft entstehen, eine Polyphonie disparater Partikel unterschiedlicher Herkunft, die unabhängig voneinander herumschwirren, sich für Momente zusammenballen, ineinander verschlingen und dann wieder auseinanderdriften, die angeknipst und wieder ausgeschaltet werden. (Das Plattencover von Corky McCoy, auf das Davis gegen den Willen der Plattenfirma bestand, ist gleichsam eine Visualisierung dieses musikalische Programm: Es zeigt schwarze Herumhänger, lässige Zuhälter, scharfe Nutten und die beiden Worte On und Off.)

Paul Buckmaster schrieb Scores, fragmentarische Motive, rhythmische Muster, Bassfiguren, er dachte sich Abläufe aus, die dieses On und Off steuern sollten. Er verteilte sie an die Musiker, die sie (nach eigenen Aussagen) studierten, ohne genau zu wissen, was sie damit anfangen sollten. Wie bei Davis üblich, wurde nicht gemeinsam geprobt, stattdessen lud er die Musiker zu Einzelgesprächen nach Hause, zeigte ihnen dies und das und diskutierte mit ihnen diese oder jene nebulöse Idee.

Als die mindestens 13 Musiker sich am 1. Juni 1972 zur ersten Aufnahmesession trafen, wusste keiner, was Davis von ihm erwartete. Der indische Tablaspieler Roy Badal berichtete später, dass Davis ihn einfach angewiesen habe, mit irgendeiner rhythmische Figur zu beginnen, Michael Henderson warf monotone Bassfiguren ein, Jack DeJohnette dengelte sparsame auf dem Schlagzeug, Herbie Hancock flüsterte „Yeah“ und gesellte sich mit einigen Orgelklängen dazu. Erkennbare Themen gibt es mit einer Ausnahme (Black Satin) keine, Buckminsters Scores blieben unbeachtet in einer Ecke liegen, Davis knipste diesen oder jenen Musiker an, spielte selber hie und da einige elektronische Wahwah-Klänge auf der Trompete. Soli im konventionellen Sinn gibt es ebenfalls keine, allenfalls schiebt sich ein Instrument für eine Weile in den Vordergrund, um dann wieder im Klangstrom zu versinken. (Nicht ganz zufällig fehlt auf der Originalhülle jeder Hinweis auf die beteiligten Musiker; für Davis zählten nicht die einzelnen Musikerpersönlichkeiten, er verstand sich als eine Art Hexenmeister, der aus den verschiedensten Ingredienzien ein neues Bitches Brew mischte.)

Aufschlussreich ist die Anekdote, die der Saxofonist Dave Liebman erzählt: Miles Davis beorderte ihn, während die Aufnahmesession bereits lief, dringend ins Studio, und obwohl er noch nie zuvor mit Davis gespielt hatte, geschweige denn in die Vorbereitungen zu On The Corner einbezogen war, schob ihn Davis kurzerhand vor ein Mikrofon und knipste ihn mit einem einzigen Wort an: „Play!“

So entstanden in langen Sessions scheinbar endlose, mal etwas schneller, mal etwas langsamer dahinfließende, blubbernde Klangströme von unterschiedlicher Intensität und Dichte – Musik von langweiliger Monotonie für denjenigen, der durchstrukturierte Formen, Spannungsbögen und virtuose Jazzsoli erwartet, aufregend und spannend für denjenigen, der sich darauf einlässt, sich von diesem kosmischen Weltklang mitnehmen zu lassen. Erst im Nachhinein wurden die einzelnen Stücke aus diesem Endlosband herausgeschnitten.

Das ist die eine Seite von On The Corner. Zugleich ist das Album auch das Resultat einer kapitalen persönlichen Krise Davis’. Eben hatte ihn seine Lebenspartnerin verlassen; Arthritis, schmerzhafte Gallensteine und akute Hüftproblemen machten jeden Konzertauftritt zur Qual, die Folgen einer schweren Lungenentzündung machten es ihm unmöglich, überhaupt längere Melodielinien zu spielen. Die Schmerzen und seine Depression hielt er mit einer hoch dosierten Mischung aus Alkohol, Kokain, Schmerz- und Aufputschmitteln in Schach. Rückläufige Plattenerträge, die Drogen und Strafgelder für abgesagte Konzerte bedrohten seinen luxuriösen Lebenswandel, zudem saß ihm die Steuerbehörde mit hohen Nachforderungen im Nacken. Die Kreativität und Kraft des alles überragenden Improvisators und anrührenden Balladenmeisters hatten ihn verlassen. So ist On The Corner denn auch ein verzweifelter Versuch, als Visionär einer völlig neuen Weltmusik noch einmal Ruhm zu erlangen. Drei Jahre später, nach nur noch sporadischen Aufnahmen und Auftritten zog sich Davis schwer krank für sechs Jahre völlig von der Musikszene zurück, um, wie er sagte, auf den Tod zu warten.

„On The Corner“ von Miles Davis ist im Jahr 1972 bei Columbia Records erschienen. Ebenda erschien kürzlich zum Abschluss der luxuriös ausgestatteten achtteiligen Reihe „The Complete Columbia Studio Recordings Of Miles Davis“ die 6 CD-Box „The Complete On The Corner Sessions“.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(33) Smog: „The Doctor Came At Dawn“ (1996)
(32) Naked Lunch: „This Atom Heart Of Ours“ (2007)
(31) Neil Young: „Dead Man“ (1996)
(30) The Exploited: „Troops Of Tomorrow“ (1982)
(29) Low: „Christmas“ (1999)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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Tschuldigung, sagt die Gitarre

Billy Bragg ist das gute Gewissen der englischen Popmusik. Auf seinem neuen Album „Mr. Love & Justice“ klingt er vielseitig wie immer, seine Texte schwärmen von sozialer Gerechtigkeit und der Familie.

Billy Bragg Love & Justice

„This machine kills fascists“ hatte sich der junge Woody Guthrie auf die Gitarre geschrieben. Der Engländer Billy Bragg machte Ende der siebziger Jahre ein trauriges „This guitar says sorry“ daraus. Seine Karriere als politischer Folksänger hatte gerade begonnen, er betrachtete Guthrie als das linke Gewissen Amerikas. In den achtziger Jahren sympathisierte Bragg mit Neil Kinnocks Labour Party, gründete die linke Aktivistengruppe Red Wedge, und streikte mit den Minenarbeitern. Später gab er sein rotes Parteibuch zurück und rief – frei nach Antonio Gramsci – den „Sozialismus des Herzens“ aus. Derweil schrieb er unzählige Stücke auf der E-Gitarre, aus ihnen klang seine Wertschätzung für Bob Dylan, The Clash und eben Woody Guthrie. Bald war Bragg selbst zum guten Gewissen der englischen Popmusik geworden.

Seit seinem letzten Album England, Half English aus dem Jahr 2002 war es still geworden um Bragg, dafür wurde er von jungen Musikern wiederentdeckt: Hard-Fi und Jamie T etwa spielten Lieder wie Levi Stubbs‘ Tears und A New England nach. Nun – im Alter von 50 Jahren – ist auch Billy Bragg wieder da: Mr. Love & Justice heißt das mit seiner Begleitband The Blokes eingespielte neue Werk.

Nur wenig hat sich verändert. Das erste Stück I Keep Faith, ist typisch Bragg’scher Soul-Pop, I Almost Killed You mit einer Mundharmonika verzierter Folk-Minimalismus, M For Me dann perlender Barjazz. Dazu gesellen sich Country-Rumpeleien, Gospel-Chöre und Orgeln. Manchmal jault die E-Gitarre verzerrt, zumeist obsiegen die Akustische und die Harmonie. Bragg hat die Themen seines neuen Albums so beschrieben: „Es deckt gewissermaßen meine beiden größten Leidenschaften ab: die Liebe zur sozialen Gerechtigkeit und die Liebe zu Frau und Familie.“

Im Titelstück fragt er ebenjenen Herrn der Liebe und Gerechtigkeit, was man in Krisenzeiten wie diesen nur tun könne. Er fragt sich selbst – und verweigert die Auskunft. So eindringlich Bragg seit drei Dekaden Missstände beklagt, einfache Antworten hat er schon länger keine mehr.

Bragg war der Sänger der Minenarbeiter, der Sänger der Gewerkschaften, der Maggie Thatcher ins Fegefeuer wünschte. Er war der Mann, der aus Wut und Leidenschaft betörenden Folk und Pop machte. Die Wut ist beinahe verschwunden, vom Politischen wechselt Bragg heute gerne ins Private – er weiß, dass beides zusammengehört. Geblieben ist er ein leidenschaftlicher Liedermacher mit einem unverwechselbaren Timbre. Mr. Love & Justice ist nicht sein bestes Album, doch es ist sehr gut, weil es so vielseitig ist. Braggs Gitarre sagt bis heute „Es tut mir leid“, doch sie kennt noch ganz andere Tonarten.

„Mr. Love & Justice“ von Billy Bragg ist bei Cooking Vinyl erschienen.

Der Sänger von Sonne, See und SozialismusBilly Bragg im großen ZEIT-Interview »

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