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So klingt’s zu gut

Die britischen Gothic-Rocker von Bauhaus kamen 25 Jahre nach ihrem letzten Album wieder zusammen. „Go Away White“ ist ein typisches Alterswerk – nicht schlecht, aber auch nicht richtig überzeugend.

Bauhaus Go Away White

Die erste Welle des Punk fegte zwischen den Jahren 1976 und 1978 über die britischen Inseln und veränderte die Musikwelt. Bereits Ende der Siebziger hatte sich die Bewegung zersplittert. Der Post-Punk entstand: The Clash ließen sich vom Reggae inspirieren, die Violent Femmes und die Young Marble Giants brachten die Energie des Punk auf akustischer Gitarre und Orgel zum Klingen, Elektronikbands wie Depeche Mode betonten die Künstlichkeit ihrer Musik. Joy Division und The Cure traten introvertiert auf, reduzierten das Tempo und experimentierten mit düsteren Klängen.

Die Band Bauhaus aus Northampton trieb in dieser Zeit das Düstere in die Finsternis und erfand den Gothic-Rock. Der Gitarrist Daniel Ash, der Schlagzeuger Kevin Haskins und sein Bruder, der Bassist David Haskins, gründeten die Band Mitte des Jahres 1979. Als Sänger engagierten sie den Drucker Peter Murphy, weil sie fanden, er sähe aus wie ein Musiker. Murphy hatte nie zuvor ein Stück oder einen Text geschrieben. Aber er hatte Talent und kaum sechs Wochen nach ihrer ersten Probe nahmen Bauhaus ihre erste Single auf.

Bela Lugosi’s Dead erschien im August 1979, das Stück dauerte düstere neun Minuten und bestand aus kaum mehr als einem simplen Gitarrenmuster, ein paar dumpfen Basstönen, sanftem Klacken des Schlagzeugs und Murphys Proklamation, der Schauspieler Bela Lugosi sei tot. Tot, tot, tot. Das Motiv war genial gewählt. Lugosis Namen verband man wie kaum einen anderen mit den Horror-Filmen der dreißiger Jahre, gestorben war er bereits lange zuvor. Ohne textlich und musikalisch auf die Pauke zu hauen, erzeugten Bauhaus durch die maßlose Repetition eine beklemmende Stimmung. Neun Minuten! Eine gute Punkband spielte in dieser Zeit ein halbes Album. John Peel präsentierte das Stück in seiner Show im britischen Radio, und er lud die Band sofort zu sich ins Studio ein. Noch im selben Jahr nahmen Bauhaus eine Session bei ihm auf.

Nach ein paar weiteren Singles erschien im Herbst 1980 das erste Album In The Flat Fields. Auf diesen ersten Aufnahmen wurden Bauhaus ihrem Namen durchaus gerecht. Die Klänge saßen an den richtigen Stellen, sie spielten keinen Ton zuviel. Bei aller Schwere besaßen sie immer auch Transparenz. Das Düstere entstand nicht durch Klangschichten, sondern durch den druckvollen Bass und Peter Murphys schneidende Stimme.

Drei weitere Studioalben entstanden, bis sich die Band im Jahr 1983 auflöste. Mask war dem ersten Album klanglich noch recht nah, Keyboards und mehrstimmiger Gesang nahmen den Stücken die beklemmende Kargheit. Die folgenden The Sky’s Gone Out und Burning From The Inside bestimmten noch deutlicher flächigere Klänge und poppige Melodien. Von der Magie der ersten Aufnahmen war am Ende nicht einmal Murphys Stimme geblieben, denn aufgrund einer Lungenentzündung war er am letzten Album kaum beteiligt. Erst fünfzehn Jahre später standen Bauhaus ein paar Konzerte lang erneut auf der Bühne. Sie spielten ein neues Stück, veröffentlichten das Live-Album Gotham und lösten sich wieder auf.

Vor zwei Jahren trafen sie sich und traten ein paar mal auf – unter anderem als Vorgruppe der Nine Inch Nails. Dann gingen sie ins Studio. Man habe sich sogar richtig gut verstanden, erzählte Kevin Haskins kürzlich, ein Zwischenfall habe ihnen aber gezeigt, dass sie nicht als Band weiterarbeiten sollten. Mehr verriet er nicht. So nahmen sie Go Away White noch fertig auf – und trennten sich wieder.

Die posthume Veröffentlichung ist zwiespältig. Der Bass tropft stet und tief wie damals, die Gitarre kreischt fast verhalten im Hintergrund. Peter Murphy kieckst und schnoddert, oft ist seine Stimme gedoppelt, oder es singen die Kollegen. Bei Adrenalin schreit er ein bisschen, dazu brezelt der Bass ganz gehörig. Die Lieder sind reduzierter, stellenweise fühlt man sich an Mask erinnert. Denn – und deswegen ist das Album auch eine Enttäuschung – an ihre erste Platte kommen Bauhaus auch nach so langer Zeit nicht mehr heran.

Es ist auffällig: Je weniger man hört, desto besser wird’s. Saved ist ruhig, stellenweise ist da nur Murphys Stimme, ab und an zersägt die Gitarre den leisen Klangteppich. Erst spät taucht ein Rhythmus auf, eine klare Basslinie und ein zaghaft angeticktes Schlagzeug. Adrenalin ist rockig aber klar, bei Mirror Remains gelingt es Bauhaus doch noch, Ruhe in Beklemmung zu verwandeln. So kann es gehen.

Die Melodien der anderen Stücke sind schon in Ordnung, aber wirklich überzeugend sind sie nicht. Viel zu oft fließen Keyboard-Klänge (Undone), Frauenchöre oder gar ein Honky-Tonk-Klavier (International Bulletproof Talent) in die Lücken, die In The Flat Fields noch ließ. Summer Of The Damned fröhnt dem ideenlosen Rock, in Black Stone Heart pfeift Peter Murphy zum elektrischen Klavier, später wird synthetisch geklatscht. So zerstören sie auch einige eigentlich gute Stücke.

Noch deutlicher ist ein technisches Problem: Moderne Studios machen es verlockend einfach, volle Klänge zu erzeugen. Go Away White klingt zu gut, um gut zu klingen. Die Klänge sind zu sauber, der dominante Bass ist perfekt ausgesteuert, die Gitarren reißen an keinem Lautsprecher mehr. Wo sind die Übersteuerungen? Wo ist das schlechtgelaunte Gerumpel? Alles nicht da. So ist Go Away White ein typisches Alterswerk: nicht gut, nicht schlecht, irgendwo zwischendrin und deshalb bald vergessen.

„Go Away White“ von Bauhaus ist bei Cooking Vinyl/Indigo erschienen.

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Brustschwimmen kann sie schon

Die 19-jährige Adele aus London begeistert alle mit ihrem ruhigen Soul. Ihr Material ist herausragend, nur die Produzenten haben zu tief in die Trickkiste gegriffen.

Adele 19

Der alternative Radiosender Motor FM bewirbt seine Musikauswahl mit dem Spruch: „Höre es, bevor es der Mainstream entdeckt.“ Da fragt man sich unweigerlich: Was ist denn so schlimm daran, sich vom breiten, musikalischen Strom umspülen zu lassen? Was treibt diejenigen, die ihm vorausschwimmen müssen?

Es sind die feinen Unterschiede, die eine Gesellschaft strukturieren. Der distinguierte Geschmack des einen teilt ihn von den massenkulturellen Vorlieben des anderen. Es gibt aber auch immer wieder Momente, in denen sich beide einig sind. Momente, in denen Musik aus der Subkultur nach oben dringt und ein unerwartet großes Publikum erreicht, weil sie den Nerv der Zeit trifft. Es sind Momente, in denen sich die Popkultur erneuert und sich die Hörgewohnheiten der Massen verändern.

Aus dem britischen Untergrund krochen 2006 DJ Dangermouse und Cee-Lo Green hervor, sie nannten sich Gnarls Barkley und gaben dem Soul vergangener Jahrzehnte ein zeitgenössisches Gesicht. Die kommerziellen Radiostationen waren hocherfreut ob der frischen Klänge. Diesen Stil griffen Mark Ronson und seine Amy Winehouse auf, drehten noch ein bisschen mehr retrospektiven Seelenschmerz und Straßenglaubwürdigkeit hinein, und fertig war das Wunder: Das Album Back To Black brachte die Durchschnittshörer und die Trendsetter zusammen und setzte neue Maßstäbe.

Der weiße Soul war zurück. Er verband das Vergangene mit modernen Produktionsstilen, zerraspelte alte Hammondorgeln und schmutziges Schlagwerk und heftete elektronische Spielereien an die Schnittstellen.

Dieser Tage nimmt der weiße, der Northern Soul eine weitere Stufe auf dem Weg in die Konzertarenen. Die 19-jährige Adele Adkins aus London hat gerade ihr erstes Album veröffentlicht und schon jetzt alle auf ihrer Seite: die europäischen Radiostationen, die wählerischen Musikexperten und das große Publikum. Wer sie hört, mag sie.

Adeles Lieder sind schlicht und ergreifend. Ruhigen Popsongs fügt sie mit ihrer mal sanften, mal brüchigen Soulstimme das Besondere hinzu. Am schönsten klingt sie ganz allein mit Gitarre oder Klavier – ohne das Balladenorchester, das ihre Kaminzimmermusik zur kitschigen Schmonzette aufbläst. Adeles Material ist herausragend, nur ihre Produzenten haben zu tief in die Trickkiste gegriffen, so als trauten sie dem jungen Talent nicht.

Eg White, der bereits mit Joss Stone, Take That und James Blunt gearbeitet hat, ist verantwortlich für drei typische Popstücke auf dem Album. Die erste Single Chasing Pavements ist solch ein Lied, das White mit Streichern und Trommelwirbeln zwar radiotauglich gemacht aber auch kaputtproduziert hat. Adele hat Kleinodien geschrieben, die zu häufig von Ornamenten erdrückt werden. Auch Mark Ronson durfte einmal Hand anlegen – Cold Shoulder schwimmt im Fahrwasser von Amy Winehouse, setzt aber kein Segel.

Abseits der übergroßen Gesten auf Adeles Album 19 sind wenige zauberhafte Stücke geblieben: Daydreamer und Hometown Glory hallen dafür umso länger nach.

Ja, es gibt Momente in denen sich das Kleine und das Große zu neuer Qualität vermischen. Dieses Album allerdings wird die Hörgewohnheiten der Massen nicht verändern, denn es bleibt beim Altbekannten. Es hat die ballaststoffreichen Balladen für den Rundfunk und die feinen Stücke für daheim. Adele Adkins ist zu wünschen, dass man sie auf der zweiten Platte mit Kurven und Kanten gewinnen lässt. Sie hat gezeigt, dass sie im großen Strom brustschwimmen kann. Nun warten wir auf Schmetterlingsstil.

„19“ von Adele ist bei XL Recordings/Beggars Banquet erschienen.

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Der Prediger schwächelt

Robert Owens veredelte mit seiner Stimme viele alte House-Klassiker. Sein neues Album „Night-Time Stories“ klingt unterhaltsam, hätte aber ein paar frische Ideen vertragen können.

Robert Owens Night-Time Stories

Nur wenige Stimmen vermögen das Lebensgefühl einer musikalischen Ära heraufzubeschwören. Robert Owens ist für den House das, was Frank Sinatra für den Swing und Marvin Gaye für den Soul sind: Verkörperungen eines Stils, dessen Einfluss auf die Popkultur sich weit über den musikalischen Rahmen hinausbewegt. In der Kirche seiner Heimatstadt Ohio stimmlich geschult, zog es Owens zunächst hinter die Plattenspieler. Als DJ arbeitete er in Chicago, wo er den jungen Musiker Larry Heard kennenlernte. Gemeinsam hörten sie Musik, spielten mit Heards Drum-Machine herum und erfanden ganz nebenbei eine neue Musikrichtung: die House Music. Die Stücke, die Owens und Heard unter dem Projektnamen Fingers Inc. aufnahmen, wurden zu Klassikern – Mysterys of Love, Can You Feel It und Bring Down The Walls verbanden Owens suggestiven Bariton mit den harten Vierviertel-Rhythmen, die die Clubmusik prägen sollten.

Als Chicago House Ende der achtziger Jahre seinen kreativen Zenit überschritten hatte, zog Owens nach New York. Er versuchte sich als Keyboarder und Produzent, konnte aber nicht an die Erfolge mit Fingers Inc. anknüpfen. Sein Umzug nach London brachte ihn ein paar Jahre später mit europäischer Clubkultur in Berührung und auf neue Ideen. Seine Rückkehr feierte er als Gastsänger auf dem Album Solaris des Drum’n’Bass-Produzenten Photek. Zuletzt war Owens‘ Stimme in Walk A Mile In My Shoes zu hören, einem beseelten Deephouse-Stück des Duos Coldcut.

Nun erscheint Owens’ Platte Night-Time Stories, sein drittes Album in 18 Jahren. Unterstützt wurde er bei den Aufnahmen von einem guten Dutzend Musiker und Produzenten. Neben internationalen Größen wie Atjazz, Charles Webster und Jimpster stehen auch deutsche Produzenten wie Ian Pooley und das Duo Wahoo auf der Gästeliste. Trotz vieler Hände ist Night-Time Stories ein Album aus einem Guss, denn die Stücke sind ganz auf den Gesang zugeschnitten. Kaum ein Produzent verlässt das musikalische Terrain aus elegantem House, der sowohl im klimatisierten Loft als auch auf dem Tanzboden funktioniert.

Owens hat sich hörbar Mühe gegeben, jeden Geschmack zu treffen: Da stehen packende Chicago-House-Zitate neben sommerlichen Nummern für den Großraumclub, Prisen von R’n’B und HipHop inklusive. Charles Webster verpasst Never Give Up ein pulsierendes Breakbeat-Gerüst, während Kid Massive mit Only Me düstere Wege geht. Ebenso vielseitig klingt Owens’ Stimme: Mal lasziv flüsternd, mal mit kraftvollem Pathos besingt er die klassischen Motive des House. Körperliche Selbstbefreiung, erotische Anspielungen und gospelhafte Durchhalteparolen bestimmen die Texte der 15 Stücke.

Das klingt alles gut und unterhaltsam, leider aber auch recht konservativ. Das Album bietet kaum Überraschungen, von den Innovationen zeitgenössischer Tanzmusik ist wenig zu vernehmen. Gefällig geht es zu, Owens setzt ganz auf das bewährte Rollenspiel zwischen Prediger und Verführer – Geschichten hat er nicht zu erzählen. Vielleicht hätten einige frische Ideen dem Klang der Platte gut getan? Mit Night-Time Stories verwaltet Robert Owens sein Erbe als Stimme des House allzu bedächtig.

„Night-Time Stories“ von Robert Owens ist als CD erschienen bei Compost/Groove Attack.

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Der Tiger schnurrt noch immer

Über die Jahre (34): Kein Album verkaufte sich so gut wie Michael Jacksons „Thriller“. Jetzt wird die erfolgreichste Platte der Popgeschichte wiederveröffentlicht, aber der Qualität von damals ist auch nach 25 Jahren nichts hinzuzufügen.

Michael Jackson Thriller

Am 4. April 1982 betrat Quincy Jones die Westlake Studios in Los Angeles, um Michael Jacksons zweites Soloalbum zu produzieren. Jones hatte genaue Vorstellungen von seiner Arbeit. »Wir sind hier, um die Musikindustrie zu retten«, sagte er zu seinen Kollegen. Im Gepäck hatten Jones und Jackson eine Auswahl von Stücken, an denen sie in den vergangenen Monaten fieberhaft gearbeitet hatten. Sie sollten zu einem Album werden, dessen Dramaturgie Michael Jackson mit Tschaikowskys Nussknacker-Suite verglich.

Nicht einen Schwachpunkt sollte die Platte haben – in der Vision von Jackson und Jones hatte Füllmaterial keinen Platz. Jedes Lied musste ein Höchstmaß an Hitpotenzial besitzen, um das Album in die Charts zu bringen. Auf den überwältigenden Erfolg des Ergebnisses war trotz aller Berechnungen niemand vorbereitet gewesen.

Mehr als 100 Millionen Mal verkaufte sich das Album seit seiner Veröffentlichung. Sieben Singles schafften es in den Achtzigern in die Billboard Top Ten. Damit waren die Grundsätze der Musikindustrie in Frage gestellt: Bisher hatten sich Künstler damit abgefunden, durchschnittlich zwei Stücke eines Albums als Singles auszukoppeln. Die weitläufige Annahme, zu viele Singles könnten dem Album als Gesamtwerk schaden, wurde von Thriller eindrucksvoll widerlegt. Hernach musste kommerzieller Erfolg neu definiert werden.

Bereits mit seiner visionären Disco-Dekonstruktion Off The Wall hatte Jackson alle Schallgrenzen durchbrochen. Die spielerische Dynamik von Don’t Stop ‚Til You Get Enough oder Working Day And Night wich nun einem kalkulierten Pop-Sound. Die neun Stücke auf Thriller schossen querfeldein und erreichten damit nahezu alle Hörerschichten. Das war zuvor nur wenigen schwarzen Künstler gelungen. Dieses Album war weder Disco, noch Rock oder Soul. Es war – wie sein Schöpfer mittlerweile – nicht einmal besonders schwarz. Michael Jackson schuf mithin das erste interkulturelle Popalbum.

So buhlt die weiße Popkultur, verkörpert von Paul McCartney, mit dem schwarzen Superstar um die Aufmerksamkeit eines Mädchens: The Girl Is Mine. Auch der Schulterschluss mit der uralten Heimat gelingt. Im Lied Wanna Be Startin‘ Somethin‘ zitiert der Hintergrundchor den afrikanischen Saxofonisten Manu Dibango.

Michael Jacksons Image wurde für diese Platte gründlich überarbeitet. Hatte er auf der Hülle des Vorgängeralbums noch als Disco-König in weißen Tennissocken posiert, zeigte nun das Foto zu Thriller den Sänger im lässigen weißen Anzug. Auf seinen Knien ruht ein junger Tiger, statt eines strahlenden Lächelns trägt der Sänger einen nüchternen Blick im Gesicht. Dieses Bild wurde zum Symbol schwarzer Coolness.
Das Album überrascht den Hörer mit Humor. Thriller ist eine Platte voller Spielzeug, sie klingt nach Geisterbahn, Schmonzette und Kindergeburtstag zugleich. Wenn im Titelstück der Altmeister des Horrorfilms Vincent Price mit Grabesstimme von Zombies und Vampiren rappt, ist das purer Kitsch. Michael Jackson ist sich der Fallhöhe durchaus bewusst. Sein naives Vergnügen an Rollenspielen prägt das gesamte Album. So inszeniert er sich als gefühlvoller Lover (Baby Be Mine), harter Straßenjunge (Beat It) oder vom Großstadt-Blues geplagter Stalker (Human Nature). Seine hervorragende Stimme verleiht all diesen Figuren Glaubwürdigkeit.

Thriller hat bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt, weil es die Balance zwischen inszenierter Künstlichkeit und Authentizität wahrt. Besonders die musikalische Perfektion lässt es auch nach 25 Jahren noch aktuell klingen. Wie schon für die Aufnahmen zu Off The Wall luden Quincy Jones und Michael Jackson nur die profiliertesten Musiker ins Studio ein. Neben dem ehemaligen Miles-Davis-Schlagzeuger Ndugu Chancler machte auch die halbe Besetzung der Rockband Toto mit. Die Professionalität der Studiomusiker, deren Namen sich nur im Kleingedruckten auf der Plattenhülle wiederfanden, verleihen dem Album eine zeitlose Qualität. Das Material ist ganz auf Michael Jackson zugeschnitten, kein Musiker-Ego stört die Ein-Mann-Schau.

Nur einen Ausbruch gönnt sich der Rockfan Jackson: Er verpflichtete den Gitarristen Eddie van Halen, der auf Beat It eines der berühmtesten Soli der Popmusik einspielte. Ein Geniestreich: Nie zuvor hatte ein weißer Hardrock-Gitarrist über ein Disco-Stück gespielt. Was 1982 noch als unmögliche Paarung erschien, gilt heute Künstlern wie Daft Punk, Justin Timberlake oder LCD Soundsystem als selbstverständlich.

Der eigentliche Höhepunkt des Albums ist jedoch eine einzige Basslinie. Das Motiv aus Billie Jean markiert einen Wendepunkt in der schwarzen Popmusik: Klang der Bass in Stücken wie James Browns Sex Machine noch wie ein räudiger Straßenköter, verwandelt er sich auf Billie Jean in einen schwarzen Panther. Im Rahmen einer Gala zum 25-jährigen Jubiläum der Plattenfirma Motown bezeugte Michael Jackson diese Geschmeidigkeit:
Zu den Klängen von Billie Jean führte er hier zum ersten Mal den legendären Moonwalk auf.

Seitdem lässt sich das Stück kaum ohne die Tanzschritte Jacksons denken. Untrennbar ist Thriller mit dem damals aufstrebenden Musiksender MTV verbunden, der Jacksons innovative Videos in die Rotation nahm und ihre Ausstrahlung zu popkulturellen Großereignissen machte. Mit diesem Album bestärkte Michael Jackson seine visuelle Künstlerpersönlichkeit.

Bei soviel historischer Gewichtigkeit muss die Frage erlaubt sein: Was kann eine Wiederveröffentlichung des Albums der Legende noch hinzufügen? Bereits die im Jahr 2001 erschienene Special Edition gewann dem Werk trotz Demo- und Bonustracks keine neuen Perspektiven ab. Auch für die Jubiläumsausgabe verzichtete man auf eine umfassende Überarbeitung des Sounds. Quincy Jones‘ Produktion gibt es nichts hinzuzufügen.

Um jedoch den Einfluss von Thriller auf den Pop der Gegenwart zu verdeutlichen, durften sich Kanye West, Akon und Will.I.Am von den Black Eyed Peas als Remixer versuchen. Ihre Interpretationen klingen seltsam blutleer. Will.I.Am, der Jacksons neues Album produziert, zwängt The Girl Is Mine und P.Y.T. in ein R’n’B-Korsett. Keine Spur mehr von der Leichtigkeit der Originale. Peinlich gerät der Remix von Beat It, auf dem Will.I.Ams Kollegin Fergie vergeblich ihre Stimmbänder bemüht. Einzig Kanye West kann in seiner Interpretation von Billie Jean frische Ideen umsetzen; vor der Stärke des Originals muss aber auch er kapitulieren.

Dass die Nachahmer scheitern, liegt auch an der emotionalen Brisanz des Materials. Denn trotz all der guten Laune und Verspieltheit zeichnet Thriller bereits erste Gemütsschwankungen Jacksons auf. Es sind die Anzeichen der Paranoia, die sein späteres Werk und Leben bestimmen sollte. So ist Wanna Be Startin‘ Somethin‘ mit seinem hyperaktiven Funk-Groove Jacksons erste Antwort auf die öffentliche Vereinnahmung seiner Person. In Billie Jean ist es der Vorwurf, ein uneheliches Kind gezeugt zu haben, gegen den Jackson verzweifelt ansingt: »She says I am the one, but the kid is not my son«.
Gerade diese musikalisierte Zerbrechlichkeit lässt das Album knapp 25 Jahre nach seinem Erscheinen umso relevanter erscheinen. Thriller ist nicht nur als perfektes Popalbum zu verstehen, sondern vor allem als Spiegel der komplexen Persönlichkeit seines Schöpfers.

„Thriller“ von Michael Jackson ist im Jahr 1982 bei Epic Records erschienen. Die Jubiläumsausgabe „Thriller 25“ ist als Doppel-CD und Doppel-LP erhältlich. Die beiliegende DVD enthält drei Musikclips, sowie Jacksons Auftritt bei der Motown-25-Gala.

Sehen Sie hier die meistverkauften Platten der Musikgeschichte in einer Bildergalerie »

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(30) The Exploited: „Troops Of Tomorrow“ (1982)
(29) Low: „Christmas“ (1999)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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Er liest, sie spielen

Vor 50 Jahren nahm der amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac zwei Alben mit Jazzmusikern auf. Zum Jubiläum werden sie nun neu aufgelegt.

Jack Kerouac Poetry

In den Texten des Poeten Jack Kerouac lebten sie, „die Kinder der amerikanischen Bop-Nacht“. Da war der junge Charlie Parker, der aus Kansas City nach Harlem gekommen war, „übend an regnerischen Tagen“. Er steckte so voller Energie, dass er auf der Bühne „im Kreis lief, während er spielte“. Jack Kerouac ging zu den Konzerten des Altsaxofonisten und ließ sich von ihm inspirieren. Nach Parkers Tod im Jahr 1955 widmete Kerouac ihm das Gedicht Charlie Parker. Es erschien Ende der Fünfziger in dem Gedichtband Mexico City Blues. Im Vorwort des Bandes schrieb Kerouac: „Ich möchte als Jazz-Dichter verstanden werden, der einen langen Blues spielt, in einer Jam-Session an einem Sonntagnachmittag, 242 Refrains.“

Ende der fünfziger Jahre nahm Kerouac zwei Schallplatten auf. Er las seine Texte, Musiker improvisierten eine Untermalung. Auf Poetry For The Beat Generation spielte Steve Allen das Klavier, bei Blues And Haikus begleiteten die Tenorsaxofonisten Al Cohn und Zoot Sims den Literaten. Bob Thiele produzierte die Aufnahmen für die Plattenfirma DOT Records, später wurde er durch seine Aufnahmen mit John Coltrane bekannt. Die Platten sind seit Jahren nur schwer erhältlich, zum 50. Jubiläum werden sie nun neu aufgelegt.

Poetry For The Beat Generation entstand Anfang des Jahres 1958. Die ersten Presseexemplare waren bereits verschickt, da stoppte Labelchef Randy Wood den Vertrieb. Ihm sei aufgefallen, erklärte er der Zeitschrift Variety, dass die Texte nicht jugendfrei seien. Er wolle seinen Kindern so etwas Anstößiges nicht zumuten, seine Plattenfirma würde nur „saubere Familienunterhaltung“ veröffentlichen. Bob Thiele war außer sich und kündigte bei DOT. Mit Steve Allen gründete er die Plattenfirma Hanover Signature und brachte die Aufnahmen Kerouacs im Sommer 1959 selbst heraus.

Auf dem Album liest Kerouac auch sein Gedicht über den verstorbenen Charlie Parker. Verzweiflung klingt in seiner Stimme, er vergleicht Parker mit Buddha und Beethoven. Steve Allen deckt die quälenden Worte mit seinem sanften Klavierspiel zu. Es ist seltsam, die Texte Kerouacs ausgerechnet von Allen begleitet zu hören, denn als Provokateur galt der Pianist nie. Kurz nach ihrem Zusammenspiel lud er Kerouac in seine betuliche Steve Allen Show ein und befragte ihn zu dem Buch On The Road.

Jack Kerouac Blues And Haikus

Noch im selben Jahr produzierte Thiele eine weitere Aufnahme mit Kerouac, diesmal begleiteten ihn Zoot Sims und Al Cohn ins Studio. Kerouac schrieb danach: „Schon immer dachte ich, es müsse wunderschön sein, nur ein Saxofon zu haben. Ohne Rhythmusgruppe oder Klavier. Einfach das pur vibrierende Horn. Zoot und Al blasen gedankenvoll süße, metaphysische Sorgen.“ Blues And Haikus wurde im Oktober 1959 ebenfalls bei Hanover veröffentlicht.

Die beiden Platten könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Steve Allens Klavierspiel die Gedichte eher plaudernd untermalt, setzen Zoot Sims und Al Cohn kraftvolle Kontrapunkte mit zerrissenen, perkussiven Tönen. Wie Presslufthämmer stemmen ihre Hörner den Asphalt der Worte auf. Sie bringen die einsam im Sonnenlicht flirrenden Straßen ebenso zum Vibrieren wie die von Musikern, Nachtschwärmern, Liebenden und Verzweifelten bevölkerten nächtlichen Straßen New Yorks. Kraftvoll klingt das, eben on the road.

„Poetry For The Beat Generation“ von Jack Kerouac und Steve Allen sowie „Blues And Haikus“ von Jack Kerouac, Al Cohn und Zoot Sims wurden bei EMI wiederveröffentlicht.

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Diese DJane ist ein Geschoss

Im Club turnt die Französin Missill drahtig hinter den Plattentellern und legt alle paar Sekunden eine neue Platte auf. Für ihr Album „Targets“ musste sie ein bisschen stillhalten, es fiel ihr schwer.

Missill Targets

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Tanzende auf einen Wechsel an den Plattenspielern aufmerksam zu machen. Mancher DJ ändert radikal den Musikstil, mancher gönnt dem Publikum ein paar Sekunden Ruhe. Die Französin Missill eröffnet ihren Auftritt im Hamburger Baalsaal damit, dass sie die Lautstärkeregler bis zum Anschlag öffnet. Ihr Manager gibt ihr verzweifelt Zeichen, sie wischt seinen stummen Einwand mit einer Handbewegung weg. Sie ist aufgedreht und lässt eine Rakete starten, die Ohren ihres Publikums sind ihr gleich.

Missill ist klein und drahtig. Temporeich wirft sie in ihren Sets HipHop, Reggae und Techno zusammen, was immer ihr eben in die Finger kommt. Sie spielt kaum ein Stück bis zum Ende, jeder Klang wird verfremdet. Ist ihr ein Stück zu langsam, spielt sie es auf 45 Umdrehungen. Hier und da gesteht sie den Tanzenden Verschnaufpausen zu, spätestens nach einer halben Minute unterbricht sie den Reggae mit einem knüppelharten Rhythmus. Ihr Markenzeichen ist ein verzerrter elektrischer Klang, der an den Rock-House der Franzosen von Justice und Ed Banger erinnert.

„Man fragt mich häufig, ob ich Koks schnupfe. Gelegentlich rauche ich einen Joint, das hilft mir, mich zu konzentrieren, ansonsten nehme ich gar keine Drogen“, erzählt Missill. Sie freue sich sogar über das Rauchverbot in Clubs. „Ich bin einfach hyperaktiv“, sagt sie. Missill ist auch Graffiti-Künstlerin, nimmt Platten auf und gestaltet die Hüllen selbst – im Manga-Stil.

Hyperaktiv klingt auch die Musik ihres Albums Targets. Es beginnt druckvoll mit einer Mischung aus Reggae und HipHop, MC Dynamite spendiert flinke Raps. Es ist eine wilde Reise: Eine knappe Stunde lang verwurstet Missill von Baile Funk bis Elektro beinahe jede Spielart urbaner Tanzmusik, ständig erhöht sie die Taktzahl. Springt man nach den abschließenden harten Tanzflächenfüllern zu den ersten Stücken der CD zurück, klingen diese sogar ruhig. Missill sagt, es sei ihr im Studio schwergefallen, den jeweiligen Stil eines Stücks beizubehalten, „vier Minuten ohne Wechsel? Aaaah!“ Die Platte sei für die Tanzfläche produziert, in Clubs habe sie die Stücke getestet und anschließend verfeinert.

Auf Dauer ermüden Missills brachiale Klänge. Stücke wie Check Dat erinnern zu sehr an frühere Kreuzungsversuche aus Rock und HipHop. Am Ende der Platte sind die Stücke dermaßen rockig, dass man es kaum anhören mag. So leicht man sich von ihrer Energie und dem Ideenreichtum ihrer Musik beeindruckend lässt, so schnell fühlt man sich zu alt für Targets.

„Targets“ von Missill ist erschienen bei Discograph/Rough Trade.

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Elvis lebt in Addis Abeba

Anfang der Siebziger schepperten Soul, Funk und Jazz durch die Gassen der äthiopischen Hauptstadt, über 500 Platten erschienen. Die Serie Éthiopiques erinnert an die fünf goldenen Jahre des ostafrikanischen Landes.

The Very Best Of Ethiopiques

Kolonialisiert wurde Äthiopien nie, dennoch litt der Prozess der Demokratisierung unter typisch afrikanischen Problemen. Der Sturz des Kaisers Haile Selassie im Jahr 1974 brachte nicht die Freiheit, sondern eine Militärregierung. Mitte der Achtziger forderte eine Hungersnot Millionen von Opfern, als das Regime im Jahr 1991 zusammenbrach, hinterließ es eine traumatisierte Gesellschaft. Seitdem ist Äthiopien eine fragile parlamentarische Demokratie.

Alles wäre einfacher, drehte die Welt sich um Musik. Dieser Gedanke drängt sich auf, vertieft man sich in das Album The Very Best Of Éthiopiques, eine Zusammenstellung äthiopischer Pop- und Jazzmusik aus den Sechzigern und Siebzigern. Man lauscht den Klängen Mulatu Astatkes und versteht mehr von der Welt. Er zog nach England zum Studieren und kam mit Jazz und Latin-Musik zurück. Genau genommen ein Re-Import, bezieht sich der westliche Jazz doch bereits auf die Musik des schwarzen Kontinents. Astatke brachte ihn zurück nach Addis Abeba. Kein Jazz der Welt klingt wie seiner.

Die Geschichte der äthiopischen Musik ist eine Geschichte der Repressionen. Im Kaiserreich gab es nur eine staatliche Plattenfirma. Sie allein durfte Platten produzieren, tat es aber kaum. Im Jahr 1969, da schwächelte die Feudalherrschaft bereits, gründete der 25-jährige Amha Eshèté die erste unabhängige Plattenfirma. „Ich war sicher, niemand würde mich dafür umbringen. Allenfalls würde man mich eine Weile einsperren“, erzählt er heute. Er nannte die Firma Amha Records, ein Beweis seiner Furchtlosigkeit.

Amha Eshèté geschah nichts und die Hauptstadt Addis Abeba wurde zu Swinging Addis. Aus Polizeiorchestern gingen Bands hervor, das Nachtleben pulsierte. Westliche Einflüsse mischten sich mit Traditionellem, es vibrierten Funk und Soul. Wenn das Saxofon solierte, waren shellèla zu hören, die Strukturen altertümlichen Schlachtgesangs. Der populäre Sänger Alèmayèhu Eshèté galt den einen als äthiopischer James Brown, den anderen als äthiopischer Elvis.

Rund 500 Platten erschienen in den fünf Jahren bis zum Militärputsch, die meisten davon waren Singles. Die Aufnahmetechnik ist rudimentär, das Schlagwerk scheppert, Stimmen und Saxofone zerren übersteuert. Der Musik schadet das nicht, sie klingt warm und lebendig.

Der Umsturz nahm Addis den Swing. Musik wurde verdächtig, Nachtclubs geschlossen, der Spaß verboten. Viele der Künstler gingen ins Exil, mit ihnen Amha Eshèté. Die Produktion von Schallplatten kam im Jahr 1978 zum Erliegen. Die Musik der Gebliebenen veränderte sich, sie zogen sich ins Private zurück. Synthesizer ersetzen die Bands, so konnte unauffälliger produziert werden. Synthesizer können nicht swingen, die goldene Zeit der äthiopischen Musik war vorbei.

Ali Abdella Kaifa, der Betreiber des Tango Music Shop, brachte weiterhin viele der Aufnahmen unters Volk. Er wurde Ali Tango genannt und veröffentlichte Kassetten, denn sie waren leicht herzustellen und zu verbreiten. Es heißt, von einigen Titeln habe er mehr als 100.000 Stück verkauft.

Seit dem Jahr 1998 entstaubt das französische Label Buda Musique die musikalischen Perlen aus Swinging Addis. Mehr als 20 Alben und Kompilationen sind in der Serie Éthiopiques bereits erschienen, jede einzelne Platte ist hörenswert. Zum Einstieg eignet sich die nun erschienene Doppel-CD The Very Best Of Éthiopiques, sie zieht ein wohlklingendes Resümee der letzten zehn Jahre.

Haben sie genug vom Buena Vista Social Club? Dann hören Sie mal nach Äthiopien.

„The Very Best Of Éthiopiques“ ist als Doppel-CD erschienen bei Union Square Music/Soulfood Music.

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Curtis Mayfield: „Back To The World“ (Curtom 1973)
Benny Sings: „Benny… At Home“ (Sonar Kollektiv 2007)
Sister Sledge: „We Are Family“ (Atlantic/Warner 1979)
Mark Ronson: „Version“ (Columbia/Sony BMG 2007)
Georgia Anne Muldrow: „Olesi: Fragments Of An Earth“ (Stones Throw/PIAS 2006)

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Zu alt für Prügeleien

Das Globe Unity Orchestra feiert seinen Geburtstag: Seit 40 Jahren machen die Musiker um Alexander von Schlippenbach Free Jazz in Bigband-Besetzung.

Das Jubiläum wurde dort gefeiert, wo alles begonnen hatte. Im Jahr 1966 war das Globe Unity Orchestra als erste deutsche Free-Jazz-Formation in Bigband-Besetzung für einen Auftritt beim Berliner JazzFest entstanden, 40 Jahre später stand die Gruppe um den Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach dort wieder auf der Bühne. Die CD Globe Unity – 40 Years fasst das Wirken des Orchesters zusammen und präsentiert neues Material. Aufgenommen wurde sie bei Konzerten in Berlin und Baden-Baden.

Als er mit dem Free Jazz angefangen habe, seien traditionelle Formen verboten gewesen, erzählt Alexander von Schlippenbach. Das habe sich geändert, das Genre sei ein bisschen ausgefranst in letzter Zeit. So konzentriere er sich auf das, was ihm wichtig sei: die Improvisation. Derzeit spielt er mit zwei Schlagzeugern und einem guten Dutzend Bläser zusammen, erst kürzlich stießen der Bassklarinettist Rudi Mahall, der Posaunist Jeb Bishop und der Trompeter Axel Dörner zur Formation. Viele seiner Musiker haben die 60 überschritten, ihre Soli klingen stolz. Von Schlippenbachs Arrangements profitieren vor allem jene der 15 Solisten, die sich nicht gegen die Klangstürme des Orchesters behaupten müssen, sondern Entwicklungsraum für den eigenen Ton bekommen. Der durch einen Schlaganfall geschwächte Trompeter Kenny Wheeler nutzt diese Gelegenheit in Nodago mit nach wie vor zauberhaftem Ton, ebenso Axel Dörner in Steve Lacys The Dumps.

Nicht alle bekommen so viel Raum. Der schwarze Posaunisten George Lewis erläutert, dass der Free Jazz Disziplin fordere. Schlippenbach habe ihm untersagt, bei den neuen Aufnahmen seine „little instruments“, kleine Flöten und Ähnliches, zu benutzen. Es sei aber kein Problem gewesen, diesen Wunsch zu respektieren. Überhaupt scheint Harmonie eingekehrt zu sein, früher ging es schon mal hoch her beim Globe Unity Orchestra. Im Büchlein zur Platte 20th Anniversary hatte Schlippenbach 1988 noch von handgreiflichen Auseinandersetzungen berichtet, der Saxofonist Peter Brötzmann und der Bassist Peter Kowald seien danach eigene Wege gegangen.

Ein letztes Mal zu hören ist der im vergangenen Jahr verstorbene Posaunist Paul Rutherford. In jüngster Zeit hatte er sich noch beklagt, dass er in London keine Auftritte mehr bekäme und in einem Nachtclub als Türsteher jobben müsse. George Lewis erweist Rutherford in den Erläuterungen zur CD die letzte Ehre und berichtet, wie sein Spiel vor gut 30 Jahren Lewis’ Ansichten über die Klangerzeugung mit der Posaune nachhaltig verändert habe.


Sehen Sie in einer Bildergalerie, was die Mitglieder des Globe Unity Orchestra zum Jubiläum sagen »

„Globe Unity – 40 Years“ vom Globe Unity Orchestra ist bei Intakt erschienen.

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Khaki ist das neue Bunt

Mit afrikanischen Melodien bringen Vampire Weekend aus New York den Indiepop auf Trab. Ihr Debütalbum ist ein tropischer Früchtekorb.

Vampire Weekend

Oh, eine neue Jungsgruppe aus New York: nicht schon wieder.

Oh, eine neue Jungsgruppe aus New York: ganz außerordentlich!

Ja, der Ton macht die Musik, und die Musik macht den Ton. In diesem Fall macht’s der Ton des „Oh“, wie in dem Lied A-Punk.

Bisher klang das Wort aus dem Mund eines Indierockers nach schmerzhafter Langweile. Ezra Koenig, der Sänger von Vampire Weekend, lässt es nach Kochbananen, Yams und Ananas schmecken. Die Melancholie des Winters ist geschmolzen in tropischer Sonne, vorbei ist die Zeit der beröhrten Baumwollschalträger. Jetzt sind Polohemden und Khaki-Shorts angesagt.

Vampire Weekend langweilten sich im prätentiösen Korsett des Indierock. Mit Experimentierfreude und Offenheit gegenüber allen Klangwelten gingen sie ans Werk und schufen ein beglückendes Debütalbum. Ihre Lieder vereinen Ska, Afrobeat und Highlife mit den Mitteln poppiger und klassischer Komposition. Gitarren dürfen wieder unverzerrt in Terzen schallen, Orgel und Cembalo schütteln Bach aus der kleinen Taste, Streicher flirren am mangofarbenen Horizont, und das Schlagwerk schöpft aus der Lostrommel: Triolen auf Viertel auf Synkopen, Rassel auf Tomtom auf Conga.

All das klingt so bunt wie die in Cape Cod Kwassa Kwassa besungenen Benetton-Pullover. Oder wie ein afrikanisches Festtagsgewand. Die vier Absolventen der Columbia University haben sich umgehört und auf dem schwarzen Kontinent die Melodien gefunden, die ihnen in ihrem Entwurf von interessanter Popmusik fehlten. Das haben schon viele vor ihnen getan – man denke an Paul Simons Graceland, an Damon Albarn oder an A.J. Holmes, den selbst ernannten King Of The New Electric Hi-Life. Das mag man als Exotismus abtun, als billiges Unterscheidungsmerkmal im Kampf ums Musikerdasein. Aber es ist doch niemandem vorzuwerfen, er bringe die ermattete westliche Popwelt ein bisschen auf Trab.

Ezra Koenig schreibt Texte, wie sie von einem graduierten Literaturstudenten zu erwarten sind: voller Metaphern, gesellschaftskritischer Beobachtungen und rätselhafter Referenzen. Allein mit ihrer Analyse ließe sich viel Zeit verbringen, einige Journalisten führen sie irre. Wenn Koenig von einem gewissen Walcott singt, könnte man annehmen, er meine den Literaturnobelpreisträger. Mitnichten, den Walcott in seinem Lied hat er sich einfach ausgedacht. Er ist eine Figur aus einem Film, den Koenig früher einmal machen wollte, und der sollte Vampire Weekend heißen.

Aus dem Streifen wurde nichts. Dafür ging es schnell voran mit der Musik. Die junge Band schloss im vergangenen Jahr einen Vertrag mit XL Recordings, der Plattenfirma, die auch die White Stripes, Devendra Banhart, M.I.A. und Thom Yorke vertritt. Dann wurden die ersten Kritiker auf sie aufmerksam, und nun sollen Vampire Weekend die Pop-Hoffnung 2008 sein. Vampire Year müssten sie heißen.

Der Rummel schert sie wenig. Im Interview sagt der Schlagzeuger Christopher Tomson (welch klangvoller Nachname für einen Trommler!): „Wir konzentrieren uns auf unsere Hälfte der Gleichung. Wir machen die Lieder, mit denen wir uns wohl fühlen. Die andere Hälfte ist die Reaktion der Leute.“ Das hört sich ganz lässig an, zurückgelehnt und bedacht. Ebenso wirkt Ezra Koenig, wenn er von den Musiken Afrikas und Indiens spricht und wie sie von westlichen Künstlern adaptiert werden. Auf den kulturellen Kontext komme es an. Mit anderen Worten: Die Musik macht den Ton.

Ezra Koenig und Christopher Tomson sprechen über adrette Kleidung, Exotismus und Langeweile im Indierock. Lesen Sie hier das Interview »

Das Debütalbum von Vampire Weekend ist bei XL Recordings/Beggars Banquet erschienen.

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Auf ins Brackwasser, Puppe!

Über die Jahre (33): Bill Callahan alias Smog schreibt ergreifend deprimierende Lieder. Sein “The Doctor Came At Dawn” aus dem Jahr 1996 ist die schönste aller traurigen Platten.

Smog The Doctor Came At Dawn

Bill Callahan hält sich für den Größten. Er könne nicht anders, sagte er einmal in einem Interview. Lange habe er sich angehört, was musikalisch um ihn herum passiere. So sei er zu der Erkenntnis gekommen, ein brillanter Musiker zu sein, vermutlich sogar der brillanteste.

Solche Kraftmeierei hört man nicht gern aus dem Mund eines megalomanen Rappers wie 50 Cent oder eines notorischen Nörglers wie Lou Reed. Aber wer so deprimierende Platten aufnimmt wie Bill Callahan, dem gesteht man ein bisschen Angeberei gerne zu. Seine Lieder veröffentlicht er unter dem Namen Smog, sein The Doctor Came At Dawn aus dem Jahr 1996 ist die schönste aller traurigen Platten.

Ich kaufte mir das Album mit dem abgetakelten Dreimaster auf der Hülle, überspielte es auf Kassette, und fuhr mitten im Winter mit zwei Freunden an eine See in Norditalien. Während wir durch frostbedeckte Landschaften fuhren, sang Bill Callahan mit seiner tiefen Stimme zur gezupften Gitarre: „Four hearts in a can speeding through the countryside”. Dass wir nur drei Herzen in einer rollenden Blechdose waren, störte uns nicht. Kein anderes Lied hätte besser gepasst.

Seitdem hat mich The Doctor Came At Dawn durch viele Winter begleitet. Diese eigenartige Mixtur aus experimentellem Folk und leisem Rock legt man nicht an einem strahlenden Hochsommertag auf den Plattenteller. Das dunkle Kratzen des Cellos, die immer etwas verstimmt klingende Akustikgitarre, hin und wieder ein paar verhallte Effekte und Pianosprenkel – das erfordert kahle Bäume, keine blühenden Zweige.

Zu dieser finsteren musikalischen Kulisse watet Bill Callahan knöcheltief durch das Brackwasser verpasster Gelegenheiten, singt galgenhumorig von den Schattenseiten seiner Liebesbeziehungen. Einsamer Höhepunkt ist All Your Women Things, da ist die Angebetete schon lange fort. Viele ihrer Habseligkeiten hat sie zurückgelassen, Unterwäsche, Riemen, Rüschen und falsche Nägel. Schmerzhaft sind dem Einsamen diese Erinnerungen. Er trägt sie zusammen und bastelt eine Puppe daraus, die zum Fetisch wird.

Mittlerweile hat er sein Pseudonym abgelegt, das Album Woke On A Whaleheart erschien im vergangenen Jahr unter seinem richtigen Namen. Und ob der 42-jährige Callahan nun wirklich so „really, really fucking good“ ist, wie er behauptet: geschenkt! Zweifellos aber hat er mit The Doctor Came At Dawn bewiesen, dass Schönheit und Unbehagen sich nicht ausschließen müssen.

„The Doctor Came At Dawn“ von Smog ist im Jahr 1996 als CD und LP bei Drag City erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(32) Naked Lunch: „This Atom Heart Of Ours“ (2007)
(31) Neil Young: „Dead Man“ (1996)
(30) The Exploited: „Troops Of Tomorrow“ (1982)
(29) Low: „Christmas“ (1999)
(28) Nena: „Nena“ (1983)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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