Lesezeichen
 

Puls im Glanzanzug

Yeasayer aus Brooklyn rufen zum Zirkeltraining. Zehn Stationen einer anderen musikalischen Welt sind zu durchstehen, ein bisschen Sport muss schließlich sein.

Yeasayer All Hour Cymbals

Erste Station:

Gospel-Klatschen. Die Band macht es vor und wir beeilen uns mitzukommen. Dabei ist alles so entspannt. Ein leichtes Klagen, ein weiches Wünschen, warum sollte der Sonnenschein nicht auch uns begrüßen. Und dann passiert es.

Zweite Station.

Wir dürfen unsere Saiteninstrumente auspacken. Das Mädchen mit der Ukulele legt los, wird bald vom Banjo übertönt, gemeinsam erklimmen wir den Gipfel. „Wait For The Summer“, singen wir und warten. Dann wechselt das Tempo und der innere Puls schlägt leichter, schneller, passt sich dem Fluss des Gesangs und des schwingenden Tambourins an und einer nach dem anderen geht einfach, wenn es ihm passt zur

Dritten Station.

Wir haben unsere Raumanzüge mitgebracht, heben aber nicht ab. 2080 ist so weit weg, wir bleiben in der Gegenwart. Der Basslauf und ein gerades Schlagzeug nehmen uns mit auf einen Ritt, bis uns irgendwann doch noch die Schwärze der Popmelancholie umfängt.

Vierte Station.

Nach einem kollektiven Niesanfall sind wir froh, die glänzenden Anzüge noch nicht ausgezogen zu haben. Eifrig machen wir uns an die Arbeit und jonglieren mit Reagenzgläsern und Akkordeons, wir entdecken das Heilmittel und nehmen es nicht.

Fünfte Station.

Ein kurzes „Ah“ bringt uns in die kalifornische Gospelgemeinde Beach Valley. Aus einer Riesen-Zymbal und feinem afrikanischen Sand müssen wir eine indianische Moschee bauen, das ist uns ein Leichtes. Als wir fast fertig sind, schlendert ein Bluesgitarrist um die Ecke, wir begleiten ihn auf Mamas Juwelen.

Sechste Station.

Eine Übung für unser Inneres. Wie schnell vergeht der Ärger, wenn man zuhört. Welch ein erhabener Moment.

Siebte Station.

In mongolischen Fellen stapfen wir durch den Frost, beschwören das Monster der Rock-Steppe und wagen einen Abstecher ins Okkulte. Wie bei 1, 2 oder 3 hüpfen wir von einem Fass auf das nächste und wundern uns, dass am Ende alle Antworten richtig sind.

Achte Station.

Wir sind erleichtert, dass jetzt moderate Waikiki-Hüftschwünge angesagt sind. Wir drehen uns so lange im Kreis, bis uns schwindelig wird, und stolpern zur

Neunten Station.

Im Erdreich ist es dunkel, wir bauen uns eine Wurm-Pyramide.

Zehnte Station.

Wir entfliehen der Düsternis und landen in der roten Höhle. Wir sammeln die umherliegenden Instrumente ein, klettern aus unseren von Sand und Lehm beschmutzten Raumanzügen und suchen Holz für ein Lagerfeuer. Und weil da ein Wald ist, wird es ein großes Feuer. Und weil das nicht reicht, tanzen wir. Und weil das auch noch nicht genug ist, sind wir einfach froh, zu sein, wo wir sind.

Auf dem Heimweg freuen wir uns, wie großartig doch ein bisschen Sport sein kann.

„All Hour Cymbals“ von Yeasayer ist bei We Are Free/Cargo Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Portishead: „Third“ (Island/Universal 2008)
Gnarls Barkley: „The Odd Couple“ (Warner 2008)
Taunus: „Harriet“ (Ahornfelder 2008)
Billy Bragg: „Mr. Love & Justice“ (Cooking Vinyl 2008)
Adele: „s/t“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wer singt schon über Rügen

Kettcar aus Hamburg haben den Klangteppich glattgebürstet. Ihrem neuen Album „Sylt“ fehlen die Leuchttürme.

Kettcar Sylt

Der Deutschen Lieblingsinsel? Rügen. Aber wer besingt schon Rügen. Der deutschen Musiker Lieblingsinsel ist Sylt. Gleich hinterm Hindenburgdamm fanden Reinhard Mey und Die Ärzte ihr Glück – oder zumindest manchen Erfolg. Nun also nennen Kettcar ihr neues Album nach der größten hiesigen Nordseeinsel.

Stellen wir uns vor, wir seien nie auf Sylt gewesen. Wir wüssten nur, was über die Schickeria und das Strandleben in den bunten Blättern steht. Theodor Storm? Nie gehört. Wie würden wir uns wohl eine Platte vorstellen, die den Namen des einzigen gemeinsamen Vororts von Berlin und Hamburg trägt? „Das alles ist so was von langweilig“, befindet der Sänger Marcus Wiebusch. Meint er Sylt? Oder Sylt?

Kettcar sind ein Phänomen. Zusammen mit den Hamburger Kollegen von Tomte bissen sie sich durch schlechte Zeiten ohne Plattenvertrag, Konzert um Konzert. Auf der klassischen Ochsentour erspielten sie sich Anhänger. Deren Schar war bald so groß, dass Talentsucher und Kritiker ihre Ohren nicht länger verschließen konnten.

Im Jahr 2002 erschien Kettcars erstes Album Du und wieviel von deinen Freunden, elf rockige Lieder mit rotzigen deutschen Texten. Nicht Punk, nicht Pop, irgendwas dazwischen. Auch Kettcar durften ein bisschen mitschwimmen auf der Erfolgswelle deutschsprachiger Poprockmusik. Im Jahr 2005 folgte das zweite Album, Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen. Das Freche wich dem Schmalzigen. Mit Sylt nun weicht auch der letzte Rest Originalität dem Einheitsbrei. Wie gehabt streuen sie kleine Sprachspielereien und englische Halbsätze in ihre bodenständige Musik. Und gleich hinter der Textdünung rauscht der mal laut geschrabbelte, mal leise gezupfte Gitarrenklangteppich. Die meisten Lieder klingen, als würden Kettcar sich selbst covern.

Auf Sylt gibt es Leuchttürme. Auf Sylt leider nicht. Kettcar haben den Klangteppich glattgebürstet, eine träge Masse quillt aus den Lautsprechern. So klingt fürs Formatradio produzierter Deutschrock. Die Texte sind nicht schlecht, aber bemüht. Sie berühren den Hörer ebenso wenig wie die Musik.

Anhänger der Band werden das alles wohl schätzen und ihren nächsten Urlaub auf Sylt verbringen. Der Kritiker aber langweilt sich und fährt lieber nach – Rügen.

„Sylt“ von Kettcar ist auf CD und LP erschienen bei Grand Hotel van Cleef/Indigo.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (Etiquette Records 1965)
Mondo Fumatore: „The Hand“ (Rewika 2008)
dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (Island/Universal 1996)
Bauhaus: „Go Away White“ (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
Nada Surf: „Lucky“ (City Slang 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Lecker Strychnin

Über die Jahre (36): Das wilde Geschrammel der Sonics wurde erst bekannt, als sich die Gruppe längst aufgelöst hatte. Ihr Debütalbum „Here Are The Sonics!!!“ von 1965 klingt zeitlos furios.

The Sonics Here Are The Sonics

Gerry Roslie wollte anders klingen. Er sang nicht, er schrie, er kreischte: „Wow!“, Gerry Roslie drehte durch. Die Band begleitete seine Ausbrüche mit scheppernder Krachmusik: Die Brüder Andy und Larry Parypa am Bass und an der Gitarre, Rob Lind am Saxofon und Bob Bennett am Schlagzeug. Es war 1963 in Tacoma, einem Hafenstädtchen im US-Bundesstaat Washington. Die fünf Jungs hatten ihr Ziel damals klar vor Augen: „We wanted to blow people off their feet, not just with loudness, but with tightness, with music that made you want to dance“.

Bald wurde der Bassist der Wailers, Buck Ormsby, auf die Band aufmerksam. Er lotste sie ins Studio und bannte ihre jugendlichen Ausbrüche auf Platte. Dem Sänger habe der Hals geschmerzt nach den ersten Aufnahmen, ist auf der Hülle von Here Are The Sonics!!! zu lesen. Die Techniker seien verstört gewesen, die Band nicht weniger. Die Musiker hätten das Gefühl gehabt, die Aufnahme sei misslungen – der Vater der Parypa-Brüder habe Buck Ormsby gar Prügel angedroht. Dieser hätte sie beruhigt, schließlich habe alles genau richtig geklungen: Übersteuert, roh – als sei es in einer Garage aufgenommen.

Ormsbys Plattenfirma Etiquette Records brachte im Jahr 1964 ihre erste Single The Witch heraus, es wurde ein Hit an der Nordwestküste. Im folgenden Jahr erschien Here Are The Sonics!!!, es versammelte einige unspektakuläre Lieder neben den explosiven Stücken Psycho, Strychnine und eben The Witch. Roslie sang von Liebeswahn, Autos und dem Geschmack von Strychnin: „Some folks like water, some folks like wine, but I like the taste of straight strychnine.“

Erst Jahre später wurden The Sonics bekannt, da hatten sie sich längst aufgelöst. Als der Punk die Musikwelt erschütterte, wurde ihnen späte Anerkennung zuteil. Vor ein paar Monaten gaben The Sonics ihr erstes Europa-Konzert in London. Es sei tragisch, schrieb die taz zu dieser Gelegenheit, damals seien die Sonics ihrer Zeit zehn Jahre voraus gewesen, heute seien sie dreißig Jahre zu spät dran.

Sie mögen alt sein, ihre neuerlichen Auftritte müde: Aber es ist nie zu spät, die furiosen Lieder der Sonics zu hören.

„Here Are The Sonics!!!“ von The Sonics ist im Jahr 1965 erschienen und bei Norton Records erhältlich.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(35) dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (1996)
(34) Miles Davis: „On The Corner“ (1972)
(33) Smog: „The Doctor Came At Dawn“ (1996)
(32) Naked Lunch: „This Atom Heart Of Ours“ (2007)
(31) Neil Young: „Dead Man“ (1996)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Im Schein des Feuerzeugs

Auf „The Lighter“ singt Joanne Robertson 13 unfertige Lieder. Ihre schlaftrunkene Stimme, karge Gitarrenklänge und organische Geräusche verleihen dem Album Intimität.

The Lighter Joanne Robertson

Hört man Joanne Robertson singen, kann man sie sich dabei vorstellen. Sie sitzt auf dem Bett in einem spärlich beleuchteten Zimmer. Draußen ist es duster, die Stadt liegt still. Kein Geräusch ist zu hören – bis auf das Anschlagen der Gitarrensaiten. Dann dringt eine Stimme durch das Halbdunkel. „The people in the village / all are sleeping / when nighttime ends / we’ll take it now“, singt Joanne Robertson mit geschlossenen Augen. Ihre Lieder klingen, als seien sie in einem Zustand zwischen Träumen und Wachen aufgenommen worden. In diesen Momenten entstehen Bilder von eigenartiger Kraft, deren Sinn sich niemals ganz erschließt. Die Welt erscheint unwirklich, Worte und Sätze wollen nicht zusammenpassen.

The Lighter heißt ihr Album. Es ist kein in sich geschlossenes Werk, vielmehr eine Sammlung skizzenhafter Stücke. Ihre musikalische Offenheit fasziniert. Keines der 13 Stücke klingt wie eine fertige Komposition. Melodien lassen sich allenfalls erahnen, nur selten kehrt ein erkennbarer Refrain wieder. Es sind kurze, zerbrechliche Lieder voller rätselhafter Bilder. Wie die Flamme eines Feuerzeugs drohen sie zu erlöschen. Robertsons Gitarrenspiel klingt improvisiert, fast karg. Meist kommt sie mit wenigen, gleichwohl wirkungsvollen Griffen aus. Mal ist die Bewegung ihrer Finger auf dem Griffbrett der Gitarre zu hören, mal leise Atemgeräusche. Diese Geräuschkulisse vermittelt Intimität, es ist, als säße man gleich neben ihr.

Diese Wirkung ist nicht auf Zufälligkeit oder charmanten Dilettantismus zurückzuführen. Trotz seiner Grobkörnigkeit ist The Lighter ein wohldurchdachtes Kunstwerk. Joanne Robertson hat in Glasgow Malerei studiert und gehört zu einer überschaubaren Szene junger britischer Künstler. Die Zeichnung auf der Plattenhülle stammt von ihr. Bereits mit ihrer Band I Love Lucy improvisierte sie Texte und sie trat mit dem Künstlerkollektiv Blood ’n Feathers auf. Auf The Lighter singt sie Stücke, die sie bereits in London mit dem Konzeptkünstler Martin Creed aufführte.

Mit dem Weird Folk von Devendra Banhart und Joanna Newsom hat sie nichts zu tun, deren Drang zur prätentiösen Inszenierung teilt sie nicht. Die Person Joanne Robertson bleibt hinter ihren Liedern unsichtbar. Einzig ihre Stimme dringt aus dem Dunkel hervor.

Joanne Robertson singt, als fielen ihr Musik und Text erst in diesem Moment in den Schoß. Sie singt mit schlaftrunkener Stimme, die ganze Textzeilen verschleiert. Weil sich nur vereinzelt Worte und Sätze erahnen lassen, ist schwer zu sagen, wovon die Lieder handeln. Ihr entrückte Gesang verleiht den Worten einen Klang, hinter dem der eigentliche Sinn verschwindet. Stücken wie Marker und Crackling ist die Uneindeutigkeit zuträglich, sie schimmern geheimnisvoll, fast magisch. Die Stimme klingt wie aus weiter Ferne herüber, auf allem liegt Hall. Dem Stück Blow verleiht dieser Effekt etwas Geisterhaftes. Auf Stovepipe doppeln sich Robertsons dissonante Anschläge, um schließlich zitternd zu verhallen.

„Dreaming is a garden“, singt Robertson in Silver. In diesem Garten möchte man sich ein ums andere Mal verlieren.

„The Lighter“ von Joanne Robertson ist als LP und CD bei Textile Records/Cargo erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie FOLK
Smog: „The Doctor Came At Dawn“ (Drag City 1996)
Castanets: „In The Vines“ (Asthmatic Kitty/Cargo 2007)
Jeffrey Lewis: „12 Crass Songs“ (Rough Trade 2007)
Scout Niblett: „This Fool Can Die Now“ (Too Pure/Beggars Banquet 2007)
„Never the Same – Leave-Taking From The British Folk Revival 1970-1977“ (Honest Jon’s 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ein Liter Schwarzer Atlantik

Seit 25 Jahren rappen britische MCs über karibische Rhythmen. „An England Story“ resümiert die vom Kolonialismus geprägte Geschichte des HipHop im Vereinigten Königreich.

Soul Jazz England Story

Die Menschen bei Soul Jazz Records müssen riesige Ohren haben. Im Londoner Viertel Soho sitzen sie vor Plattenspielern und hören sich täglich durch hohe Stapel verkratzter Vinylscheiben, gefunden in Kellern, billig erstanden auf Flohmärkten, für viel Geld beim Sammler gekauft. Welche Namen man der Musik gegeben hat, ist ihnen gleich, ebenso, auf welchem Kontinent und in welchem Jahrzehnt sie aufgenommen wurde. Die Menschen bei Soul Jazz Records in Soho hören einfach alles.

Sie tun das nicht für sich, sie wollen Geschichten erzählen, Geschichte erzählen. Immer wenn sie zehn, zwanzig tolle Stücke in einer Schublade gesammelt haben, bringen sie eine Platte raus und verkaufen sie zu einem guten Preis. In ihrem Plattenladen Sounds Of The Universe in der Broadwick Street und bei Honest Jon’s in der Portobello Road kosten die CDs und Doppel-LPs rund zehn Pfund, so günstig bekommt man sie in Deutschland nicht.

Freilich, die Kompilationen von Soul Jazz Records sind sehr speziell. Ganze Serien entstehen, die sich mit winzigen Bereichen der populären Musik auseinandersetzen. Mehrere Alben führten in den New York Noise der Jahre 1977 bis 1984 ein. Funk ist nicht gleich Funk, sondern Philadelphia Funk, New Orleans Funk oder Jamaica Funk. Und so ist das bei jedem Genre: Ort und Zeit spielen eine große Rolle. Doch das Spezielle dient hier nicht der Abgrenzung, sondern der Verbreitung von Wissen über Musik und der Vermittlung eines Gefühls für die Geschichte der Musik. Diese Alben wollen sie erzählen, deshalb sind in den Hüllen kluge Texte über die Hintergründe der Aufnahmen abgedruckt. Man erfährt etwas über das Genre, über die Künstler und die Lieder.

Seit beinahe zwanzig Jahren verfolgen die Menschen bei Soul Jazz Records ihre Mission, rund 180 Zusammenstellungen sind in dieser Zeit entstanden. Anfangs waren darauf vor allem Reggae und Ska, Soul, Funk und Jazz zu hören, mittlerweile widmen sie sich auch dem Post-Punk und dem Disco, dem HipHop und dem Gospel, afro-kubanischen Klängen oder der brasilianischen Tropicália. Kürzlich erschienen sechs LPs mit aktuellem Dubstep.

An England Story nennt sich das neue Werk, The Culture Of The MC In The UK 1984 – 2008 ist sein Untertitel. Es geht um den Master of Ceremonies – denjenigen also, der wortgewaltiges Geplapper zu Rhythmen und Klangschnipseln vorträgt. Es geht um britischen HipHop. Fälschlicherweise, so wird in der Hülle erläutert, werde dieser häufig als Form des in Amerika beheimateten Rap betrachtet. Dabei habe der jamaikanische Reggae einen wesentlich stärkeren Einfluss gehabt. Schwarze Musik in Großbritannien habe sich anders entwickelt als die in Amerika oder Afrika, vor allem wegen der ehemals kolonialen Beziehung des Königreichs in die Karibik.

In Anlehnung an die Theorie des Black Atlantic, im Jahr 1992 von dem Kulturwissenschaftler Paul Gilroy ersonnen, geht es auf An England Story nicht darum, die Lieder der Unterdrückten wieder zu singen, die Lieder von Jamaikanern in England. Stattdessen wird die Untrennbarkeit kultureller Einflüsse vor Ohren geführt. Gilroy fand das Bild des Schwarzen Atlantik um die durch Sklaverei und Kolonialisation beeinflusste kulturelle Produktion zu beschreiben. Sklaven und Kolonialherren befuhren den Atlantik mit ihren Schiffen in die eine Richtung, Rückkehrer, Intellektuelle und andere karibische Emigranten in die andere. Der in England praktizierte HipHop ist folglich keine berechenbare Mischung aus britischer und jamaikanischer Kultur, er ist ein Produkt der untrennbar verwobenen und sich fortsetzenden Geschichten Großbritanniens und der Karibik. An England Story – ein Liter Wasser aus dem Black Atlantic.

In den Siebzigern tönten in England überall jamaikanische Soundsystems, in den frühen Achtzigern begannen MCs, den Reggae zu Bereimen. MCs wie Papa Levi und Jah Screechy erzählten in flotter Mundart von ihrem Alltag als Fremde im eigenen Land. Ihre Bässe saßen tief, sie hatten wenig gemein mit den scheppernden Rhythmen aus der New Yorker Bronx. Und was dort rappen hieß, wurde in England meist MCing genannt. Das Genre wurde vielgestaltiger, die Rhythmen komplexer, mal schneller, dann wieder langsamer. Jamaica wurde zum Stil. MCs gaben sich karibische Fantasienamen und kopierten den Zungenschlag der Soundsystems.

Etliche Spielarten des britischen HipHop sind auf An England Story zu hören, hier das luftige Complain Neighbour von Tippa Irie, dort der hektisch flirrende Bass von Jakes & TCs Deep, hier das schwerfällige So You Want More von Ty & Roots Manuva, dort Suncycles soulig treibendes Somebody. Das Album erzählt kurzweilig und kenntnisreich die fünfundzwanzigjährige Geschichte des britischen HipHop. Große Namen sind für diese Geschichte nicht so wichtig, hier geht es um die Meilensteine der Entwicklung des Sprechgesangs, von Dancehall über Jungle und Garage hin zu Grime und Dubstep.

Dies alles auf vermeintliche kulturelle Wurzeln zurückführen ist sinnlos, auch das lehrt diese Zusammenstellung. Nicht einmal auf den fremden Klang der Namen Roots Manuva und Tippa Irie kann man sich verlassen: Bürgerlich heißen sie Rodney Smith und Anthony Henry.

„An England Story“ ist auf Doppel-CD sowie zwei Doppel-LPs bei Soul Jazz Records/Indigo erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Buck 65: „Situation“ (Warner 2008)
Missill: „Targets“ (Discograph/Rough Trade 2008)
Percee P: „Perseverance“ (Stones Throw 2007)
Common: „Finding Forever“ (Geffen/Universal 2007)
Wiley: „Playtime Is Over“ (Ninja Tune/Rough Trade 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Lass das Jammern, Eule!

Nach zehnjähriger Pause kehren Portishead mit „Third“ zurück. Leicht könnte man die reizvollen Stücke lieben, käme einem nicht Beth Gibbons’ selbstmitleidiger Gesang immer wieder in die Quere.

Portishead Third

In schwierigen Situationen lernt man viel über seine Freunde. Gute Freunde geben Rat, wenn es einem schlecht geht. Sie zeigen Auswege. Schlechte Freunde tun so, als seien sie gute Freunde. Sie bestätigen den Leidenden in seiner Malaise und wenden sich ab, wenn man selbst einen Ausweg findet. Schlechte Freunde suchen den Mitleidenden.

Diese CD ist ein schlechter Freund.

Das Drama des begabten Kindes – es geht in eine neue Runde. Meine Damen und vor allem Herren: Es darf gejammert werden, nach Herzenslust. Portishead sind zurück, Third heißt ihr erstes Werk nach einer zehnjährigen Pause. Beth Gibbons eulenhafte Stimme bedient wieder die Phantasie vom traurigen Clown. Schon im zweiten Lied Hunter jault sie „If I should fall, would you hold me?“ Weiße Pferde tragen sie hinfort. Das ganze Album ist voll von solch armseliger Prosa. „Empty in our hearts, crying out in silence“ – die Dichtung ist kitschig, wie ein Harlekin auf dem Sofa. Billige Helferfantasien werden animiert, Gibbons schminkt die Wasserleiche. Der Hörer möchte sie trösten oder sich mit ihr im Unglück suhlen. Was ist so schön daran? Was macht den Wirbel um die Band Portishead aus?

Zugegeben, sie wissen, wie man ein Album produziert. Die Klänge sind eigenartig, die Rhythmen trocken. Die Musik ist dynamisch und spannend, sie umgibt eine Aura. So originell wie behauptet wird, ist das alles nicht. Für das Stück We Carry On sollten sie Geld an die Silver Apples überweisen. Deren Stücke You And I und Oscillations aus den späten Sechzigern werden hier einfach kopiert. Gut kopiert immerhin. So verführt das Flimmern und Brummen der Synthesizer immer wieder zum Hinhören. Beth Gibbons Stimme liegt transzendent darüber, ihr Selbstmitleid macht alles kaputt. Frei von Selbstironie und vollkommen humorlos postuliert sie die Gebote der Düsternis.

Brrrr.

Wenn alle Ideen in eine Richtung gehen, wird’s langweilig. Hier ist kein Bruch, keine Hoffnung. Alles kreist um sich selbst. Beschwingter Reggae ist gewiss keine Alternative, aber beim Hören von Third wünscht man ihnen den Abschied vom Schwindsüchtigen und den Aufbruch zu neuen Themen.

Lesen Sie hier die Rezension von Thomas Groß

„Third“ von Portishead ist als CD und LP bei Island/Universal erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Gnarls Barkley: „The Odd Couple“ (Warner 2008)
Taunus: „Harriet“ (Ahornfelder 2008)
Billy Bragg: „Mr. Love & Justice“ (Cooking Vinyl 2008)
Adele: „s/t“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)
Vampire Weekend: „s/t“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Verrückt wie wir alle

Wie man aus dem Besten der Vergangenheit etwas Neues macht: Mondo Fumatore greifen in die digitale Wunderkiste und zaubern ein aufregendes Elektrorock-Album hervor.

Mondo Fumatore The Hand

Im Jahr 2003 erschien das letzte Album des Berliner Duos Mondo Fumatore. Ihr Elektronikrock klang damals ungewöhnlich für Berliner Verhältnisse. Er entstand zu einer Zeit, als viele Bands begannen, Datapop mit lieblichen Refrains zu spielen. Indietronic nannte sich diese Musik, eine Mischung aus Indiegitarren und Elektronik.

Gwendolin Tägert und Marc Saura sind Mondo Fumatore, sie machen etwas ganz Eigenes. Ihre Lieder sind vom Galeriepop Lali Punas ebenso weit entfernt wie vom Kreuzberger Elektro-Trash Stereo Totals. Jedes ihrer Alben gleicht einer neuen Reise durch die Welt der Popmusik, immer wieder versuchen sie, aus dem Besten der Vergangenheit etwas Neues zu machen. Ihre Musik verbindet Gegensätze, sie glitzert und klingt nach Heimstudio. Sie ist beseelt von Melodien, frönt aber auch der Lust, diese wieder zu zerstören. Mondo Fumatore sind eine Popband: „Wir sind weit davon entfernt, vertrackt klingen zu wollen oder experimentell zu sein“, haben sie einmal gesagt.

Auch auf ihrem neuen Album The Hand pflegen Mondo Fumatore einen gelassenen Umgang mit ihren Vorbildern. Selbstgewiss integrieren sie den amerikanischen Indierock der frühen Neunziger – Pavement, Yo La Tengo oder die Lemonheads – in ihren musikalischen Kosmos. J Mascis von Dinosaur Jr. spielte ihnen ein herrlich selbstgenügsames Gitarrensolo ein – in nächster Nähe zu Kratz-Geräuschen, pumpenden Rhythmen, Händeklatschen, Geklimper und Chören, die „Yeah! Yeah! Yeah!“ singen. Überall ist auf diesem Album klanglich etwas los, man kommt ein bisschen aus der Puste vor lauter Staunen, Lauschen und Sortieren. Das war auf den guten Alben von Beck und den Beastie Boys auch so.

Thunder ist eines der besten Stücke auf The Hand, hier klingen Mondo Fumatore minimalistisch. Über einen Rhythmus und ein einfaches Gitarrenmuster singen sie „Call Me Thunder“, eine Zeile aus Ringo Starrs Drumming Is My Madness. In den meisten anderen Liedern rauscht und scheppert es aus allen Ecken, so mögen die beiden es am liebsten. Hier noch eine jaulende Gitarre, ein versprengtes Echo, dort noch ein Rhythmus aus der digitalen Wunderkiste, ein Chor. Ein Füllhorn voller Ideen ergießt sich aus den Lautsprechern. Ideen, die gleichberechtigt nebeneinander erklingen.

The Hand ist auch der Titel eines Films von Oliver Stone. Ein von Michael Caine gespielter Comic-Zeichner verliert bei einem Autounfall seine rechte Hand, nach einiger Zeit kehrt The Hand in der Fantasie des Zeichners zurück. Auf das Drängen seiner Frau, sich in psychologische Behandlung zu begeben, entgegnet er: „Irgendwie sind wir doch alle etwas verrückt, glaub mir.“ Für Mondo Fumatores The Hand gilt das auf jeden Fall. Es ist etwas verrückt, es ist wirr und verdreht, alles andere als ausbalanciert. Und alles andere als langweilig.

„The Hand“ von Mondo Fumatore ist auf CD bei Rewika erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (Island/Universal 1996)
Bauhaus: „Go Away White“ (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
Nada Surf: „Lucky“ (City Slang 2008)
Alec Empire: „The Golden Foretaste Of Heaven“ (Eat Your Heart Out 2008)
Neil Young: „Dead Man“ (Vapor Records/Warner Music 1996)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Explosion mit Botschaft

Mit 17 Jahren gründete Mark Stewart die Pop Group, sie prägte den Post-Punk der frühen Achtziger. Sein neues Solowerk „Edit“ ist so kraftvoll und brachial wie die früheren Alben, bisweilen aber klingt es etwas unfertig.

Mark Stewart Edit

Malcolm McLaren hatte einen einfachen Plan im Jahr 1976 in London: Finde ein paar seltsame Typen, die ein Instrument halten können, und stecke sie in zerschlissene Klamotten. Erkläre ihnen, dass sie eine Band sind, provoziere ein paar kleine Skandale, ziehe einen riesigen Plattenvertrag an Land. Provoziere ein paar große Skandale und kassiere am Ende ab. So simpel, so aufsehenerregend und gewinnträchtig. Hauptdarsteller in McLarrens Schmierenkomödie waren die Sex Pistols, sie spielten den Punk. Ihre Botschaft? Nun ja, es gab eigentlich keine.

Einen ähnlich einfachen Plan verfolgten wenig später ein paar junge Männer in Bristol: Sie gründeten eine Band, eine Popgruppe, die sie schlicht Pop Group nannten. Sie bekamen einen Plattenvertrag, gelangten auf das Titelbild des NME und ins Fernsehen. McLaren hatte verrückten Typen die Tür geöffnet. Aber es gab zwei wesentliche Unterschied zu den Sex Pistols: Die Musiker der Pop Group traten schicker auf, und sie waren Intellektuelle. Sie hatten eine Botschaft.

Mark Stewart, der Kopf und Sänger der Band, war damals 17 Jahre alt. Er mochte P-Funk, Reggae, Punk und Dub. Genau wie seine fünf Mitstreiter schwärmte er für expressionistische Malerei, für Fluxus, Dadaismus und Aktionismus. Die Pop Group wollte Elemente dieser Kunstrichtungen in ihrer Musik vereinen, unglaublich viele Platten verkaufen und ihre subversiven Ideen in die Köpfe der Menschen pflanzen. Zum verzerrten Punk-Funk der Pop Group überschlug sich Stewarts Stimme. Er schrie mehr als er sang.

Seine Texte waren Collagen. Politische Parolen vermischte er mit Werbesprüchen, Agit-Prop mit der Cut-up Methode des Schriftstellers William S. Burroughs. Auf der Rückseite von We Are All Prostitutes, der bekanntesten Single der Pop Group, brüllte er Auszüge aus dem Jahresbericht von Amnesty International. Nach zwei Jahren löste sich die Pop Group auf, Mark Stewart gründete mit dem Schlagzeuger Bruce Smith und Ari Up von den Slits die New Age Steppers. Mit deren Produzenten Adrian Sherwood bildete Stewart später die Band Maffia. Ihr von Dub und Reggae beeinflusster Stil war wegweisend für Massive Attack, Portishead und Tricky.

In den vergangenen zwölf Jahren war Stewart vor allem als Produzent tätig. Nun kehrt er mit einem neuen Album zurück, Edit. Es ist so kraftvoll und brachial wie seine früheren Alben, bisweilen aber klingt es etwas unfertig. Raum für schöne Klänge ist hier nicht, die Beschallung von Kaffeehäusern überlässt Stewart den Kollegen von Massive Attack. Zu seinen Klängen lümmelt man sich nicht in dicke Polster oder schlürft Latte Macchiato.

Adrian Sherwood hat das Album produziert. Stewart und er lassen altmodische HipHop-Rhythmen auf indische Tabla-Klänge treffen. Die Techno-Statik in Loner und Almost Human erinnert an die Electronic Body Music der frühen Achtziger. Der Synthesizer fiepst den P-Funk, die Gitarre klingt wie der Fingernagel auf der Schultafel. Der Klassiker der Yardbirds, Mr. You’re A Better Man Than I wird durch den Reißwolf gejagt. Mit Ari Up, der Weggefährtin aus alten Tagen, kämpft sich Stewart durch ein dubbiges Inferno.

Der Journalist Alan Bangs sagte nach einem Konzert der Pop Group einmal, er habe sich gefühlt, wie im Zentrum einer Explosion. So klingt es eigentlich immer, wenn Mark Stewart zu Werke geht.

„Edit“ von Mark Stewart ist auf CD und Doppel-LP bei Crippled Dick Hot Wax erschienen.

Post-Punk: Was Scritti Politti, Depeche Mode und Joy Division umtrieb. Eine Buchrezension »

Weitere Beiträge aus der Kategorie ELEKTRONIKA
Bishi: „Night At The Circus“ (Gryphon 2008)
Underworld: „Oblivion With Bells“ (PIAS 2007)
Camouflage: „Archive #1“ (Polydor 2007)
Raz Ohara And The Odd Orchestra: „s/t“ (Get Physical Music/Rough Trade 2008)
Closed Unruh: „Nichts schmeckt – aber alles schmeckt gut“ (E-Klageto 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Auf der Rückbank Rumpeln

Sechs Ohren zwischen Kisten und Pinseln: Wie wäre es, mit Gnarls Barkley ein neues Leben zu beginnen? Eine Umzugsfantasie

Gnarls Barkley Odd Couple

Parken in zweiter Reihe, Warnblinker an. Die beiden bleiben im Auto. Schnell rauf in die Wohnung. Zwei Kartons, eine Reisetasche. Uff. Wieder runter, Kofferraum auf, Zeug rein, Klappe zu, einsteigen. Zündschlüssel drehen, Musik.

Das lässt sich doch ganz schwungvoll an, irgendwie alt, aber dann auch wieder neu. Solide, knatternd und formschön wie ein VW-Käfer. Soul der Sechziger pufft aus Charity Case, dem ersten Lied auf The Odd Couple. Wir klatschen im Takt und drücken aufs Gas.

Ampel rot. Mein Beifahrer Cee-Lo ist verzweifelt: Wer nur soll seine Seele retten? Nun, da er sie sich aus dem Leib gesungen hat. Von der Rückbank rumpelt stetig das Schlagzeug seines Freundes Danger Mouse.

Orange, Grün, Going On. Danger Mouse packt seine Schere aus und schnippelt ein paar alte Tonbänder zurecht, es scheppert und rauscht. Cee-Lo drängt vorwärts, nimmt an Tempo auf: „Run, run away, run for your life“.

Atemlos kommen wir an. Warnblinker. Die beiden bleiben im Wagen. Kofferraum auf, Kartons und Tasche in die Wohnung. Treppen. Uff. Wieder runter. Zurück. Erzähl mal, Cee-Lo, was machst Du so? Hauptberuflich sei er eine Soul-Maschine. Klar, das hört man! Seine Stimme sei seine Stimme, der Spiegel seines Innenlebens. Und Du da hinten? Sagst Du auch mal was, Danger Mouse? Nö. Er mache lieber Musik. Beats. Sammele Vinyl und jage Tonschnipsel durch den Rechner. Ach, und zusammen seid Ihr The Odd Couple namens Gnarls Barkley? Könne man so sagen, sei aber eigentlich ein Maskenspiel. Gibt’s denn nicht schon genug Kostümclowns im Pop? Whatever.

Stopp. Wieder vor der Wohnung. Hoch. Pinsel, Folien, Klebeband eingepackt. Runter, Auto beladen. Surprise, wir streichen einen neapelgelb-rötlichen Canyonsonnenuntergang ins neue Wohnzimmer. Gleich zieht Danger Mouse die Klanghölzchen aus der Tasche. Cee-Los Gesang schwirrt durch die einsame Steppe, schwermütig, besorgt, suchend nach einer Duett-Partnerin. No Time Soon, die ist nicht so leicht zu finden. Kommt Jungs, nicht Trübsal blasen! Spielt mir etwas Fröhliches. So richtig fröhlich könnten sie es nicht, denn da läge immer ein Schatten auf Cee-Los Herz. Versucht es! Linke Spur, Blitzer beglücken. Von hinten trötet eine Jahrmarktmelodie, oder ist es ein Kinderkeyboard? Blind Mary, singt mein Beifahrer. Er liebe sie, denn er sei im Innern so viel schöner als außen, und sie erkenne das. Aber ich dachte, in Dir sei es so dunkel? Ja, schwarz und schön.

Letzte Fuhre, Sofa holen. Ganz schön schwer, Ihr packt mit an! Wie solle das ins Auto passen? Wird schon, der Mäuserich auf der Rückbank macht sich klein. Oh, die Platten nicht vergessen. Stevie Wonder und Motown-Scheiben liegen oben auf. My Neighbors, murmelt Cee-Lo. Unverkennbar. Ruckzuck in die neue Nachbarschaft gedüst. Klappe auf, Sofa raus, treppauf, links, rechts, abstellen. Nehmt Platz! Ob wir eben ihre Platte auflegen könnten? Sicher. Begännen wir doch mit dem letzten Lied, das passe gerade so gut zum Umzug: „Now the circumstances put soul in me. Oh, I feel better.“ Ein wahrhaft beherzter Neuanfang.

„The Odd Couple“ von Gnarls Barkley ist bei Warner Music erschienen.

Gnarls Barkley sind das seltsamste Paar der Popgeschichte. Sie sampeln alles, was nicht davonläuft. Lesen Sie hier die Analyse von Tobias Rapp »

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Taunus: „Harriet“ (Ahornfelder 2008)
Billy Bragg: „Mr. Love & Justice“ (Cooking Vinyl 2008)
Adele: „s/t“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)
Vampire Weekend: „s/t“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)
Hot Chip: „Made In The Dark“ (EMI 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Reim Monk auf Punk!

Auf der Rollschuhbahn lernte Rich Terfry den HipHop kennen. Sein mittlerweile zwölftes Album verknüpft Rap mit Jazz, Country und Blues.

Buck 65

„I saw the best minds of my generation destroyed“, raunt Rich Terfry alias Buck 65 gleich zu Beginn von Situation ins Mikrofon. Das sind, auch wenn sie vielleicht nicht mehr jeder kennt, die berühmten ersten Worte von Allen Ginsbergs legendärem Gedicht Howl, das 1957 wegen Obszönität vorübergehend verboten wurde. Gewiss kein schlechter Ausgangspunkt eines Liedtexts. Und wenn man etwas zu sagen hat, darf man sich getrost auch ein paar Wörtchen ausleihen.

Grandmaster Flashs The Message war der erste Rap, den Terfry seinerzeit auf der Rollschuhbahn des ostkanadischen 3000-Seelen-Nests Mount Uniacke hörte; damals war er zehn Jahre alt. Nur zur Erinnerung: Das Kürzel Rap steht nicht zuletzt für Rhythm and Poetry. Der Titel eines frühen Buck-65-Albums, Language Arts (1996), lässt keinen Zweifel daran, welchen Stellenwert Terfry dem Erzählen und dem Spiel mit der Sprache einräumt.

Auf späteren Alben orientiert sich sein rauer, unverkennbarer Wortfluss deutlich an den Markenzeichen des Beat-Poetry: der spontanen Prosa Jack Kerouacs und den Cut-Up-Techniken eines William Burroughs. Seine Erzählweise perfektionierte Buck 65 schließlich auf Talkin’ Honky Blues (2003). Auf diesem, seltsamerweise weithin unbemerkt gebliebenen Klassiker des Underground-Hiphop gelingt ihm das Kunststück, scheinbar völlig disparate Genres mit stupender Effektivität unter einen Hut zu bringen: Hiphop wird mit Folk, Country und Blues angereichert, als hätte eins seit jeher zum anderen gehört. Und so ist es ja auch, gemäß dem schönen Motto, dass es ohne Tradition keine Moderne geben kann.

Dabei verweist Buck 65 auf die New Yorker DJ-Legende Afrika Bambaata. „Er verstand sich und andere DJs als Musik-Anthropologen“, sagt Terfry. „Diese Vorstellung habe ich aufgegriffen und versucht, den Gedanken noch ein bisschen weiterzuspinnen. Ich bin weiter und weiter zurückgegangen, über die Traditionen New Yorks und Jamaicas hinaus bis zu den Wurzeln von Blues und Talking Blues. In der HipHop-Szene kann man mit derartigen Anschauungen allerdings keinen Blumentopf gewinnen. In der Szene bin ich immer ein Außenseiter geblieben“.

Womöglich auch deshalb, weil Terfry das mittlerweile dauersteife Gangster-Geschwafel stets außen vor gelassen hat. Mit Situation setzt er – nach der Best-of-Compilation This Right Here Is Buck 65 und dem eher unentschlossenen Album Secret House Against The World – den auf Talkin’ Honky Blues begonnenen Weg konsequent fort. Diesmal mit einer Hommage an ein fast vergessenes, im Rückblick allzu oft nur als borniert und verschnarcht wahrgenommenes Jahrzehnt.

Sein mittlerweile zwölftes Album bedient sich der Beats und Basslinien des Old-School-Hiphop. Er beschwört die Ikonen und Unruhestifter der Fünfziger in einem impressionistischen Rap-Bildersturm – und reimt folgerichtig Thelonious Monk auf Punk. Auf Situation besichtigt er eine Kulturrevolution. „Sicher, Punk war eine aufregende Sache“, sagt Terfry, „aber verglichen mit dem, was 1957 in musikalischer Hinsicht passierte, letztlich kaum mehr als ein Sturm im Wasserglas.“

Er denkt nicht daran, die Aufbruchsstimmungen von damals in Sound oder Samples zu reproduzieren. Er macht das, was er am besten kann: Er erzählt. Mit seinen nostalgischen Stimmungen und jazzigen Piano-Loops erinnert Situation nicht nur von fern an John Zorns Film-noir-Reverenz Spillane, sondern erweist sich als ebenso gekonnt intertextuelles Spiel mit Namen, Zitaten und Querverweisen.

Wenn die Geister von Charlie Parker, Eddie Cochran und Bettie Page in Buck 65s kehligem Rap aufeinander treffen, wird einmal mehr deutlich, dass sich Kultur nicht aus Genres, sondern aus Stil und Haltung speist. Und da wahre Kultur schon immer darin bestand, es anders zu machen, darf man Situation fraglos als ein großes Album betrachten: Selten ist es jemandem gelungen, moderne Americana so selbstverständlich zu einer Einheit zu verschmelzen.

„Situation“ von Buck 65 ist erschienen bei Strange Famous Records/Warner.

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Missill: „Targets“ (Discograph/Rough Trade 2008)
Percee P: „Perseverance“ (Stones Throw 2007)
Common: „Finding Forever“ (Geffen/Universal 2007)
Wiley: „Playtime Is Over“ (Ninja Tune/Rough Trade 2007)
Dizzee Rascal: „Maths and English“ (XL Recordings/Indigo 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik