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Aprilscherz auf dünnem Eis

„Narrow Stairs“ heißt das neue Album von Death Cab For Cutie. Im Internet hatte es schon vor der Veröffentlichung für große Verwirrung gesorgt.

Death Cab For Cutie Narrow Stairs

Vor ein paar Monaten verschickte Neil Young seine Single Ordinary People an amerikanische Radiostationen. Das Stück dauert knappe zwanzig Minuten, so etwas hört man im Rundfunk selten. Er wisse das, sagte Neil Young, seine Stücke liefen aber auch dann nicht im Radio, wenn sie nur die üblichen dreieinhalb Minuten dauerten. So habe er eben sein Lieblingsstück genommen.

Was mag die amerikanische Band Death Cab For Cutie geritten haben, als sie es ihm nachtat und das achteinhalbminütige I Will Possess Your Heart als erste Single ihres neuen Albums veröffentlichte. Bei den amerikanischen College-Sendern sind sie seit einigen Jahren beliebt, aber wer sollte nun so etwas spielen? Behäbig wankt ein markantes Bassmuster zwischen Porcupine Tree und Pink Floyd entlang, erst gegen Ende setzt die Stimme ein, den charmanten Refrain singt sie in der ganzen Zeit nur einmal, kurz vor Schluss. (Von einem Re-frain kann also eigentlich keine Rede sein.)

In der Strophe hängt die Stimme dem Bass hinterher, als sei es ein Kanon. I Will Possess Your Heart wiegt schwer. Wer die Band vor drei Jahren mit ihren kleinen Erfolgen Soul Meets Body und I Will Follow You Into The Dark kennenlernte, wird griffige Poplieder suchen und die leichten Melodien vermissen. Sind Death Cab For Cutie zu Prog-Rockern geworden? Würde so auch das neue Album Narrow Stairs klingen?

Im April – acht Wochen vor Veröffentlichung – gelangte es dann auf die Tauschbörsen im Internet. Erste Rezensionen erschienen in Musik-Blogs, die Stimme des Sängers sei zarter als zuvor, die Lieder alle sehr ruhig, hieß es. Es sei erstaunlich viel elektronisches Schlagwerk zu vernehmen, die Melodien überwiegend schwach. Narrow Stairs klang anders als die Single, das war gut. Aber so weichgespült und öde wollte es nun auch kaum einer haben. Viele Kommentatoren zeigten sich enttäuscht, dass Narrow Stairs nicht an die Wärme und Musikalität des letzten Albums Plans anknüpfe, wenige feierten es überschwänglich als einen Schritt nach vorne, ihnen schien die Stimme Benjamin Gibbards Kontinuität genug zu sein.

Nur: diese Stimme gehörte gar nicht Gibbard. Ein Spaßvogel hatte das letzte Album der deutschen Band Velveteen umbenannt, die damals schon bekannte Single daruntergemischt und das Ganze den gierigen Runterladern zum Fraß vorgeworfen als studiofrische Platte der Amerikaner. Der Aprilscherz funktionierte mehrere Wochen lang. Die Stimmen der Sänger ähneln sich, doch wer genau hinhörte, ahnte den Schwindel.

Wer sich nun doppelt verwirren ließ, erst von der Single, dann von Velveteen, den wird das wirkliche Narrow Stairs wiederum verwundern. Denn Death Cab For Cutie klingen weder weichgespült, noch sind sie plötzlich melodieschwach auf der Brust, auch der ausufernde Prog-Rock spielt ansonsten keine Rolle. Zum Glück ist die Band klug genug, gar nicht erst zu versuchen, das erfolgreiche Plans aus dem Jahr 2005 zu wiederholen. Nein, sie gewinnen ihren Klang zurück. Damals waren sie von der kleinen Plattenfirma zur großen gewechselt, das hatte ihre Musik verändert. Die Glätte von Plans umschmeichelte die Hörer, es verhalf der Band vor allem in den USA zu einem großen Publikum. Doch für die Musiker war es ein Irrweg. Oder eine Sackgasse. Mit Narrow Stairs wenden sie, schlendern zurück zur letzten Kreuzung und folgen dem Weg, den sie mit ihren ersten vier Alben beschritten hatten.

Die meisten der zehn Stücke neben I Will Possess Your Heart sind flott und kurz. Cath …, Long Division und No Sunlight leben von scheppernden Gitarren, drängendem Bass und rumpeligem Schlagwerk, kaum eines der Stücke ist länger als vier Minuten. Das ist Rockmusik zum Lieben: große Melodien, laute Instrumente, wenig Schauspiel, kein Schweiß.

Im Mittelteil der Platte wechselt die Band auch mal das Tempo. Talking Bird ist ruhig und langweilig, Grapevine Fires ist ruhig und gar nicht langweilig. Im beschwingten You Can Do Better Than Me winkt Scott Walker um die Ecke. Bevor es pathetisch wird, ziehen Death Cab For Cutie die Notbremse – nach kaum anderthalb Minuten Orgelfreuden im Dreivierteltakt.

Gleich, ob die Instrumente beschwingt klingen oder nicht, Benjamin Gibbard singt düsteres Zeug. In No Sunlight – man ahnt es schon, wenn man den Titel liest – heißt es: „With every year that came to pass more clouds appeared, till the sky went black and there was no sunlight anymore. And it disappeared at the same speed as the idealistic things I believed when the optimist died inside of me.“ Früher war nicht alles besser, aber es sah besser aus. Man veränderte sich ständig und könne nichts dagegen tun, dass das Eis unter den Füßen dünner würde, singt er zu molligen Akkorden. Dann stimmt die Gitarre zwei, drei fröhlichere Akkorde, und an Gibbard singt vom Frühling. Keine gute Jahreszeit für Eisschollen. Hier, ganz am Ende der Platte wird es musikalisch beschaulich, The Ice Is Getting Thinner beschließt Narrow Stairs. Schon bei Led Zeppelin war das letzte Stück einer Platte das ruhigste. Das ist nicht die schlechteste Referenz.

„Narrow Stairs“ von Death Cab For Cutie ist als CD bei Atlantic/Warner Music erschienen, im September soll das Album als LP bei Barsuk veröffentlicht werden.

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Der Sittich profitiert vom Klimawandel

Auf „Machinette“ zettelt Bernadette La Hengst eine Liebesrevolution an. Die euphorischen Texte und ihr Woo-Oh-Oh-Oah sind ansteckend, man möchte mitmachen.

Bernadette La Hengst Machinette

„Ich will ein paradoxes, paranoides, parallele Welt-produzierendes, Liebespaare-kopulierendes Paradies!“ Bernadette La Hengst singt diesen Zungenbrecher so flüssig, dass er nicht peinlich wirkt. Ihre Texte holpern auf dem Papier, sie singt sie elegant geschwungen und verwandelt sie in überraschende Poplieder. Der Refrain von Liebesrevolution geht so: „Ich warte schon, wir starten unsere Liebesrevolution / Das Leben ist mehr als Arbeit und Lohn / Mit unserer Veränderungsinspiration / Mit einer Es-geht-auch-anders-Evolution / Mit unserer Entschleunigungsvibration.“

Schon auf ihren ersten beiden Alben Der beste Augenblick in meinem Leben und La Beat ist es Bernadette La Hengst gelungen, die strapazierten Popthemen Freiheit, Liebe und Revolution mit neuem Leben zu füllen. Geschickt verbindet sie auch auf ihrem neuen Album Machinette bekannte Sinnsprüche mit frischen Wortkombinationen. Das populistische Paradies und Liebesrevolution sind Ohrwürmer, die Wort halten. Man glaubt an dieses paradoxe Paradies und möchte allen Zynismus fahren lassen, um mit Bernadette La Hengst jene Liebesrevolution loszutreten. Wie die frühen Rock’n’Roller hat sie einen Erkennungsruf, er geht in etwa „woo-oh-oh-oah“ und reißt den Hörer mit.

Bernadette La Hengst ist schon lange in der sogenannten Hamburger Schule. Mit Knarf Rellöm – ihn nennt sie „ihren ältesten Freund“ – gründete sie Mitte der Achtziger die Punkgruppe Huah!. Ihr Wechselspiel zwischen Ironie und Kritik beeinflusste die deutschsprachige Rockmusik. Im Jahr 1990 rief Bernadette La Hengst die Riot-Grrrl-Band „Die Braut haut ins Auge“ ins Leben, seit acht Jahren musiziert sie unter ihrem eigenen Namen und jagt von einem befreienden Popentwurf zum nächsten.

Man folgt ihren Verheißungen von der Freiheit, weil sie die Schattenseiten nicht ausspart. Singt sie von Freiheit und Liebe, dann singt sie auch von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. In dem schwingenden Rock’n’Roll-Stück Liebe ist ein Tauschgeschäft heißt es in Anlehnung an den Motown-Klassiker River Deep, Mountain High: „Ich bin durchs weite Meer geschwommen / Und hab den höchsten Berg erklommen / Wegen dem bedingungslosen Grundeinkommen / Namens Liebe.“ In Der grüne Halsbandsittich erzählt sie die Geschichte eines Vogels, der von der Erderwärmung profitiert. Er entwischt aus der überheizten Wohnung in die warme Stadt und verlangt: „Ihr verdient das Geld doch auch mit Emissionenhandel / Also warum soll ich nicht Gewinner sein von eurem Klimawandel.“

Das Zusammenspiel von Gitarren und Elektronik hatte Bernadette La Hengst schon auf ihrem ersten Album perfektioniert, mit Machinette geht sie einen Schritt weiter. Sie leiht sich die Bläser der Schweizer Band Die Aeronauten, sie agieren zwischen Memphis-Soul und Kammerpop, einen Seniorinnenchor lässt sie „Wir sind das Echo Echo Echo unserer Eltern“ singen. Das ist ambitioniert, klingt aber locker und leicht. Geschrammelte Mollakkorde sind ihr Ding nicht. Ihr neuer Schlachtruf lautet „If you don’t know the phunk / You don’t know anything“. Lassen wir uns führen von ihr, in ein „Party-partizipierendes, ein Katechismus negierendes, ein Papa-bezahlt-unser-Grundeinkommen, passioniertes Paradies!“

„Machinette“ von Bernadette La Hengst ist als CD bei Trikont und als LP bei Ritchie Records erschienen.

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Die Zauberkraft schwindet

Einst sangen sie heimeligen Märchenpop. Jetzt knüpfen JaKönigJa aus Hamburg eine verflixte Seilschaft mit der weiten Welt und verirren sich in ihr.

JaKönigJa Seilschaft der Verflixten

JaKönigJa, welch passender Name für eine Hamburger Band, deren Stücke schon immer so klangen, als seien sie aus einem Märchenbuch entschlüpft. Fütter’ die Katze, Rotkohl, Sommerkleid und Aus unserem Winterhaus hießen die melancholischen Lieder, die Jakobus Siebels und Ebba Durstewitz in den späten neunziger Jahren bekannt machten: „Was ich am allerliebsten mag an diesem hellen Sonnentag – das ist mit dir ganz weit heraus aus unserm alten Winterhaus“, sangen sie damals.

Zuletzt war 2005 das Album Ebba erschienen, jetzt sind sie wieder da, ganz überraschend. Von der Intimität des Kammermusikalischen, den Chansons und Pop-Skizzen haben sich JaKönigJa auch auf Die Seilschaft der Verflixten nicht losgesagt. Und dennoch merkt man dem von Mense Reents fein produzierten Album an, dass die Band heute anders klingen will: nicht mehr nach innen gekehrt. Nicht mehr nach Winterhaus und Rotkohl, sondern nach Ferne und Weite. Nach dem nächsten Meer und noch mehr: Jazz, Dub, Elektronica, Latin, Easy Listening, Psychedelisches, Noise, Space-Pop, Vaudeville – ihre Musik greift jetzt in alle Richtungen.

Leider franst die Musik durch diese Vielfalt aus, anstatt sich zu verdichten. Sie klingt ratlos und unbestimmt. Ebba Durstewitz’ Stimme – noch immer die einer Märchenerzählerin, so klar und rein, dass es schmerzt – bleibt die einzige Konstante auf einem Album, das nur wenig mehr ist als die Summe seiner vielen Einzelteile.

Man kann die Versponnenheit dieses Albums schätzen, die mal sonnige, dann verdüsterte Atmosphäre, die an Bands wie The Sea And Cake, Stereolab oder auch die High Llamas erinnert. Man mag das Feingeistige goutieren, die vielen Instrumente, die JaKönigJa auf diesem Album versammeln. Man mag etwas an dem Mut finden, wie sie unbefangen über die Grenzen zu kapriziösem Kitsch und Pathos flanieren. Man kann es ganz einfach lieben, wie opulent diese komplex arrangierte Platte schillert.

Doch sonderbar: So verwunschen, so verträumt, wie diese Musik klingt, so schnell entschwindet sie in die hinteren Ecken des Gedächtnisses. Ihre Zauberkraft ist nicht von Dauer: Mit Zeilen wie „Man könnte es auch anders sehen. Doch davon mal ganz abgesehen, kann man nicht alles anders sehen. Es ist bloß schwer einzugestehen” lässt sich keine Seilschaft, kein Bund fürs Leben schmieden.

„Die Seilschaft der Verflixten“ von JaKönigJa ist erschienen bei Buback Tonträger.

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Der Rüpel und die blasse Frau

Die Schauspielerin Scarlett Johansson möchte Tom Waits’ bräsigem Zirkusjazz einen Schuss Avantgarde injizieren – und scheitert. Jedem Stück auf „Anywhere I Lay My Head“ hört man ihr Bemühen an, etwas Besonderes aufzunehmen.

Scarlett Johansson Anywhere I Lay My Head

Man hatte es geahnt. Spätestens seit dieser grandiosen Szene in Sofia Coppolas Film Lost In Translation. Lässig schmachtet Scarlett Johansson da Brass In Pocket von den Pretenders ins Mikrofon. Das war Karaoke, doch wusste man: Die wird mal eine Platte machen.

Die Schauspielerin ließ sich Zeit mit ihrer zweiten Karriere, denn sie meinte es ernst. Das unkaputtbare Summertime sang sie für einen guten Zweck ein und galt als Favoritin für die Hauptrolle in Andrew Lloyd Webbers Musical The Sound Of Music. Ihre selbstbewussten Auftritte mit den Indierockern The Jesus and Mary Chain gaben Grund zur Hoffnung, sie könne erfolgreich das Fach wechseln. Nur wenigen gelingt das.

Jetzt hat sie es tatsächlich gewagt. Die Johansson hat eine ganze Platte gemacht, Anywhere I Lay My Head. Als Produzenten verpflichtete sie David Siget. Das beweist Geschmack, Siget ist nebenbei Musiker der Rockband TV On The Radio. Macht diese Frau denn alles richtig?

Dann ein erster Wehmutstropfen: Scarlett Johansson spielte keine eigenen Lieder ein, sondern ausschließlich von Tom Waits komponierte. Dass ausgerechnet der Leitwolf der verbeulten Tramps und Strauchdiebe für Johanssons Debüt herhalten muss, ist zunächst überraschend. Der grantelnde Rüpel und die blasse Frau – kann das gut gehen? Leider geht es nicht gut.

Was hätte man alles aus Johanssons Stimme herausholen können! In den guten Momenten erinnert ihre düstere Färbung an Nico. Doch die guten Momente sind selten, denn Anywhere I Lay My Head ist ein Lehrstück verschwenderischer Produktionskunst. Sitek webt Johanssons Gesang in einen Teppich aus Gitarrenrückkopplungen, Saxofonexzessen, Spieluhrmelodien und hallenden Keyboards. Früher sprach man angesichts solcher Textur anerkennend vom Wall Of Sound,
hier klingt sie prätentiös. An dieser massiven Klangwand ist die Stimme nur eine Farbe von vielen, sie geht im Allerlei der Effekte unter.

Scarlett Johansson möchte Tom Waits’ bräsigem Zirkusjazz einen Schuss verhuschter Avantgarde injizieren, aber sie scheitert. Jedem Stück hört man das Bemühen der Schauspielerin an, ja kein normales Pop-Album zu machen. Allerorten raunt es einem zu: Das hier will etwas Besonderes sein. Ununterbrochen purzeln Klangspielereien und exzentrische Geräusche aus den Lautsprechern, halten Grillengezirpe und Vogelstimmen als romantische Ornamente her.

Die zärtliche Glockenspiel-Melodie von I Wish I Was In New Orleans ertrinkt in Hall. Dabei hätte Johanssons Gesang ausgereicht, dem Stück Sehnsucht zu verleihen. Geradezu komisch ist der pompöse Einstieg des Instrumentalstücks Fawn, die Arrangements wirken, als hätte sich Bruce Springsteens Saxofonist Clarence Clemons im Bayreuther Orchestergraben verirrt. Als reichte das nicht aus, erklimmen Sitek und Johansson den Gipfel der erzwungenen Stilhuberei gemeinsam mit David Bowie, bei Falling Down und Fannin Street tritt er als Duettpartner auf. In der Kulissenhaftigkeit des Albums scheint auch er sich nicht wohlzufühlen, Orgelfluten schlagen über seiner Stimme zusammen.

Streckenweise erlahmt das Album vollkommen, schleppen sich die Stücke vorüber. Die schläfrige Melancholie, die der Titel verspricht, verkommt zur ermüdenden Geste. I Don’t Want To Grow Up ist einer von wenigen guten Momenten: Die Keyboards klingen nach Always On My Mind von den Pet Shop Boys, langsam wächst eine gelungene New-Wave-Hymne heran. Bald zieht wieder schweres Geräuschgewitter auf, zu viel Pop war dem Produzenten offenbar nicht geheuer.

Auf der Albumhülle ist Scarlett Johansson als blasse Leiche zu sehen, aufgebahrt im künstlichen Grün. Die Kamera beobachtet sie durch ein Astloch. Im Märchen käme der Prinz und errettete die Pop-Prinzessin. Auf Anywhere I Lay My Head versinkt sie in hundertjährigem Schlaf.

„Anywhere I Lay My Head“ von Scarlett Johansson ist erschienen bei Warner Music.

Lesen Sie hier, was Diedrich Diederichsen über Scarlett Johanssons Musikversuch schreibt »

Viele Schauspieler haben Musik gemacht. Manchen ist es gut gelungen, manchen nicht. Hören und sehen Sie selbst. Eine Bildergalerie »

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Menschlicher Dampfkochtopf

„Jim“ heißt das dritte Album des Engländers Jamie Lidell. Es wirkt so ehrlich und handgemacht, als stamme es aus analoger Zeit. Seine Stimme hat Soul, und die Musik klingt wie… Ja, wie eigentlich?

Jamie Lidell Jim

Jamie Lidell – was macht der für Musik? Schwer zu sagen in einem Wort.

Nennen wir es Soul.
Ach, wie Erykah Badu? Nein.
Nennen wir es R’n’B.
Wie Mariah Carey? Nein.
Nennen wir es Funk.
Wie Bootsy Collins? Nein.
Nennen wir es Elektropop.
Wie 2Raumwohnung? Nein!

Es hilft alles nichts. Über Jamie Lidell muss man ein paar Worte mehr sagen.

Wie wär’s mit Retro-Soul-Gospel-Folk-Funk-Avantgarde-Rock-Pop? Das klingt griffig, da fühlt sich jeder angesprochen. Doch im Ernst, es gibt heute unzählige Genres und Subgenres. Orientierung bieten sie nur noch den Jugendlichen, die nicht wissen, wie sie sich kleiden sollen. Setzen wir voraus, die Leser dieser Rezension entscheiden selbst, wieviel Stoff ihre Beine und welche Musik ihre Ohren umspielt und nehmen Abstand von herkömmlichen Genre-Begrenzungen.

Vertrauen wir nicht den Begriffen, vertrauen wir den Menschen, vertrauen wir Jamie Lidell. Der 34-jährige Engländer hat gerade sein drittes Soloalbum veröffentlicht. Jim heißt es, wie der frohgemute Teil seiner multiplen Persönlichkeit. Und es klingt so ehrlich und handgemacht, als stamme es aus analoger Zeit.

„Ich wollte einen Bogen von der Musik der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre spannen“, sagt Lidell im Interview. „Die Achtziger und Neunziger habe ich ausgelassen, weil ich lange genug in Berlin gelebt habe. Da wird man zugeschüttet mit solchen Sounds.“

Er beherrscht auch die digitalen Spielarten, hat mit Matthew Herbert gearbeitet und im Duett mit Cristian Vogel als Super_Collider Elektrokrach aufgenommen. Auf seinem zweiten Album Multiply, das im Jahr 2005 erschien, mischte er alten Soul mit aktuellen Klängen und Schnitten. Jim nun rauscht durch die Dekaden, stellt Rock’n’Roll, Hillbillyfunk und Country-Balladen nebeneinander. Seine Soul-Stimme verbindet die verschiedenen Stile zu einem Gesamtwerk.

Jamie Lidell kann laut und leise, doch immer schlagen die Funken, es bratzelt vor Energie. Wer ihn einmal im Konzert erlebt hat, dem offenbart sich eine andere Welt. „Straight out of nothing into a hurricane“, singt er ganz treffend, und so fühlt sich auch seine Musik an. Wir hören Schellenkränze, Orgeln, feines Geplucker, Glockenspiel, Gitarren, Schlagzeug und viel Hintergrundchor.
Mit einer Die-Welt-ist-so-aufregend-ich-muss-euch-davon-erzählen-Geste springt Jamie Lidell vor die Band. Das Gewöhnliche lässt er links liegen. Liebe, Schmerz und Schönheit sind Impressionen, er muss sie nicht beim Namen nennen.

In der sonnigen Nummer Green Light stellt er fest: „It’s only a trick, if you make it a trick. It’s only a good thing, if you make it a good thing.“ Man verschaffe sich freie Fahrt ins Leben, dann fügten sich die Dinge. Aber nicht immer ist alles lässig. Bisweilen steht Jamie Lidell unter großer Anspannung. Er sei ein menschlicher Druckkochtopf kurz vor der Explosion, schreit er in Get This Out Of My System. Dampf ablassen, die Musik ist ein Ventil.

Was auch immer da rauskommt, es pfeift warm, melodiös und kraftvoll. Drücken wir beide Augen zu und nennen es Soul, der Stimme wegen. Eigentlich ist es einfach nur Pop. Ach, wie Madonna und Robbie Williams? Nein!

„Jim“ von Jamie Lidell ist erschienen bei Warp Records/Rough Trade.

Wir trafen Jamie Lidell und seine Ichs in Hamburg. Hier geht’s zur Bildergalerie »

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Ein Bär gibt den Halunken

Guilty Simpson aus Detroit haucht dem amerikanischen Gangsta-Rap neues Leben ein. Wuchtig kommen seine Reime daher, im Hintergrund sorgt der Produzent Madlib für eine beeindruckende Geräuschkulisse.

Guilty Simpson Ode To The Ghetto

Während der deutsche Gangsta-Rap erblüht, hängen die amerikanischen Reimer angezählt in der Ringecke. 50 Cent verkauft weniger Platten als zuvor, der Pionier Dr. Dre bekommt seit Jahren kein Album fertig. Haben die Amerikaner genug von der Schießwut und dem martialischem Gestus? Oder sind die Anhänger von früher heute einfach zu alt? Hört man 50 Cents Album Curtis, offenbart sich auch eine kreative Krise: Es fehlt der Schwung, der spielerische Umgang mit der Musik. Diesem reimenden Roboter kauft man den Halunken nicht ab.

Andere können es doch noch: Richtig guten Gangsta-Rap bringen nun ausgerechnet die Freigeister des kleinen Labels Stones Throw aus Los Angeles auf die Plattenteller. Sie lieben die Musik, um Schubladen scheren sie sich nicht. Und sie haben ein Herz für Gangsta-Rap – als Kunstform selbstverständlich.

Guilty Simpsons Reime kommen daher wie Schläge einer Bärenpranke, behäbig und wuchtig. Zur Partyrakete taugt er nicht, dafür ist sein Vortrag zu monoton. Er berichtet auf Ode To The Ghetto vom Leben in Detroit, von Kriminalität und verworrenen Frauengeschichten. Seine Worte verwandeln sich zu Bildern, er ist ein hervorragender Erzähler. Jeder Anflug von Tristesse wird von der aufwühlenden Produktion unterbunden: Madlib wirft mit Bollywood-Samples um sich, sein Bruder Oh No würzt das Titelstück mit türkischem Funk. Synthesizer dröhnen düster, und Klangwelten kollidieren. Es ist einiges los im Hintergrund. Guilty Simpson plappert unbeeindruckt über diese Geräuschkulisse.

Gegen Langeweile ist der Hörer auch hier nicht gefeit, manches Mal sind sich Rap und Musik zu einig. Kraft schöpft Ode To The Ghetto aus seinen Gegensätzen. In den besten Momenten dringt eine surreale Bedrohung aus den Lautsprechern, sorgt das Widersprüchliche für ein Gefühl der Beklemmung. Die Menschen von Stones Throw haben recht: Gangsta-Rap ist eine Kunstform – fast hätten wir’s vergessen.

„Ode To The Ghetto“ von Guilty Simpson ist als CD und LP bei Stones Throw/Groove Attack erschienen.

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Zerbrochen in Amerika

Die Bilder des vor 20 Jahren verstorbenen Graffitikünstlers Jean-Michel Basquiat beeindruckten den Bassisten Lisle Ellis so sehr, dass er ihm nun eine Totenmesse komponiert hat: „Sucker Punch Requiem“.

Lisle Ellis Sucker Punch Requiem - An Hommage to Jean Michel Basquiat

Es ist das Jahr 1977 in New York. Der 17-jährige Jean-Michel Basquiat besprüht nachts mit seinem Freund Al Diaz Hauswände in Manhattans East Village. Ihre Graffiti prangern die rassistische Praxis von Polizei und Justiz an, die beiden signieren sie mit „SAMO shit“ (Same Old Shit). Viele Menschen können sich mit den Botschaften identifizieren.

Vier Jahre später sprüht der Künstler Basquiat Jimmy Best on his back to the sucker punch of his childhood files auf eine Leinwand, Jimmy Best wurde von seinem Schwarzsein eingeholt und unfair zu Boden gebracht. Ein anderes seiner Bilder heißt Ornithology. Es bezieht sich auf den Jazzsaxofonisten Charlie „Bird“ Parker, auf seine künstlerische Kraft, seine Sensibilität und sein Zerbrechen an der von rassistischen Übergriffen geprägten Wirklichkeit in den USA.

Das Jimmy-Best-Graffito beeindruckt den kanadischen Bassisten Lisle Ellis. Er studiert Ende der Siebziger in New York und sieht es an einer Hauswand. Die meisten anderen Botschaften Basquiats gehen an Ellis unbemerkt vorbei, ebenso der Wirbel um den Künstler Mitte der Achtziger und sein Herointod im August 1988. Die Bedeutung Basquiats wird Ellis erst bewusst, als er selbst beginnt zu malen. Ende der Neunziger ist das, die Bilder Basquiats begleiten Ellis in dieser Zeit, das Dunkle, das comicartig Verzerrte, das Selbstzerstörerische und Verletzliche.

Ellis beschließt, ein Requiem für Basquiat zu komponieren. Sucker Punch Requiem nennt er es, in Anlehnung an seine erste Begegnung mit der Kunst Basquiats. Ellis engagiert sechs namhafte Musiker, darunter den Saxofonisten Oliver Lake und den experimentierenden Posaunisten George Lewis. Die Aufnahmen entstehen an zwei Tagen im September 2005 in Brooklyn. Das Septett folgt anhand von 16 Stücken dem Leben Basquiats. Die Titel erinnern an verschiedene Aspekte seines künstlerischen Werks, an die Graffiti an New Yorker Hauswänden Ende der Siebziger, an schwarz-weiße Röntgenbilder, an kalte Straßenschluchten und die harten Farb- und Formkontraste der achtziger Jahre. Diese Vertonung klingt wie ein verschlungener Tanz, wie eine Sinfonie des Verlorenseins. Ellis zeichnet Basquiat als Individuum, das sich durch eine Stadt im Stillstand bewegt. Als den Einzigen, der erkennt.

Beim zweiten Stück, Incantation And Ascent, bläst Oliver Lake ein einsames Solo, das an John Coltranes Ascencion erinnert. Auch bei den anderen Stücken ragen solche Momente reiner Schönheit zwischen den zerbrochenen Monumenten aus Beton und Mörtel hervor.

Ellis erforschte für die Kompositionen kirchliche Requien. Auf der Suche nach einer möglichst reduzierten musikalischen Struktur fand er eine traditionelle sechsteilige Totenmesse der römisch-katholischen Kirche. Er begann, für jeden der sechs Teile Themen zu schreiben und diese anschließend zu verändern, gleichsam zu übermalen. So entstanden Klangbilder und sich überlappende musikalische Formen. Ellis komponierte sie nicht aus, vieles blieb unfertig. Rau, kantig und seltsam schön muten sie an, wie die Bilder und das Leben Basquiats.

„Sucker Punch Requiem – An Homage to Jean Michel Basquiat“ von Lisle Ellis ist bei Henceforth Records erschienen.

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Lichter im Untergrund

These New Puritans aus England bauen eine „Beat Pyramide“. Zu hektischem Schlagwerk setzen sie Bassbrocken auf Gitarrenfels.

These New Puritans Beat Pyramide

Es ist, als warte ich auf einen aus dem Nichts auftauchenden Hubschrauber, der mich zu ihnen bringen soll. Der Geruch von Schweiß und Rauch liegt in der Luft und meine Notizen sind im flackernden Neonlicht schwer zu entziffern. Das dumpfe Dröhnen von Beat Pyramide, dem Debütalbum der These New Puritans, hallt durch den Raum. Der Strom ist ausgefallen, doch die Lichter des Untergrundes scheinen hell.

Das Zusammentreffen läuft anders als geplant. Auf dem Tisch liegt ein Einsatzplan und offensichtlich sind mehrere Strategien durchgespielt worden. Drei Männer und eine Frau erläutern, ich solle das zu Hörende nur als momentan favorisierte Version des Möglichen betrachten. Als das Ergebnis einer Reihe von Experimenten, bei denen sie sich oft nicht einig gewesen seien. Das Schlagzeug, die Gitarre und der Bass sorgen für die Stringenz und die innere Sicherheit der Stücke. Sie machen kaum einmal Halt, immer wieder schlüpfen sie in neue Anzüge, lassen sich verleugnen und verbünden sich mit den Effektgeräten. Sie sind Doppelgänger und Agenten im Dienste der vielschichtigen Modifikation.

Dieses Spiel braucht eine Parole: „Every number has a meaning!“ Überhaupt finden sich viele numerologische Anspielungen im Oszillieren zwischen persönlichen Geschichten und politischen Ideen. Konkretes haben These New Puritans nicht zu bieten, dafür jede Menge Fragen: „If not now then when?“ Man beginnt, Antworten zu suchen. Genau darum geht es wohl.

Swords Of Truth klingt so programmatisch, wie der Titel vermuten lässt und gleichzeitig so wenig didaktisch, wie man erwarten sollte. Die Musik kennt kein Zögern, der intensive Rhythmus gibt die Identität. Die zerschnipselten Trompeten haben sie im Laden um die Ecke geklaut, auf dem Weg hierher wurden sie ein bisschen ramponiert.

Als ich ansetze, eine Frage zu stellen, klingelt das Telefon. Mit einer Handbewegung werde ich zum Schweigen gebracht. Irgendein WuTang-Typ aus Amerika faselt von Neubauten und Industrieklängen, von Wurzeln und Manövern. Man müsse seine Kontakte am Laufen halten, wird mir erklärt. Jeder sei auf eigene Faust unterwegs, jeder bringe seine Vergangenheit und seine Vorlieben ein.

In En Papier klingen diese verschiedenen Aspekte kohärent. Unter treibenden Gitarrenriffs wechselt das Stück behände Rhythmus und Charakter, fließen Weltmusik und Ambient ein. Im Gegensatz dazu funktioniert Infinity ytinifnI geradezu stringent. Zu einem monotonen Bass, einer repetitiven Struktur und sparsamem Schlagwerk erklimmen wir einen Aussichtspunkt. Damit ist der Weg frei für Elvis. „We’re being watched by experts“, ruft der Sänger, mit atemberaubender Geschwindigkeit geht es gen Tal.

Ich frage noch, ob es stimme, dass die Zwillingsbrüder Jack und George Barnett schon als Kinder in imaginären Bands spielten. Sie lachen, dann erzählen sie von ihrer aktuellen Arbeit an einem Stück für sechs Akkordeons. Solchen Spagat wagt kaum, wer noch nie in einer Fantasieband spielte.

Das Album endet beinahe, wie es begonnen hat. Eine Frau verkündet „I will say this twi…”, sie beendet ihren Satz erst mit dem Neustart der CD: „…ce.“

„Beat Pyramide“ von These New Puritans ist auf CD und LP erschienen bei Domino Records/Indigo.

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Dachbodenmusik

Unter den Laken, in verstaubten Kistchen finden sich zauberhafte Geschichten. Die Band White Hinterland erzählt sie in luxuriösen Liedern.

White Hinterland

Wie klingt es eigentlich, wenn man auf dem Dachboden eines alten Hauses stöbert? Da ist das Geräusch von Schritten auf dem Holz, das Blättern in vergilbten Büchern und Fotoalben. Unter einem Bettlaken versteckt sich ein verstimmtes Klavier. Unzählige Geschichten liegen verborgen in Schubladen und Kartons.

Casey Dienel erzählt uns diese Geschichten, ihre Band White Hinterland hilft uns beim Stöbern. Der Name weckt Assoziationen an die amerikanische Einöde und ihre Bewohner: Urwüchsig sollen sie sein und bodenständig, sicher ein wenig verschroben. Dabei stammt Dienel von der Ostküste. In Boston studierte sie am New England Conservatory Operngesang und Komposition. Mit einigen Studienfreunden nahm sie im Winter 2005 in einem verlassenen Farmhaus in Massachusetts ein paar Lieder auf. Das Klavier lieh sie sich aus der Eingangshalle eines Hotels. Die Aufnahmen erschienen wenig später auf dem ersten Album von White Hinterland, Wind-Up Canary.

Nun erscheint das zweite Album der Band, Phylactery Factory. Wieder lebt es von Casey Dienels Kunstfertigkeit als Musikerin und Sängerin, ihre Stimme trägt die neun Stücke. White Hinterland mischen Jazz, Country, Klassik und Folk zu fast barocken Popliedern. Das Ensemble bringt eine Vielzahl von Instrumenten zum Klingen. Das immer neue Zusammenspiel von Streichern, Bläsern, Glockenspiel, Vibrafon und Gitarren macht die Platte abwechslungsreich. Im Vordergrund klingt Casey Dienels Klavierspiel, immer wieder klimpert sie überraschende Melodien.

Luxuriös mutet manches Arrangement an, überladen ist keines. Mit Hilfe des Produzenten Adam Selzers eröffnen White Hinterland immer neue Klangräume. Im aufwendig konstruierten Zusammenspiel der Stimmen ist Platz zum Klingen und Hören. White Hinterland lassen ihre Lieder atmen. So ist Phylactery Factory eine Platte voller Zweideutigkeiten und Wendungen. Kaum ein Stück endet, wie es begonnen hat. Wie in einem musikalischen Setzkasten lassen sich immer wieder Kleinigkeiten entdecken.

Im Mittelpunkt der Platte stehen Casey Dienels Texte. Sie erzählt zauberhafte Geschichten voller unwirklicher Bilder, erzählt von beiläufigen Ereignisse und den komischen Figuren am Rande des Geschehens. In Dreaming Of The Plum Trees beschreibt sie, wie das Ende einer Beziehung von den Liebesgeräuschen der Nachbarn begleitet wird: „You can hear them falling in love again / Three times this evening.“

Das Herzstück des Albums ist Hometown Hooray, zugleich ein schlingernder Liebeswalzer und eine bittere Abrechnung mit den im Irak Kriegführenden. Dienel besingt den Verlust des Geliebten mit zärtlicher Stimme. Langsam wird offenbar, dass sie hinter der Sanftmut tiefe Traurigkeit verbirgt. Das Düstere begleitet das Album von nun an, ob in der verträumten Klangcollage A Beast Washed Ashore oder in der Klavierballade Hung On A Thin Thread, Melancholie hat sich eingeschlichen.

Der einsame Klang einer Mandoline beschließt das Album, das doch so vielstimmig begonnen hatte. Plötzlich ist man wieder ganz allein auf dem Dachboden. „The howlin‘ wind ushered us to leave“, singt Casey Dienel. Leise schließt man die Kartons und Schubladen. Einige Geschichten müssen unerzählt bleiben.

„Phylactery Factory“ von White Hinterland ist als LP und CD bei Dead Oceans/Cargo erschienen.

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Ins Absurde erhoben

Bislang wurden The Notwist von Album zu Album besser. Mit ihrer sechsten Platte „The Devil, You + Me“ reißt die Serie ab, die Feuilletons loben sie trotzdem.

Notwist, Devil You And Me

Über The Notwist möchte man wohlwollend schreiben. Und wie einfach ließe sich in die Elogen einstimmen, zu denen die Feuilletons in den vergangenen Wochen anhoben, ließe sich wortreich beschreiben, wie überaus glaubwürdig und integer sich die Band im korrupten Musikgeschäft bewegt, ließe sich ausführen, wie die oberbayerische Gruppe seit Mitte der Neunziger ein überzeugendes Werk nach dem anderen ersinnt, sich ein ums andere Mal neu erfindet, und ließe sich schließlich schlussfolgern, auch die neue Platte The Devil, You + Me müsse ein Meisterwerk sein.

Allein, so wahr alles vorher Gesagte sein mag, ein Meisterwerk ist The Devil, You + Me leider nicht.

Bisher schien jede Notwist-Platte der letzte Schluss dessen zu sein, was derzeit im eigenen Tonuniversum möglich war. Mehr noch, zumindest eine Weile lang klang jedes Album seit 12 wie das Großartigste, was Musiker auf Instrumenten anstellen können. Mit einigen Jahren Abstand veränderten die Platten ihren Charakter, erwiesen sich doch nur als sinnvolle Fortschreibung des vorherigen Albums. Nicht weniger gut, aber viel weniger endgültig. Was folgte, drängte die Grenzen des Universums jedes Mal noch ein bisschen weiter zurück.

Anfang der Neunziger nahmen The Notwist zwei beinharte Rockplatten auf. Hört man The Notwist und Nook heute, so erahnt man Vieles von dem, was längst als typisch gilt. Zwischen Bergmassiven aus Gitarre und dem Gewitter der Basstrommel schweben schon diese gepressten Melodien, diese ungewöhnlichen Harmonien, diese sanfte Stimme. Freilich war damals nicht zu erahnen, wohin die Reise gehen sollte. Die Punk-Bands Bad Religion und Therapy? nahmen The Notwist mit auf Tour.

Überhaupt, Markus Achers Stimme. Akrobatisch ist sie nicht, allenfalls schafft sie kleine Bodenturnereien. Hier ein beschaulicher Hüpfer, dort eine elegante Rolle. Achers Stimme ist das Imperfekte im Orchester der Perfektion. Wo sonst jeder Klick sitzt und jeder Streicher um die Hierarchien weiß, ist sie der Puls, das Organische. Das hat sich bis heute nicht geändert. Das Orchester wurde über die Jahre immer präziser, sein Englisch nicht. Wozu auch.

Jeder musikalische Schritt der Band erschien letztlich logisch: Mitte der Neunziger veröffentlichten sie 12, erstmals steuerte Martin Gretschmann alias Console elektronische Klänge bei. Sie umschwirrten die Gitarrenmonumente, vermochten ihre Oberfläche aber kaum anzukratzen. Gretschmann wurde festes Mitglied der Gruppe. Auf Shrink im Jahr 1998 klangen die Gitarren weniger massiv, die Elektronik trat in den Vordergrund. Post-Rock wurde die Musik der Band genannt, vielleicht weil die Rockergeste nie ihre war – der Eklektizismus um so mehr. Solch eine Mischung aus Gitarren und Elektronik war damals unerhört. Shrink brachte den Durchbruch, Day 7 und Chemicals waren kleine Erfolge. The Notwist fuhren nun mit den Orgeldudlern von Stereolab auf Tour.

Seit Shrink wurden die Pausen zwischen den Alben lang, ebenso die Veröffentlichungsliste assoziierter Projekte – Console, Lali Puna, Tied + Tickled Trio, MS John Soda und einige mehr. Erst im Jahr 2002 erschien Neon Golden, eine wahrhaft umwerfende Platte. Aus Post-Rock war nun Diskurs-Pop geworden, Musik, die in immer neue Kontexte einsortiert wurde, über die man nie genug wusste, und die am Ende bis ins Absurde überhöht wurde. Jörg Adolphs Dokumentarfilm über die Entstehung der Platte, On/Off The Record, führte das vor Augen. Man sieht: Die Journalisten stellen anbiedernd umständliche Fragen, die Musiker schauen und schweigen. Ganz so als verstünden sie gar nicht, weshalb man über Musik noch reden müsse. Mit den zehn Stücken auf Neon Golden war doch alles gesagt.

Wie macht man eine neue Platte, wenn alles gesagt ist? Wenn die Erwartungshaltung in den Himmel gewachsen ist? Geht man weiter vorwärts? Mal wieder rückwärts? Oder macht man einfach Neon Golden, Teil 2? The Notwist wussten es offenbar auch nicht so genau. So ist The Devil, You + Me von allem ein bisschen. Die leicht rumpeligen Stücke Good Lies und Alphabet erweisen Shrink die Referenz, Gravity wiederum hätte gut zu Neon Golden gepasst.

Das Vorwärts jedoch wird zum Problem. Denn das ins Studio geladene zwanzigköpfige Orchester vermag der Unternehmung keine Spannung zu verleihen. Im Gegenteil, die recht spärlich eingestreuten Filmmusikklänge sind fast alle überflüssig. Sie versenken die feine Elektronika der Single Where In This World im Kleister. Die Streicher in Hands On Us erinnern an die Tindersticks – die wissen schon, weshalb auf ihren Platten weder Schlagzeugcomputer noch Elektronikrauschen zu hören sind. Hier nun kippt die Düsternis ins Melodramatische.

Es vergeht eine halbe Ewigkeit, bis das Genie der Band endlich aufblitzt. Stück Nummer 6, Gravity, lebt von dem Gegensatz zwischen dem flirrend vertrackten Schlagzeug und den ruhig vorgetragenen Worten – und dem, woran es den meisten anderen Stücken fehlt: einer brillanten Melodie. Hier bringt die Band es klanglich auf den Punkt, hier bekommt sie – welch passenden Titel trägt das Stück – die Füße an den Boden. Danach heben The Notwist wieder ab und landen erst bei Boneless wieder. Da ist das Album beinahe vorbei. „Old gravity won’t get me“, singt Acher einmal, das klingt programmatisch.

Diese Träne muss hier nun vergossen werden: Neon Golden hörte man immer wieder etwas Neues an, die Lieder übten eine Anziehungskraft aus. Monatelang fesselte das Album den Hörer. The Devil, You + Me ist im Vergleich dazu kraftlos. Auch beim dreißigsten Durchlauf noch klingen viele Melodien flach, dümpeln Lieder wie Sleep und Hands On Us ziellos vor sich hin.

Nun: Wie macht man also eine neue Platte, wenn alles gesagt ist? The Devil, You + Me klingt, als wüssten auch The Notwist keine Antwort.

„The Devil, You + Me“ von The Notwist ist als CD und LP erschienen bei City Slang.

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